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"Die Mehrheit ist gegen eine Verzerrung des Islam"

Sayed Wiqar Ali Shah über die Eskalation der Gewalt in Pakistan *


Prof. Dr. Sayed Wiqar Ali Shah ist seit 2009 Gastprofessor am Südasien-Institut in Heidelberg. Forschungsschwerpunkte des pakistanischen Akademikers sind u. a. das Moderne Südasien, Afghanistan, die Politik in Pakistan sowie die Entwicklung in den Stammesgebieten der Paschtunen. Mit dem Wissenschaftler sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Antje Stiebitz.

ND: Am vergangenen Donnerstag (17. März) hat ein US-Drohnenangriff in Pakistan mehr als 50 Tote und Verletzte gefordert, zuvor waren bei Attentaten Dutzende Menschen gestorben. Getötet wurden auch Salman Taseer, Gouverneur der Provinz Punjab, und der Minister für religiöse Minderheiten Shahbaz Bhatti. Sie mussten sterben, weil sie das Blasphemie-Gesetz ändern wollten. Dieses Gesetz verbietet die Beleidigung jeder Religion, wird aber praktisch nur »zum Schutz« des Islam angewendet.

Ali Shah: Die jüngsten Ereignisse um die Blasphemie-Debatte haben für große Bedenken bezüglich einer steigenden Militanz der Extremisten gesorgt. Ich glaube, dass diese Besorgnis übertrieben ist, da die Ereignisse nicht mit der in Pakistan herrschenden Gesinnung übereinstimmen. Der Islam predigt Toleranz und Frieden. Extremismus, wie er von einigen Kreisen in Pakistan ausgedrückt wird, ist dem Islam, der einen »Mittelweg« betont, fremd. Jede Form des Extremismus stellt eine ernste Bedrohung zivilisierter Gesellschaften dar. Kriminelle Elemente, die soziale Risse schaffen und für ihre abscheulichen Taten auch noch straflos davonkommen – das darf künftig nicht gestattet werden. Die Mehrheit der pakistanischen Bevölkerung ist moderat, progressiv, und würde diese verzerrte Auslegung des Islam nicht unterstützen.

Die Morde an den Politikern wurden aber gefeiert.

Der Mord an Salman Taseer wurde von seinen politischen Gegnern nicht verurteilt. Zur äußersten Enttäuschung vieler Menschen in Pakistan schmückten sie den Mörder noch mit Blumen. Der Mord an Shahbaz Bhatti schockierte die Nation. Neben dem Präsidenten, dem Premier, den Parlamentsmitgliedern haben alle Repräsentanten politischer und religiöser Parteien, Vertreter der Zivilgesellschaft und der Gewerkschaft die Tat verurteilt. Sie empfinden die Terroristen als Feinde der Menschlichkeit, die der pakistanischen Gesellschaft ihre Form des Islam auferlegen wollen.

Die Angst der Regierung vor den Fundamentalisten scheint so groß zu sein, dass sie das Blasphemie-Gesetz nicht mehr diskutiert.

Einige religiöse Parteien lassen keine Gelegenheit aus, die regierende Pakistanische Volkspartei zu verleumden. Sie versuchen, die Regierung zu destabilisieren und die Sympathie der Menschen zu gewinnen. Die Kosten für Elektrizität und Gas, die Zuckerkrise, Korruption und ein Mangel an Recht und Ordnung sind die Hauptthemen, mit denen sie gegen das Regime punkten können. Hinzu kommt ein Mangel an Bildung – alles zusammen macht die armen Massen anfällig für den Einfluss der Fundamentalisten. Ursprünglich wollte die Regierung alle Gesetze, die unter dem früheren Regime von Zia-ul-Haq beschlossen wurden, abschaffen, auch das Blasphemie-Gesetz. Aber als sie die Brisanz des Themas spürte, insbesondere nach dem Mord an Salman Taseer, entschloss sie sich, es nicht anzurühren – weil das der Ideologie derer, die Krieg gegen die Regierung führen, Aufschwung verleihen würde.

Wie wirkt der Krieg in Afghanistan auf Pakistan?

Die Krise in Afghanistan hat natürlich Auswirkungen auf die ganze Region. Der afghanische Flüchtlingsstrom in Pakistan ist beispielsweise einer der Gründe dafür, dass die Situation von Recht und Ordnung so schwierig ist.

Nach der Invasion der Amerikaner im November 2001 begannen die verdrängten Taliban und ihre Al-Quaida-Sympathisanten in den Stammesgebieten Pakistans, Truppen gegen die USA und die NATO zu rekrutieren. Die Infiltration verlief unkontrolliert. Die afghanischen Autoritäten beschuldigten den pakistanischen Geheimdienst, die Taliban zu unterstützen, während Pakistan seinerseits Afghanistan und anderen antipakistanischen Kräften vorwarf, den Aufrührern in Swat und Bajaur Hilfe zukommen zu lassen. Während dieses Spiel von Schuldzuweisungen weiter ging, eskalierten die militanten Aktivitäten in der Region Waziristan.

Will der pakistanische Geheimdienst die Taliban konsolidieren?

