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Keine Panik

Wann kommt Pakistan zur Ruhe?

Von Heinz-Dieter Winter *

Die Ereignisse in Pakistan in den letzten Wochen und Monaten werfen Fragen nach dem weiteren Weg des Landes auf, das sich seit Jahrzehnten in einer permanenten Staatskrise zu befinden scheint und nun wohl auch noch vor einem finanziellen Bankrott steht (und obendrein noch von einem verheerenden Erbeben betroffen ist). Gerade dieses Land ist jedoch für Stabilität und Sicherheit in Süd- und Westasien von immenser Bedeutung. Höchst kontraproduktiv war da die geheime Weisung von US-Präsident Bush kürzlich an seine Streitkräfte in Afghanistan, vermutete Taliban-Stützpunkte auf pakistanischem Territorium auch ohne Zustimmung von Islamabad anzugreifen (was auch bereits geschehen ist).

Tariq Ali, ein in aus einer bekannten pakistanischen Politikerfamilie stammender Schriftsteller, Historiker und Philosoph, der in Großbritannien lebt, kommentiert die Entwicklung in seiner Heimat aus linker Sicht; zugute kommen ihm persönliche Kontakte zu wichtigen politischen Akteuren in Pakistan, insbesondere zur Bhutto-Familie. Jochen Hippler, Privatdozent für Politikwissenschaft am Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen, hat Pakistan oft besucht, zuletzt im Sommer dieses Jahres. Beide erklären die aktuelle Situation Pakistans sachkundig und überzeugend aus der turbulenten Geschichte des Landes seit der Spaltung des indischen Subkontinents am Ende der britischen Kolonialherrschaft 1947. Seit damals hat Pakistan niemals Ruhe gefunden.

Militärdiktaturen und korrupte Parteienherrschaften lösten einander ab; die Armee beherrschte das Land 34 Jahre lang. Drei Kriege (1948, 1965, 1971) und mehrere »Beinahekriege«, wie Hippler bewaffnete Konflikte mit Indien nennt, meist um die Kaschmirfrage, haben das Land erschüttert. Es seien »die strategischen Bedürfnisse der Vereinigten Staaten, die die gesamte Region destabilisieren«, meint Tariq Ali. Die beiden Autoren weisen auf die unheilvollen Auswirkungen hin, die das Bündnis mit den USA im Anti-Terror-Krieg hat. Hippler warnt jedoch vor einer unnötigen Dramatisierung, »vor einfachen Klischees und demonstrativer Panik«. Er sieht nicht die unmittelbare Gefahr der »Talibanisierung« und des drohenden Staatszerfalls. Auch stelle sich die Frage nach der Sicherheit der pakistanischen Atomwaffen weniger dringlich als oft unterstellt. Eine häufig beschworene Übernahme durch religiöse Extremisten hält er für ausgeschlossen. Die Einschätzung, dass Pakistan das »gefährlichste Land der Welt« sei, ist seiner Meinung zumindest fragwürdig.

Was die Zukunft des Landes betrifft, so ist Tariq Ali weniger zuversichtlich als Hippler. »In Pakistan hält die lange Nacht an, während der alte Kreislauf von vorne beginnt, Militärführer die Reformen versprechen, verkommen zu Tyrannen; Politiker, die dem Volk soziale Errungenschaften versprechen, verkommen zu Oligarchen«, schreibt Tariq Ali. Hippler sieht »eine Reihe neuer und ermutigender Entwicklungen«. Der Machtanspruch des Militärs würde heute in weit geringerem Maße in der Gesellschaft akzeptiert als noch vor fünf oder zehn Jahren. Die Mittelschichten, insbesondere in den Städten, Journalisten, Juristen, Intellektuelle und Akademiker, kleine und mittlere Unternehmer sowie Mitarbeiter von NGOs seien selbstbewusster geworden und würden heute eine weit größere Rolle in der Gesellschaft als früher spielen.

Die überwältigende Mehrheit der Pakistaner wünsche sich nichts sehnlicher, als dass ihr Land aus seiner Krise herausfinde und nach über 60 Jahren endlich »zu einem funktionierenden, stabilen und demokratischen Land« wird. Doch wann wird dies sich wohl erfüllen?

Tariq Ali: Pakistan. Ein Staat zwischen Diktatur und Korruption. Hugendubel. 334 S., geb., 19,95

Jochen Hippler: Das gefährlichste Land der Welt? Pakistan zwischen Militärherrschaft und Demokratie. Kiepenheuer & Witsch. 293 S., br., 9,95


* Aus: Neues Deutschland, 30. Oktober 2008

Weitere Stimmen zu den Büchern

Hippler legt mit seinem Pakistan-Handbuch ein überaus informatives und kenntnisreiches Werk zum Thema vor. Darin veranschaulicht er, dass der westliche Blick mit der Unterscheidung eines demokratisch-säkularen und extremistisch-islamistischen Lagers an der Wirklichkeit vorbeigeht. Insgesamt verhält es sich mit den Konfliktlinien weitaus komplizierter, und dies lässt den Leser noch irritierter als zu Beginn der Lektüre zurück. Gesellschaftliche Entwicklungen können aber nicht immer in einfache „Schubladen" gepresst werden. Der Autor hätte daher aber auch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte und ihre Interessen systematischer analysieren können. Dies geschah nur ausführlicher bezogen auf das Militär und in Ansätzen hinsichtlich der religiös-politischen Kräfte. Bei aller Skepsis hinsichtlich der Zukunft des Landes verweist Hippler auch auf einige ermutigende Entwicklungen, die er im Ansehensverlust des Militärs und der Herausbildung einer neuen Mittelschicht sieht. Auch die damit verbundenen Hoffnungen verdienen Beachtung.
Armin Pfahl-Traughber. In: Humanistischer Pressedienst, 13. Oktober 2008

