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"Die wahren Machthaber sind die Streitkräfte in Pakistan"

Gespräch mit Rahat Saeed. Über den Geheimdienst ISI, die Taliban, die USA und die Linke in der Islamischen Republik

Rahat Saeed ist Vorstandsmitglied des Verbandes fortschrittlicher Schriftsteller Pakistans und Aktivist der Koalition gegen den Krieg.



Pakistan ist mit Afghanistan zu einem Konfliktherd zusammengewachsen. Wie sehen das die Pakistani?

Die Situation in Pakistan ist noch schlimmer als in Afghanistan. Afghanistan ist ein besetztes Land, und das Volk kämpft gegen die Besatzung. Das ist ein relativ leicht zu beschreibender Konflikt. Wie ist das bei uns in Pakistan? Die wahren Machthaber sind die Streitkräfte. Deren Kettenhund ist der militärische Geheimdienst Inter-Services Intelligence ISI. Das sind die gleichen Leute, die in den 1980er Jahren den Dschihad, die dschihadistische Kultur nach Afghanistan gebracht haben. Die USA haben keine einzige unter den dschihadistischen Gruppen direkt kontrolliert. Sie kontrollierten sie alle zusammen über den pakistanischen Geheimdienst. So arbeitete Ahmed Wali Karsai, der Bruder des damals in den USA lebenden jetzigen afghanischen Präsidenten Karsai, für den pakistanischen Geheimdienst. Alle islamischen Parteien hatten ihre Mudschahedin-Gruppen, die vom pakistanischen Militär-Establishment und natürlich von diversen CIA-Stellen finanziert, bewaffnet und ausgebildet wurden.

Auch die Taliban-Bewegung ist von Pakistan ausgegangen.

Der Krieg löste einen Exodus von Afghanistan nach Pakistan aus. Millionen wurden zu Grenzgängern. Es sei erwähnt, daß der damalige pakistanische Machthaber Zia ul Haq gegen den sowjetischen Rückzug war. Offenbar hatte er eine Ahnung von den Problemen, mit denen Afghanistan und Pakistan nach dem Ende der sowjetischen Truppenpräsenz konfrontiert sein würden. Wie bekannt, fielen die verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen übereinander her und destabilisierten nicht nur Afghanistan, sondern auch Pakistan. In dieser Situation beschloß man im ISI, die Taliban-Bewegung ins Leben zu rufen. Deren Kämpfer wurden vor allem unter den Paschtunen, die über die Grenze gewechselt waren, rekrutiert. Sie hielten sich nicht nur in den Grenzgebieten auf, sondern waren über das ganze Land verteilt. Mullah Omar zum Beispiel hielt sich in Karatschi auf.

War Pakistan schon vorher die logistische Basis des islamischen Glaubenskrieges?

Die Region ist während des Krieges gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans zu einem Aufmarschgebiet islamischer Krieger unterschiedlicher Richtungen geworden, wobei die einen vom Iran, die anderen von Saudi-Arabien unterstützt wurden. Selbst der Irak hat während seines Krieges mit Iran Einfluß auf Teile der Mudschahedin-Bewegung zu nehmen versucht.

Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen und nachdem das prosowjetische Regime in Kabul aufgegeben hatte, suchten die Glaubenskrieger ein neues Betätigungsfeld, das sie in Indien, in Kaschmir zu finden meinten. Bis dahin war der Konflikt um Kaschmir kein bewaffneter. Der begann erst 1989. Es ist ein nationales Trauma in Pakistan, daß bei der Teilung des Subkontinents 1947 in Indien und Pakistan der größere Teil Kaschmirs von Indien annektiert wurde, obwohl die Bevölkerung dieser Provinz sich stärker mit Pakistan als mit Indien verbunden fühlt.

Wie verhält sich die ständig in außenpolitische Konflikte verwickelte Staatsmacht Pakistans im Inneren?

Da Indien und Pakistan sich als Feindesstaaten gegenüberstanden, entwickelte sich Pakistan von Beginn an als ein »National Security«-Staat, ein Staat »nationaler Sicherheit«. Man kann sagen: Jedes Land auf der Welt braucht eine Armee. Aber in Pakistan braucht die Armee ein Land. Islamabad befindet sich nicht nur mit Indien in einem Dauerkonflikt, sondern auch mit Afghanistan. Die Regierung in Kabul war die letzte, die Pakistan anerkannt hat. Der Grund dafür lag darin, daß die Grenze zwischen beiden Ländern eine imaginäre Linie ist. Zwischen Pakistan und Afghanistan gibt es keine international anerkannte Grenze. Auch zwischen dem pakistanischen und indischen Teil Kaschmirs existiert keine solche. Zwischen Pakistan und Indien gab es bereits vier Kriege, davon zwei große. In einem davon verloren wir 1971 mit Bangladesch das halbe Land.

