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"Ich habe alles verloren"

Millionen Pakistaner leiden unter dem anhaltenden Desaster ausgedehnter Überschwemmungen

Von Hilmar König *

Bei der Überschwemmungskatastrophe in Pakistan ist keine Entspannung in Sicht. Seit dem 22. Juli sucht eine durch exzessive Monsunregenfälle ausgelöste Sintflut weite Teile des südasiatischen Landes heim und bringt Millionen Menschen Tod und Verderben.

Schreiende verzweifelte Frauen, die soeben vom Tod ihrer Angehörigen erfahren haben. Bettelnde Hände, sich nach Lebensmitteln ausstreckend, die von einem Armeelaster geladen werden. Hungrige weinende Kinder. Ein erschöpfter Mann in einer Wasserwüste, auf einem Bett treibend. Zwei Jungs bis zum Hals in der Flut, um eine Kuh mit vor Angst weit aufgerissenen Augen zu retten. Erschütternde Bilder, wie sie seit Wochen zum Alltag im Katastrophengebiet Pakistans gehören.

»Dies ist ein anhaltendes Desaster, weil die Flut sich ausbreitet und der Monsun andauert«, schätzte Martin Mogwanja, UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten in Pakistan, am Mittwoch die dramatische Lage ein. Zugleich zog der Sonderbotschafter für Pakistanhilfe des UNO-Generalsekretärs, Jean-Maurice Ripert, eine Zwischenbilanz: Mindestens 14 Millionen Pakistaner sind von der Jahrhundertflut betroffen, tausende Dörfer überflutet oder weggespült, hunderte Brücken, Brunnen und Bewässerungsanlagen zerstört. Und hunderte Kilometer Straßen existieren nicht mehr. »Milliarden Dollar werden für Rehabilitation und Rekonstruktion erforderlich sein, um Infrastruktur und Existenzgrundlagen wieder aufzubauen«, sagte Ripert. Premierminister Jusuf Raza Gilani äußerte, Pakistan sei in seiner Entwicklung um Jahre zurückgeworfen worden. Die Regierung bestätigte offiziell den Tod von 1243 Pakistanern. Aber die tatsächliche Zahl wird weit höher liegen. Mujahid Khan vom pakistanischen Edhi-Rettungsdienst teilte mit, dass allein im Nordwesten, der zuerst von den Überschwemmungen betroffen wurde, unaufhörlich weiter Leichen gefunden werden.

Fast 14 Millionen Menschen mussten ihre Siedlungsgebiete verlassen, in den vergangenen Tagen allein in der südlichen Provinz Sindh 1.5 Millionen. Vier Millionen Menschen sind obdachlos geworden, sechs Millionen brauchen dringende Unterstützung zum Überleben und vier Millionen Lebensmittelhilfe über mindestens drei Monate. »Ich habe alles verloren. In meinem Haus hatte ich 200 Kilo Weizen eingelagert. Das Wasser riss alles fort.« Ratlos steht Dil Aram Khan aus dem Dorf Pirpai im nordwestlichen Distrikt Nowshera vor dem Nichts. Auf nahezu 600 000 Hektar Farmland sind die Ernten vernichtet. Punjab, die »Kornkammer« des Landes, steht unter Wasser. Nichts ist mehr zu sehen von Mais, Reis, Zuckerrohr, Gemüse. Viele Plantagen der berühmten und weltweit begehrten Mangos sind verwüstet. In der Provinz Sindh rechnen die Agrarexperten mit enormen Ernteeinbußen, bei Reis um 20 Prozent, Baumwolle um 30, Chilli und Tomaten um 50 und bei Zwiebeln um 70 Prozent. Die Preise für Lebensmittel schossen in den letzten Tagen bereits in die Höhe, teils um das Vierfache wie bei Tomaten, Kartoffeln und Zwiebeln.

Pakistans Regierung arbeitet nach Auskunft von Premier Gilani an einem umfassenden Rehabilitations- und Rekonstruktionspaket und hofft weiter auf großzügige ausländische Assistenz. Und die UNO entwirft laut deren Sprecher Martin Nesirky einen Nothilfeplan, für dessen Verwirklichung mehrere hundert Millionen Dollar gebraucht werden. Die internationale Hilfe hinkt dem Bedarf noch beträchtlich hinterher und erfolgt bei weitem nicht so generös wie bei den Erdbeben 2005 in Pakistan und 2010 in Haiti oder 2004 beim Tsunami in Süd- und Südostasien – obwohl es sich um die schlimmste Überschwemmung und eine der verheerendsten Naturkatastrophen überhaupt handelt.

In dieser Situation meldete sich Azam Tariq, ein Sprecher der Tehrik-e-Taliban Pakistan, zu Wort und rief die Regierung in Islamabad auf, keine Auslandshilfe, vor allem nicht aus den USA anzunehmen, da dies »Unterwerfung« zur Folge habe. Die Gelder würden ohnehin nicht die Bedürftigen erreichen, sondern »in den Taschen korrupter Herrscher verschwinden«. Hamid Gul, früher Chef des Geheimdienstes ISI und nicht gerade US-freundlich eingestellt, konterte Tariq und erklärte: »Wenn sie in den Überschwemmungsgebieten operieren, lasst sie Hilfe leisten.« Diese US-Amerikaner würden ja keinen Krieg führen.