Trotz aller Krisensymptome hält Hippler die kursierenden Nekrologe auf den pakistanischen Staat für verfrüht. So existieren zwar herrschaftsfreie Räume, diese seien aber relativ überschaubar und die dort operierenden Akteure eher randständig. Zudem stehe mit dem Militär ein Ordnungsfaktor bereit, der durchaus geschwächt ist, aber alle anderen Kräfte in puncto Ressourcen und Gewaltmittel deutlich übertrifft. Auch haben die politischen Parteien einen gewissen Reifeprozess durchlaufen, sodass die Herausbildung eines Systems des friedlichen Interessenausgleichs zumindest möglich erscheint. Bemerkenswert ist hierbei, dass die religiösen Parteien nur maximal zehn Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen können. Eine Machtergreifung religiöser Gruppen kann insgesamt als ziemlich unwahrscheinlich gelten. Das eigentliche strukturbildende Element liegt für Hippler vielmehr in den tradierten lokalen und regionalen Klientelsystemen. Sein Resümee lautet folglich, dass das eigentliche Problem Pakistans gerade nicht in instabilen Verhältnissen, sondern in einem Übermaß an Stabilität zu sehen ist. In diesem Sinne komme viel darauf an, den Herrschaftsanspruch der feudalen Eliten weiter zurückzudrängen. Da moderne Produktionsweisen stetig an Gewicht gewinnen, könnte sich perspektivisch ein umfassender Modernisierungsprozess Bahn brechen und der Wahrnehmung Pakistans als hoffnungslosem Problemfall allmählich die Grundlage entziehen.
Daniel Müller. In: Asien Kurier, 1. November 2008

Pakistan erklärte sich zwar 1956 als erster Staat zu einer Islamischen Republik. Doch die laizistischen Kräfte im Land schätzt Ali weiterhin als stark ein. Eine Machtübernahme der Islamisten ist für ihn „meilenweit entfernt”. Als Indiz für diese Einschätzung dienen ihm zwei Kundgebungen im vergangenen Jahr. Einerseits demonstrierten nur 1000 Menschen gegen die Stürmung der Roten Moschee in Islamabad, in der sich Extremisten verschanzt hatten. Drei Wochen später versammelten sich hingegen 100 000 Menschen, um des 250. Todestags des Dichters Bulleh Shah zu gedenken, der in seiner Poesie jede Form von organisierter Religion abgelehnt hatte.
Dennoch warnt Ali, dass radikale Kräfte Anhänger gewonnen haben, und nennt dafür vor allem zwei Gründe. Die anhaltende gesellschaftliche Ungleichheit sieht er als „explosivstes Problem Pakistans”. Sie führe dazu, dass arme Familien ihre Kinder in die boomenden Koranschulen schicken, weil dort eine bessere Ausbildung geboten werde als im dürftigen staatlichen Bildungssystem.
Zudem hat die Islamisierung ihren Ursprung in den Kriegen in Afghanistan. Als die Sowjetarmee 1979 in das Land am Hindukusch einmarschierte, entwickelte sich ein zehnjähriger Kampf zwischen den sowjetischen Besatzern und islamischen Guerillas, die von den USA und Pakistan aufgebaut wurden. Für diese Kriegsanstrengung trieb der pakistanische Militärmachthaber, Mohammed Zia-ul-Haq, die Islamisierung der Armee und des Landes voran. Er förderte die religiöse Partei Jamaat-i-Islami, indem er ihre Kader nach Afghanistan schickte und ihre bewaffneten Studentenführer bei ihrem Kulturkampf in den Universitäten unterstützte. Als Spätfolge dieser Politik sieht Ali eine Frage, die sich viele pakistanische Offiziere stellen: Wenn es richtig war, einen Heiligen Krieg gegen die sowjetischen Ungläubigen zu führen, wie können wir uns dann heute auf die Seite der amerikanischen Ungläubigen schlagen?
Die Religion betrachtet Ali jedoch nicht als Hauptproblem zwischen Pakistan und den USA. „Die tiefe Feindschaft gegenüber den Vereinigten Staaten beruht auf dem Wissen, dass Washington bisher noch jeden Militärdiktator unterstützt hat”, schreibt er. Diese Folge amerikanischer Außenpolitik hat Ali in liberalen Zeitungen wie dem Guardian oder der New Left Review mehrfach dargestellt. Nun macht er sie zum Unterbau seiner Hauptthese, die dem Buch im englischen Original den Titel „The Duel” gibt: Pakistan ist ein „dysfunktionaler Staat”, da die Bürger in einem Duell mit der korrupten politisch-militärischen Elite stehen. Mit jeder Militärregierung sind diese Spannungen noch schlimmer geworden.
Janek Schmidt. In: Süddeutsche Zeitung, 5. September 2008




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