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Entvölkerung geplant

Von Knut Mellenthin *

Pakistanische Truppen sind auf dem Vormarsch in Mingora, der größten Stadt des Bezirks Swat, in der sich mehrere hundert Taliban verschanzt haben. Von den 200000 bis 300000 Einwohnern Mingoras sind rund 90 Prozent geflüchtet. Die Soldaten kämpfen sich seit Sonnabend straßenweise vor und durchsuchen Haus für Haus. Militärsprecher behaupteten am Sonntag, daß bereits mehrere wichtige Straßenkreuzungen und Plätze erobert worden seien. Nach Berichten von Einwohnern hielten die Taliban aber vor allem in den Vororten immer noch ihre Stellungen.

Die Offensive im Swat-Tal hatte am 5. Mai begonnen. Journalisten wurde damals mitgeteilt, die gesamte Militäroperation werde in zehn bis 15 Tagen erfolgreich abgeschlossen sein. Inzwischen ist von mehreren Wochen oder sogar einigen Monaten die Rede. Daneben gehen die Streitkräfte auch gegen Taliban in den Distrikten Dir und Buner vor. Alle drei Bezirke gehören zur Nordwest-Grenzprovinz (NWFP).

Mittlerweile wurden aufgrund der Regierungsoffensive über 2,5 Millionen Flüchtlinge registriert - und es kommen täglich mehrere zehntausend hinzu. Nur etwa zehn Prozent von ihnen leben in Zeltlagern. Die meisten kommen bei Verwandten, Freunden und Stammesangehörigen unter.

Die planmäßige Entvölkerung ganzer Gebiete gehört zur Strategie der Regierung in Islamabad. Flucht und Vertreibung werden durch Evakuierungsbefehle, Sperren von Strom und Gas, Ausgangsverbot rund um die Uhr und schließlich durch massive Luftangriffe auf Dörfer und Stadtteile forciert. Die Behörden gehen davon aus, daß sich die Zahl der Flüchtlinge bis zum Winter bei etwa 1,5 Millionen stabilisieren wird. Für ihre Versorgung setzt Islamabad fast ausschließlich auf internationale Hilfe.

Es zeichnen sich aber jetzt schon große Probleme ab, die nicht nur den Nordwesten, sondern das gesamte Land betreffen. Am Sonnabend stifteten Regierungspolitiker mit widersprüchlichen Aussagen Verwirrung. Premierminister Jusaf Raza Gilani erklärte, die Flüchtlinge seien »unsere geachteten Brüder, Schwestern und Ehrengäste«. Es stehe ihnen frei, sich in irgendeinem Teil des Landes niederzulassen. Im Gegensatz dazu sagte Innenminister Rehman Malik, die Flüchtlinge dürften die Grenzen der NWFP nicht überschreiten. Wer die Provinz verlasse, verliere Unterstützung und Entschädigung.

Hintergrund ist unter anderem, daß viele Vertriebene aus der NWFP Zuflucht in Karatschi, der Hauptstadt der Provinz Sindh, gefunden haben, wo schon Hunderttausende ihrer paschtunischen Landsleute leben. Schon in der Vergangenheit gab es in Karatschi Unruhen der Urdu sprechenden Mehrheit gegen die etwa zehn Prozent starke paschtunische Minderheit. Am Sonnabend folgten große Teile der Bevölkerung und der Unternehmer von Sindh einem Streikaufruf der nationalistischen Parteien, mit dem ein Niederlassungsverbot für Flüchtlinge in der gesamten Provinz durchgesetzt werden soll. In Karatschi kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Unterdessen verstärken sich die Anzeichen, daß die Regierung ihre Militäroffensive über die NWFP hinaus ausweiten will. In Südwasiristan, einem Bezirk der sogenannten Stammesgebiete (FATA), wurden am Wochenende Stellungen der dortigen Taliban bombardiert. Auch in Orakzei, einem anderen Bezirk der FATA, wurden vermutete Taliban-»Schlupfwinkel« angegriffen.

* Aus: junge Welt, 25. Mai 2009


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