Gegenwärtig stellt sich die Situation so dar, daß die USA Indien in eine Frontstellung gegenüber China zu bringen versuchen. Pakistan ist zutiefst betroffen über die massive Unterstützung, die Amerika Indien zuteil werden läßt. Aber es kann sich schlecht dagegen wehren, da es von Beginn an unter der Fuchtel der Vereinigten Staaten stand. Natürlich erhalten wir aus China wichtige Unterstützung. Aber die Macht, die auf unseren Schultern sitzt, ist die USA. Es genügt ein Anruf aus dem State Department, und unser Geheimdienstchef oder der Generalstabschef stehen stramm.

Die stärkste antiimperialistische Befreiungsbewegung in der Region sind die Taliban. Wie verhält sich die antiimperialistische Linke zu ihnen?

Das ist ein kaum lösbares Problem. Die Taliban, aber auch die Menschen, die sich zu ihnen bekennen, berufen sich auf den Islam. Einen Islam, der weniger eine Religion als eine Zivilisation ist. Eine tribalistische, rückschrittliche Zivilisation. Für fortschrittliche, linke Kräfte ist es daher äußerst schwierig, mit den Taliban oder von ihnen beeinflußten Menschen auch nur ins Gespräch zu kommen.

Auf der anderen Seite wird der vom Imperialismus ausgeübte Druck immer stärker. Auch Pakistan droht zum Opfer einer US-amerikanischen Aggression zu werden. Kann man da neutral bleiben?

Die Amerikaner sind in Afghanistan, und es gibt keine wirkliche Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan, da auf beiden Seiten Angehörige des gleichen Stammes leben. So kompliziert sich die Situation auch immer darstellen mag, ist eines völlig klar: Niemals mit den USA! Der Imperialismus im allgemeinen und die Vereinigten Staaten im besonderen sind das Grundübel. Egal, wo sie sich gewaltsam einmischten, ob in Afghanistan, im Irak, in Nicaragua oder in Jugoslawien. Es geschah immer zum Nachteil der Völker. Das wird nicht von allen Linken so gesehen. Es gibt Linke, auch solche, die sich Marxisten nennen, die sich auf seiten der Amerikaner positionieren, weil die gegen die Taliban kämpfen. Wir meinen hingegen, daß ein Sieg der Amerikaner über die Taliban keineswegs wünschenswert wäre. Wir müssen uns grundsätzlich gegen ausländische Militärinterventionen stellen, weil sie dem Prinzip der Selbstbestimmung entgegenstehen und die Würde von autonomen Subjekten verletzen.

Ich glaube aber, daß die Invasoren eine Niederlage erleiden werden. Das dürften auch die US-Generäle in Afghanistan so sehen, weshalb sie eine Erhöhung der Truppenstärke fordern. Die Entscheidungsträger in Washington aber scheinen sich eher für ein Szenario entschieden zu haben, das sich bereits in Vietnam als selbstmörderisch erwies. Als sich dort ihre Niederlage abzeichnete, weiteten sie den Krieg auf Laos und Kambodscha aus. Damals hieß es, es gehe darum, der Nationalen Befreiungsfront Vietnams, FNL, die Nachschubwege abzuschneiden. Genauso argumentieren sie heute, daß die paschtunischen Gebiete in Pakistan den Taliban als Ausgangsbasis dienen. Von ihren pakistanischen Stützpunkten aus begannen die USA deshalb mit Luftangriffen auf pakistanisches Territorium. Das Schlimmste ist aber, daß auf unserem Boden auch private Sicherheitsfirmen, wie Blackwater im Irak, zum Einsatz kommen.

Wie reagieren die offiziellen pakistanischen Stellen auf diese Aggression?

Natürlich sind die Streitkräfte und der Sicherheitsdienst über diesen Akt der Nötigung keineswegs erfreut. Denn in der Konsequenz bedeutet das, daß Pakistan die Kontrolle über Afghanistan verliert. Die Repressionsorgane sind deshalb an einer antiamerikanischen Stimmung durchaus interessiert. Sie haben sogar Websites eingerichtet, auf denen über die USA hergezogen wird.

Glauben Sie, daß in Washington ein Plan B für den Fall existiert, daß die fragile Allianz zwischen den USA und dem pakistanischen Regime endgültig zerbricht?

Das erste Problem, mit dem sich die USA konfrontiert sehen, ist das pakistanische Nuklearpotential. Daraus ergibt sich die Befürchtung, daß Atomwaffen in die Hände der Taliban geraten könnten oder aber auch, daß die Taliban in die Armee einsickern könnten. Die pakistanische Armee ist für die Amerikaner von großer geostrategischer Bedeutung, was die Kontrolle über den Iran, die Golfregion, aber auch über Zentralasien betrifft. Aber die Armee in Pakistan ist auch ein riesiger Wirtschaftszweig. Sie ist der größte Industriekonzern und einer der größten Grundbesitzer. Die Streitkräfte verfolgen drei Hauptprinzipien. Erstens keinen Krieg zu führen. Zweitens die Kriegsgefahr aufrechtzuerhalten. Und drittens ihre ökonomische Stellung zu verteidigen und auszuweiten. Zu einem offenen Konflikt würde es dann kommen, wenn sich die Eigeninteressen unseres Millitär-Industriekomplexes den strategischen Interessen Washingtons zuwiderliefen.