* Aus: Neues Deutschland, 12. August 2010

Weitere aktuelle Meldungen

Flut in Pakistan: Sorge um 4,5-Millionen-Stadt Multan

Bei der verheerenden Flutkatastrophe in Pakistan ist nach Einschätzung der nationalen Meteorologiebehörde das Schlimmste noch nicht überstanden. Behördenchef Qamar-u-Zaman Chaudhry sagte am 12. Aug. in Islamabad, nach den Regenfällen im Norden zu Wochenbeginn rolle eine zweite Flutwelle durch die zentralpakistanische Provinz Punjab und weiter nach Süden.

Die Wassermassen ließen den Fluss Chenab anschwellen und könnten nach Angaben Chaudhrys trotz aller Schutzmaßnahmen die Stadt Multan mit ihren rund 4,5 Millionen Einwohnern treffen. Das wäre die bislang größte von der Flut betroffene Stadt. Chaudhry sagte mit Blick auf die Zerstörung, die die zweite Flutwelle auslösen könnte: «Die nächsten zehn Tage werden sehr entscheidend sein.»

Präsident Asif Ali Zardari, der wegen seiner Auslandsreisen während der Katastrophe heftig kritisiert worden war, besuchte am Donnerstag erstmals ein Flutgebiet im Süden des Landes.


USA erhöhen Zahl der Hilfs-Hubschrauber in Pakistan

Die USA haben die Zahl ihrer Hilfs-Hubschrauber in den Flutgebieten Pakistans deutlich erhöht. Es sei ein Hubschrauberträger vor die Küste Pakistans geschickt worden, sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates in Tampa in Florida. Das erlaube den Einsatz von 19 Hubschraubern - "das sind mehr als dreimal so viele wie bisher". Gates zufolge könnte das Hochwasser eine noch größere Katastrophe für Pakistan bedeuten als das Erdbeben 2005 in Kaschmir, bei dem mehr als 70.000 Menschen starben.

Bisher haben die USA sechs Hubschrauber in den pakistanischen Katastrophengebieten im Einsatz gehabt, die aus Afghanistan kamen. Mit ihnen wurden nach Angaben des Pentagon bisher etwa 3000 Menschen gerettet und fast 150 Tonnen Hilfsgüter verteilt.

Der UNO zufolge brauchen rund sechs Millionen Flutopfer in Pakistan Soforthilfe nur um zu überleben. Weitere acht Millionen Menschen sind indirekt oder längerfristig von den Überschwemmungen betroffen, bei denen bereits mehr als 1600 Menschen ums Leben kamen.

Die Vereinten Nationen baten angesichts der Not die internationale Gemeinschaft um Soforthilfe in Höhe von umgerechnet mehr als 350 Millionen Euro. Sie rechnen mit dem größten Hilfseinsatz in ihrer Geschichte. (Siehe hierzu: Größte humanitäre Aktion in der Geschichte der UNO.)


Bundesregierung erhöht Hilfe für pakistanische Flutopfer

Die Bundesregierung erhöht ihre humanitäre Hilfe für die Opfer der Flutkatastrophe in Pakistan auf insgesamt zehn Millionen Euro. Dies sei eine Reaktion auf einen Hilfsaufruf der UNO, teilten das Auswärtige Amt und das Bundesentwicklungsministerium am Mittwoch in Berlin mit. Der Hilfsaufruf der Vereinten Nationen habe das große Ausmaß der Schäden und die hohe Zahl der Betroffenen bestätigt.

Insgesamt seien landesweit fast 14 Millionen Menschen von den verheerenden Auswirkungen der Überschwemmungen betroffen. Der größte Bedarf besteht der Mitteilung zufolge bei Nahrungsmitteln, Zugang zu Trinkwasser, Zelten sowie medizinischer Versorgung. Die von der Bundesregierung bereitgestellten humanitären Hilfsgelder fließen an UNO-Organisationen und deutsche Nichtregierungsorganisationen, die die Lage der Flutopfer damit direkt verbesserten.


Taliban drängen pakistanische Regierung zu Verzicht auf US-Fluthilfe

Die radikalislamischen Taliban haben die pakistanische Regierung nach den schlimmsten Überschwemmungen seit Jahrzehnten zu einem Verzicht auf Hilfsgelder aus den USA aufgefordert. "Die Regierung darf amerikanische Hilfe nicht annehmen", sagte ein Sprecher der pakistanischen Taliban-Organisation Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP), Azam Tariq, am Dienstag der Nachrichtenagentur AFP. "Wir verachten Amerika und andere ausländische Hilfe und glauben, dass sie zu Unterwerfung führt."

Quellen: Meldungen der Nachrichtenagenturen AFP, ddp, dpa, 10., 11. und 12. August 2010




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