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"Die Seuchengefahr ist riesengroß"

Flutkatastrophe in Pakistan: Die Nothilfe kommt schleppend in Gang und wird noch lange dauern / Nothelfer Jürgen Mika über die Lage im Katastrophengebiet

Jürgen Mika arbeitet seit 2005 für die Welthungerhilfe. Derzeit organisiert der Vierzigjährige für das »Bündnis Entwicklung Hilft«, dem neben der Welthungerhilfe, Brot für die Welt, Medico international, Misereor und Terre des hommes angehören, mit lokalen Partnerorganisationen die Vereilung von Überlebenspaketen. Über die Situation in Pakistan sprach mit ihm für das Neue Deutschland (ND) Martin Ling.

ND: Ein Ende der Flutkatastrophe ist nicht in Sicht. Gibt es wenigstens Fortschritte bei den Hilfsbemühungen. Zeitweise hieß es ja, dass ein Drittel der 20 Millionen Betroffenen überhaupt nicht zu erreichen sei. Hat sich das gebessert?

Mika: Ja, das hat sich sehr verbessert, zumindest im Norden des Landes. Da kommen inzwischen viel mehr Hilfsleistungen an als bisher. Das liegt in erster Linie daran, dass die Pegelstände dort zurückgehen. Trotz Wasser und Schlamm ist jetzt der Zugang zur Zielgruppe sichergestellt. Weiter südlich, in der Provinz Punjab, die mit am meisten betroffen ist, sieht es schlechter aus. Da steht das Wasser noch meterhoch. Wir werden ab diesem Wochenende unsere Aktivitäten Richtung Süden ausweiten, wo die Hilfe jetzt am Notwendigsten ist.

Überall ist von Seuchengefahr die Rede. Wie lässt sich dagegen vorgehen?

Die Seuchengefahr ist in der Tat riesengroß. Überall steht das Wasser, übergelaufene Latrinen und verwesendes Vieh sorgen für einen gefährlichen Mix. Wir konzentrieren uns bei der Hilfe auf die Verteilung von sauberem Trinkwasser. Wir verteilen sogenannte Aquatabs, also Wasserreinigungstabletten, in Kombination mit einem Eimer mit Deckel, um die Aufbewahrung von sauberem Trinkwasser zu ermöglichen. Wir verteilen Hygieneartikel, obenan Seife, um Hautkrankheiten zu vermeiden. Auch sonstige Hygieneartikel wie Damenbinden und Handtücher sind in den Überlebenspaketen drin. Schwierig wird es inzwischen, Plastikplanen auf dem lokalen Markt zu besorgen, die sind quasi ausverkauft, die Neuproduktion kommt nicht hinterher und die Lieferzeiten und Preise steigen massiv an. Vielleicht müssen wir auf ausländische Bezugsquellen zurückgreifen.

Wie steht es um die Versorgung mit Lebensmitteln? Gibt der lokale Markt für die Beschaffung trotz der Zerstörung von Ernte- und Lagerbeständen überhaupt noch genug her?

Noch ist die Lage relativ entspannt. Die Frage ist, wie lange das so bleibt. Vor der Flut wollte Pakistan sogar Überschüsse exportieren. Nun sind im Punjab rund 500 000 Tonnen Weizen aus der Aprilernte zerstört worden. Punjab ist auch ein wichtiges Anbaugebiet für Gemüse und Hülsenfrüchte, also Bohnen, Erbsen und Linsen. Das ist alles hinüber. Ab September wird die Versorgungslage laut Welternährungsprogramm (WFP) kritisch, wenn nicht zusätzliche Lieferungen kommen. Pakistan wird lange Zeit auf Nahrungsmittel von außen angewiesen sein.

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber der Regierung? Die Administration liefert dem Anschein nach keine Glanzleistung ab, das Ausmaß der Katastrophe dürfte aber jede Regierung überfordern, oder?

Die Leute sind sauer und suchen einen Sündenbock. Und natürlich ist die Regierung immer die erste Adresse. Objektiv muss man die Kritik aber relativieren. Die Regierung ist stark bemüht, so beobachte ich das zumindest im Norden, zum Beispiel die Straßen instandzusetzen. Das Militär ist am Aufräumen und überall ist schweres Räumgerät. Ein Riesenproblem werden die Brücken bleiben, die weggerissen wurden. Im kompletten Swat-Tal gibt es keine intakte Brücke mehr – die sind einfach weg. Und das wird eine Wahnsinnsarbeit für die Zukunft bleiben und eine sehr kostspielige Investition. Die Bevölkerung hat registriert, dass die Hilfe inzwischen ankommt, wenn auch schleppend. Es gibt verständlichen Unmut, aber Regierung wie Nothelfer stehen vor einer Mammutaufgabe.