Bedeutet das, daß die bewaffneten Kräfte Träger nationaler Interessen sind?

Ganz und gar nicht. In den vergangenen 60 Jahren haben Militär und Geheimdienst alle demokratischen Institutionen und alle Volksorganisationen zerstört. Es gibt keine Partei und keine Zeitung in Pakistan, die nicht von Geheimdienstleuten durchsetzt wäre. Die antiimperialistische Linke befindet sich in einer fatalen Situation. Wendet sie sich gegen die USA, entspricht das auch den Interessen der einheimischen Reaktion, wendet sie sich gegen diese, läuft sie Gefahr, das Spiel der Amerikaner zu betreiben. Und wir sind nicht stark genug, mit den Islamisten in Verhandlungen einzutreten. Linke, die sich an antiamerkanischen Demonstrationen beteiligen, werden von den Islamisten in der Regel verprügelt.

Und dennoch ist die Aufgabe, vor der wir stehen, einfach zu beschreiben: Wir müssen eine breite antiimperialistische Allianz bilden, die Verbindungen mit jenen Islamisten herzustellen vermag, die eine primär antiimperialistische Agenda verfolgen.

Aber keine Kontakte zu den Taliban?

Es gibt kein Gebiet in Pakistan, wo die Taliban ohne Hilfe des ISI auskommen würden. Das Swat-Tal im Nordosten war eine sehr friedliche Region. Bis die Armee dort Taliban ansiedelte, was zu einer starken Veränderung des lokalen Bevölkerungsstruktur führte. Offiziell hieß es, es gehe um die Lösung der Agrarfrage. Die kleinen Landeigner erhofften sich von den Taliban tatsächlich eine Zurückdrängung des Großgrundbesitzes. In Wahrheit aber bildete sich ein neues kriminelles Milieu heraus. Eine Tatsache ist auch, daß die Armee- und die Taliban-Posten aufs engste miteinander kooperierten.

Aber wie erklären sich dann die erbitterten Zusammenstöße zwischen Armee und Taliban im Swat-Tal?

Dazu wurde die Armee von den Amerikanern gezwungen. Mehr als vier Millionen Bewohner wurden im Frühjahr ausgesiedelt. Danach wurde flächendeckend bombardiert. Monate später sind diese Menschen zurückgekehrt. Ihre Häuser und die landwirtschaftlichen Nutzflächen waren zerstört und damit auch alle Möglichkeiten zur Selbstorganisation der örtlichen Bevölkerung. Danach hieß es aus Armeekreisen, die Taliban wären vertrieben und ein Großteil von ihnen getötet worden. Doch niemand sah ihre Leichen.

Was prägt das gesellschaftliche Bewußtsein in Pakistan?

In den städtischen Zentren ist die Arbeiterklasse äußerst desorganisiert. Der industrielle Hauptzweig war die Textilproduktion. Bereits 1975 wurde die Textilarbeitergewerkschaft durch die Zersplitterung in kleine Einheiten zerstört. Einen höheren Organisierungsgrad gibt es in der Mittelschicht, die sich als Trägerin der Zivilgesellschaft dünkt. Es sind somit keine Voraussetzungen für eine revolutionäre Massenpartei gegeben. Das Alltagsbewußtsein wird vom religiösen Denken geprägt. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bilden gläubige Muslime. Der bei uns vorherrschende Antiamerikanismus ergibt sich vor allem aus der Überzeugung, daß die Vereinigten Staaten gegen den Islam seien.

Es gibt einen islamisch geprägten Antiimperialismus der Massen, während umgekehrt säkular und subjektiv fortschrittlich gesinnte Menschen den Westen als Verbündeten im Kampf gegen die Rückständigkeit ihrer Gesellschaften sehen. Was bedeutet das für die antiimperialistische Linke in ihrem Streben nach einer breiten Koalition?

Erstens war es uns bis jetzt nicht möglich, mit den islamischen Parteien in einen Dialog zu treten. Dessen Eröffnung wäre nur möglich, wenn die linken Kräfte etwas vorzuweisen hätten. In Afghanistan, wo die Linken immerhin einmal die Macht ausgeübt hatten, haben sie das. Aber bei uns nicht. Zweitens geht es darum zu ermitteln, wer wirklich gegen den Imperialismus zu kämpfen bereit ist und wer nicht. Es gibt solche Kräfte in Landesteilen, in die die Taliban noch nicht vorgedrungen sind und die auch von den Streitkräften weitgehend unbehelligt blieben. So bleibt unserer Koalition gegen den Krieg vorerst nichts anderes übrig, als unter den Linken, unter Marxisten, Sozialdemokraten und Linksradikalen das Bewußtsein für die Notwendigkeit der Eröffnung einer breitestmöglichen Front gegen die imperialistische Kriegsgefahr zu schaffen.

Interview: Werner Pirker, Wien

* Aus: junge Welt, 30. Oktober 2009


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