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"Kollektives Versagen" im Fall Bin Laden

Geheimbericht geht mit Pakistans Behörden und den USA hart ins Gericht

Von Daniel Kestenholz, Bangkok *

Als Osama Bin Laden im Mai vor zwei Jahren von einem US-Kommando im pakistanischen Abbottabad erschossen wurde, war für die Welt klar, dass der Terrorpate dort mit Wissen höchster Sicherheitskreise Zuflucht gefunden hatte. Die Wahrheit ist offenbar viel nüchterner.

Ein von der pakistanischen Regierung in Auftrag gegebener Bericht über Bin Ladens Leben auf der Flucht ist für ebendiese Regierung vernichtend. Daher versuchte sie, das 336-seitige Dokument unter Verschluss zu halten. Der dem katarischen Sender »Al Dschasira« zugespielte Bericht geht auch mit den USA scharf ins Gericht: Deren Nacht-und-Nebel-Aktion war ein Kriegsakt, der Pakistans Souveränität verletzt habe. Doch noch schärfer trifft die Analyse die eigenen Behörden und Sicherheitskräfte: Bin Laden habe sich dank »kollektiven Versagens« der pakistanischen Regierung, des Militärs und des Geheimdienstes neun Jahre unerkannt im Land aufhalten können. Selbst Militärführer hätten von der US-Aktion erst am folgenden Morgen aus dem Fernsehen erfahren.

Für den Bericht wurden rund 200 Personen befragt, darunter Familienmitglieder Bin Ladens, der damalige Geheimdienstchef, Minister und hohe Beamte. Die Autoren fragen, wie es die USA geschafft hätten, eine »rund dreistündige feindliche Militärmission tief im Inneren Pakistans durchzuführen«, und wie es möglich sei, dass Pakistans Geheimdienst »keine Ahnung davon hatte, dass ein international Gesuchter vom Berühmtheitsgrad eines Bin Laden in Abbottabad lebte«. Der Bericht hält eine einfache Erklärung bereit: Auf jeder Stufe der pakistanischen Behörden herrsche »routinemäßige, krasse Inkompetenz«, weswegen Bin Laden unerkannt geblieben und es für die USA möglich gewesen sei, am 2. Mai 2011 jene »Kriegshandlung« durchzuführen. Offenbar waren zu diesem Zeitpunkt auch sämtliche Radargeräte im Land abgeschaltet. Das sei die Norm während Friedenszeiten, erklärte der Chef von Pakistans Luftwaffe. Die US-Sondereinheit war längst wieder zurück auf ihrem Stützpunkt in Afghanistan, als der pakistanischen Führung dämmerte, dass der mächtige Bündnispartner die vielen Lücken im System ausgenutzt hatte.

Der Bericht ist aber nicht nur Anklage. Dank Aussagen von Bin Ladens Familie, Geheimdienstleuten und der Frau eines seiner Kuriere wird ein detailliertes Bild mit bisher unbekannten Einzelheiten aus Bin Ladens Leben auf der Flucht gezeichnet. Demnach soll ihm im Dezember 2001 bei der Schlacht von Tora Bora in Afghanistan tatsächlich nur knapp die Flucht gelungen sein. Über Süd-Waziristan und den pakistanischen Stammesgürtel gelangte er ins nördliche Swat-Tal, wo er 2003 Khalid Scheich Mohammed traf, den angeblichen Drahtzieher der Terroranschläge vom 11. September 2001. Einen Monat später ging Mohammed in Rawalpindi der CIA ins Netz. Bin Laden floh nach Haripur ins nördliche Pakistan, wo er mit zwei seiner Frauen und mehreren Kindern und Enkeln für zwei Jahre ein Haus mietete. Im August 2005 zog der Clan nach Abbottabad in einen eigens errichteten Gebäudekomplex unweit einer großen Militärgarnison, wo Bin Laden die sechs Jahre bis zu seinem Tod leben sollte. Bewegte er sich im Garten, trug er einen Cowboyhut, um sein Gesicht vor Drohnen und Satelliten zu verbergen. Zeitweilig soll er sich auch den Bart abrasiert haben.

Ebenfalls 2005 stellte Pakistan alle Untersuchungen zum Verbleib Bin Ladens ein, was der Regierungsbericht als »kollektive Pflichtverletzung« verurteilt. Übrigens sei Bin Laden kurz nach den US-Terroranschlägen im September 2001 beinahe verhaftet worden. Er geriet wegen überhöhter Geschwindigkeit in eine Polizeikontrolle, erzählte die Frau eines seiner Leibwächter. Und seine letzte Nacht verbrachte er mit seiner jüngsten Frau. Den Lärm der Chinook-Helikopter hielten sie für einen nahenden Gewittersturm.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 10. Juli 2013


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