Was ist an den Berichten dran, dass radikale islamische Organisationen durch das unzulängliche Regierungshandeln gestärkt werden und selbst als Helfer Pluspunkte sammeln?

Sicher gibt es hier islamische Vereinigungen, die Geld sammeln, fanatische sind mir noch nicht aufgefallen. Es wird viel gespendet von der Bevölkerung. Das ist im Islam gang und gäbe, man hilft einander. Jedem Bettler, der hier steht, gibt man etwas, das beobachte ich an jeder Ecke. Eine Stärkung von islamistischen Gruppierungen durch die Katastrophe wird von der Bevölkerung nicht angenommen. Unsere einheimischen Mitarbeitern belächeln diese These ein bisschen. Ich glaube auch nicht, dass das ernst zu nehmen ist. Von den 20 Millionen Dollar, die die Taliban angeblich spenden würden, hat hier auch noch keiner was gesehen. Selbstverständlich verteilen auch die Taliban Nahrungsmittel. Aber dass sie dadurch nennenswert an Einfluss gewinnen, ist zweifelhaft. Die Leute wissen sehr genau, wo im Moment die meiste Hilfe herkommt: nämlich aus dem Westen.

Die Welthungerhilfe ist in Pakistan nicht nur als Nothelfer aktiv, sondern hat seit Jahren auch den Bau von Wasserkraftwerken zur Stromversorgung in ländlichen Gebieten unterstützt. Was ist daraus geworden?

Die sind kaputt. Die Flut hat die kleinen Hydropower-Anlagen kaputtgemacht, weil sie notwendigerweise nahe am Wasser gebaut sein müssen. Auch die Trinkwasserleitungen, die direkt an Quellwasser angeschlossen waren und die verschiedenen Haushalte und Dörfer versorgten, hat es weggerissen. Aber in dem Fall mehr durch Erdrutsche. Die Nothilfe und der Wiederaufbau in Pakistan werden eine sehr lange Zeit in Anspruch nehmen. Viele Menschen haben wirklich alles verloren.

Zahlen und Fakten - Dimensionen des Schreckens

Flutkatastrophen suchen Pakistan häufig heim. Kaum ein Jahr vergeht ohne Hochwasserprobleme. Doch selbst die bisherige Rekordflut im Jahr 1992, die 10 Millionen Menschen betraf, reicht nicht annähernd an die Flutkatastrophe 2010 an. Laut dem »Büro für die Koordination humanitärer Angelegenheiten« der Vereinten Nationen sind bisher über 15 Millionen Menschen in Mitleidenschaft gezogen worden, eine knappe Million Häuser wurden komplett zerstört, allen voran im südlichen Punjab, in dem eine halbe Million Häuser weggeschwemmt wurde. Drei Wochen nach Beginn der Überschwemmungen waren nach jüngsten UN-Angaben etwa 4,6 Millionen Menschen obdachlos. Fast 1500 Menschen kamen in den Fluten ums Leben. Die pakistanische Regierung geht sogar von 20 Millionen Betroffenen aus.

Angesichts der dramatischen Lage haben Vertreter verschiedener Länder am Donnerstag bei der UNO-Generalversammlungverstärkte Hilfe zugesagt. Die Katastrophe sei ein »globales Desaster« und einer der »größten Tests der globalen Solidarität unseres Zeitalters«, sagte Ban Ki Moon in New York City bei einer Sondersitzung der UN-Vollversammlung. Von den als Soforthilfe erbetenen 460 Millionen US-Dollar (rund 357 Millionen Euro) seien erst 47 Prozent eingegangen, sagte der UN-Generalsekretär.

Für Berlin gab Außenamtsstaatsminister Werner Hoyer in New York die Aufstockung der Mittel auf 25 Millionen Euro bekannt. Peter Mucke, Geschäftsführer des »Bündnisses Entwicklung Hilft« nannte das »gemessen am Bedarf einen äußerst geringen und deshalb enttäuschenden Betrag«. Nach längerem Zögern hat Pakistan das Hilfsangebot Indiens angenommen. Die pakistanische Regierung hatte eine Woche lang abgewartet, bevor sie die Offerte ihres Nachbarn und politischen Erzrivalen akzeptierte. ND

Für die Linderung der Not der Menschen in Pakistan bittet das »Bündnis Entwicklung Hilft« die Bevölkerung um Spenden auf das
Spendenkonto 51 51
Bank für Sozialwirtschaft;
BLZ 370 205 00
Stichwort: Pakistan




* Aus: Neues Deutschland, 21. August 2010


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