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Pakistan droht die humanitäre Notlage

Flüchtlingszustrom aus Swat-Region hält an

Von Hilmar König, Delhi *

Als »völligen humanitären Notstand« beschreibt die Flüchtlingsagentur der UNO (UNHCR) die Situation im Nordwesten Pakistans. Dort sind über eine halbe Million Menschen vor den Kämpfen zwischen der Armee und militanten Taliban auf der Flucht.

Militärsprecher Generalmajor Athar Abbas erklärte am Dienstag (12. Mai), bei der am 8. Mai begonnenen Offensive im Swat-Tal und in den Distrikten Dir und Buner seien bislang 29 Soldaten getötet und 70 verwundet worden. Die Zahl der bei Luftangriffen und Artilleriebeschuss getöteten Taliban bezifferte er auf 751. Angaben über die ums Leben gekommenen Zivilisten machte er nicht. Bekannt jedoch ist, dass inzwischen weit über 500 000 Menschen aus der umkämpften Region geflüchtet sind.

Den Behörden fällt es schwer, den nicht abreißenden Flüchtlingsstrom zu bewältigen. Viele Familien leben in Notunterkünften oder bei Verwandten. Aus etlichen Flüchtlingslagern im Distrikt Mardan im Nordwesten Pakistans wurde akuter Mangel an Hilfsgütern gemeldet. Die UNHCR hat davor gewarnt, dass der »völlige humanitäre Notstand« sich zur größten Flüchtlingskrise Pakistans seit 1947 ausweiten könnte. Damals waren mehrere Millionen Menschen vertrieben worden. Von der Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge hängt jedoch unmittelbar ab, ob die momentane breite Unterstützung der Militäraktion gegen die Taliban anhält.

Mitte Februar hatte die Regierung der Nordwest-Grenzprovinz mit den Taliban ein »Friedensabkommen« geschlossen, dem später Präsident Asi Ali Zardari zugestimmt hat. Die Taliban sollten ihre Kämpfe in Swat einstellen und ihre Waffen abgeben. Im Gegenzug sollte die islamische Scharia-Gesetzgebung wieder eingeführt werden, wie sie dort traditionell vor der Gründung Pakistans im Jahre 1947 gültig war. Doch die Taliban hielten sich nicht an den vom Ausland mit Skepsis betrachteten Pakt. Sie weiteten sogar ihre Präsenz nach Dir und Buner aus und standen damit nur noch etwa 100 Kilometer vor den Toren Islamabads. Die Provinzregierung in Peshawar, Parlament und Regierung in Islamabad sowie die Militärführung zeigten sich alarmiert. Zugleich wuchs von außen, besonders seitens der USA, der Druck, zu handeln. In Indien wie im Westen befürchtet man, die Nuklearinstallationen könnten in die Hände der militanten Extremisten fallen.

Erstmals seit Beginn des »Kampfes gegen den internationalen Terrorismus« findet die Militäroffensive eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Die Medien stehen ebenfalls hinter den Streitkräften und berichten ausführlich über die Einschätzungen der Lage durch die Politiker. Beispielsweise zitierten sie Premier Jusuf Raza Gilani: »Das ist kein normaler Krieg. Es ist ein Guerilla-Krieg. Das ist unser Krieg, in dem es ums Überleben des Landes und um die Zukunft der Nation geht.« Es handele sich um eine »offene Rebellion von staatsfeindlichen Elementen«, die Pakistans Verfassung und die staatlichen Institutionen nicht respektieren würden.

Oppositionsführer Nawaz Sharif, dem Sympathien für islamische Militante zugeschrieben werden, äußerte unmissverständlich, den Taliban müsse eine Niederlage bereitet werden. Das Parlament in Islamabad stimmte am Montag fast einhellig der Militäroffensive zu. Nur die Jamiat-e-Ulema Islami zog nicht am gleichen Strang. Die Armeeführung selbst weiß, dass ihr Ruf sowie ihr politischer Einfluss auf dem Spiel stehen, wenn sie diese Auseinandersetzung mit den Taliban nicht gewinnt. So erstaunt nicht, dass sie Einheiten von der Grenze zu Indien nach Westen verlagert hat und offensichtlich entschlossen in den drei Distrikten Swat, Buner und Dir agiert. Ziel der Offensive ist vorerst, die Infrastruktur der Taliban zu zerstören, so viele wie möglich von ihnen zu eliminieren und die Region wieder unter Regierungskontrolle zu bringen. Ob dem anschließend und mit gleichem Engagement die Aushebung der Al-Qaida-Schlupfwinkel im pakistanischen Nord- und Südwasiristan folgen wird, bleibt zunächst offen.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Mai 2009


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