So wurde in letzter Zeit von Leuten argumentiert, die gerne an die Verschwörungstheorie glauben, dass Pakistan die Taliban in Afghanistan künftig als eine starke Macht fördern möchte. Ich bin davon nicht überzeugt. Behält man im Blick, welche Opfer das Volk und die Regierung Pakistans im Krieg gegen den Terror erbringen, kann man solche unseriösen Argumente nicht glauben. Pakistan kämpft gegen den Terror in vorderster Front und hat in diesem Krieg mehr als 10 000 unschuldige Menschen und 3000 Sicherheitskräfte verloren. Die materiellen Verluste gehen in die Milliarden. Die pakistanische Armee hat erfolgreiche Operationen in Swat, Buner, Bajaur und Südwaziristan durchgeführt. Im Moment sind die Truppen in Nordwaziristan und in der Aurakzai-Gegend eingebunden. Die internationale Gemeinschaft sollte Pakistans Bemühungen, den Terrorismus zu dämpfen, in allen Formen unterstützen.

Ist der Fundamentalismus eine Reaktion auf die westliche Politik ?

USA und NATO werden weitgehend als Besatzungsmächte wahrgenommen, der Hass auf sie nimmt zu. Hauptgrund dafür sind die Bombardements gegen Zivilisten. Es gibt keine überprüfbaren Zahlen, doch in den meisten Fällen schließen sich die überlebenden Familienmitglieder den Militanten an, um den Tod der Angehörigen zu rächen.

Wie sehen Sie Pakistans Zukunft?

Die westlichen Truppen in Afghanistan, die Taliban und deren Unterstützer von Al Quaida in Waziristan und anderen Teilen der Stammesgebiete haben einen schlechten Einfluss auf Pakistan. Die Verfügbarkeit von Waffen und die Anwesenheit von Geheimdiensten aus aller Welt – mit ihren Netzwerken in Südasien – sind weitere Gründe für Pakistans Instabilität. Keiner kann vorhersagen, was passieren wird.

* Aus: Neues Deutschland, 21. März 2011


Aufruf zur Rache

Wütende Reaktion des pakistanischen »Friedenskomitees« in Nordwasiristan nach US-Drohnenangriff auf Volksversammlung. Washington setzt Einsätze unbeeindruckt fort

Von Knut Mellenthin **


Nach dem Dohnenangriff vom Donnerstag (17. März), durch den 45 Menschen getötet wurden, haben Sprecher der Bevölkerung der pakistanischen Region Nordwasiristan zum Krieg gegen die USA aufgerufen. Mehrere unbemannte Flugkörper hatten bis zu acht Raketen auf eine unter freiem Himmel tagende Volksversammlung abgeschossen, die zur Klärung eines Rechtsstreits einberufen worden war. Es war bereits der zwanzigste derartige Angriff in diesem Jahr und einer der folgenschwersten seit dem Beginn der Drohneneinsätze gegen Pakistan vor fünf Jahren.

Auf einer Pressekonferenz in Peschawar, der Hauptstadt der nordwestlichen Provinz Khyber-Pakhtunkhwa, rief ein Sprecher des »Friedenskomitees« von Nordwasiristan am Freitag (18. März) die Stämme der Region auf, sich gegen die »Grausamkeiten der Amerikaner und ihrer Lakaien« zu erheben, und kündigte »Racheaktionen« an. Zugleich verurteilte er auch die eng mit den USA zusammenarbeitende pakistanische Regierung und sagte, sie sei gleichermaßen mitschuldig am Blutvergießen in Teilen des Landes.

Die Stellungnahme des »Friedenskomitees« hat besonderes Gewicht, da sich hinter dieser Bezeichnung Stammesgruppen verbergen, die an der Seite der Armee gegen die Taliban kämpfen. Der jüngste US-amerikanische Drohnenangriff hat offenbar Verbündete der Regierung in Islamabad getroffen. Ob das nur ein Versehen war oder in provokatorischer Absicht geschah, um die Destabilisierung des Landes noch weiter voranzutreiben, bleibt unklar. Die USA geben zu den rechtswidrigen Einsätzen der unbemannten Flugkörper, die unter Regie des Auslandsgeheimdienstes CIA erfolgen, grundsätzlich keine Erklärungen ab.

Entsprechend schroff fielen die Reaktionen der pakistanischen Regierung und der militärischen Führung aus. Armeechef General Ashfaq Parvez Kayani warf den USA »völlige Mißachtung von Menschenleben« vor und beklagte, daß dieser »rücksichtslose Gewaltakt gegen eine Versammlung friedlicher Bürger« sich negativ auf den »Kampf gegen den Terrorismus« auswirken werde. Das pakistanische Außenministerium sprach von einer »offenen Verletzung aller humanitären Regeln und Normen«. Dem einbestellten US-Botschafter Cameron Munter wurde mitgeteilt, daß Pakistan aus Protest gegen den Angriff nicht an einem geplanten Dreiertreffen mit den USA und Afghanistan teilnehmen werde, das am 26. März stattfinden sollte.

Indessen zeigt die US-Regierung sich völlig unbeeindruckt. Am Sonntag (20. März) wurde aus Nordwasiristan berichtet, daß weiterhin ständig Drohnen über das Gebiet fliegen. General David Petraeus, der Oberkommandierende der NATO-Truppen in Afghanistan, forderte die pakistanischen Streitkräfte am Freitag auf, endlich ihre seit einem Jahr verschobene Offensive gegen Nordwasiristan zu beginnen. Der jüngste Drohnenangriff ebenso wie die überraschende Freilassung des CIA-Agenten Raymond Davis in der vorigen Woche werden Thema einer gemeinsamen Sitzung beider Häuser des pakistanischen Parlaments sein, die am morgigen Dienstag (22. März) beginnt.

* Aus: junge Welt, 21. März 2011


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