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Empörung in Pakistan

Durch ihren Mordversuch an einer Vierzehnjährigen verschaffen die Taliban den Befürwortern einer »militärischen Lösung« Auftrieb

Von Knut Mellenthin *

Der Mordanschlag islamistischer Fanatiker auf eine 14jährige Schülerin konfrontiert Pakistan mit seinen Leiden und Widersprüchen. Der Kleinbus, der Malala Yousafzai und einige andere Mädchen von ihrer Schule in Mingora, der Hauptstadt des Distrikts Swat, nach Hause bringen sollte, wurde am Dienstag von zwei unbekannten Männern gestoppt. Sie fragten, welche von ihnen Malala sei, und schossen ihr dann in Kopf und Nacken. Zwei Mitschülerinnen wurden verletzt; eine von ihnen befindet sich in einem kritischen Zustand.

Malala selbst wurde inzwischen aus der Hauptstadt der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, Peschawar, in ein besser ausgestattetes Armeehospital in Rawalpindi verlegt. Die nächsten 36 bis 48 Stunden seien entscheidend für ihr Überleben, hieß es dort am Freitag morgen.

Das Mädchen hatte im Januar 2009 als Elfjährige zunächst noch unter einem Pseudonym damit begonnen, in einem Blog des britischen Senders BBC über die Situation in ihrem Heimatort unter der Herrschaft der Taliban zu schreiben. Die militärisch organisierten Fundamentalisten hatten 2007 die Kontrolle über das Swat-Tal übernommen. Das Gebiet liegt außerhalb der sogenannten Stammesgebiete, war vom Bürgerkrieg bis dahin kaum berührt worden und wurde wegen seiner Bedeutung für den Wintersport wohlhabender Pakistaner und Ausländer sogar als »pakistanische Schweiz« bezeichnet. Die Taliban begannen, im Distrikt Swat eine Zwangsherrschaft nach ihren Vorstellungen von Religiosität zu errichten. Die meisten Mädchenschulen wurden geschlossen, viele Schulgebäude niedergebrannt. Frauen, die allein zum Einkaufen in den Bazar gingen, wurden beschimpft, belästigt und oft auch geschlagen.

Der Zeitpunkt, zu dem Malala über diese Dinge zu schreiben begann, war entscheidend. Die Provinzregierung, hauptsächlich von der säkularistischen Awami-Nationalpartei gestellt, befand sich gerade in Verhandlungen über ein Friedensabkommen mit den Taliban, das kurz darauf, im Februar 2009, auch tatsächlich abgeschlossen wurde. Die Vereinbarung wurde nicht nur von der US-Regierung, sondern auch von bedeutenden Teilen der politischen Klasse Pakistans sofort scharf kritisiert.

Im April desselben Jahres führte die Veröffentlichung eines Videos zu einem breiten Sturm der Empörung im ganzen Land – und damit auch zu einem allgemeinen Stimmungsumschwung gegen das Friedensabkommen. Die mit einer Handykamera gefilmten Szenen zeigten die öffentliche Auspeitschung einer 17jährigen jungen Frau in einem Dorf des Swat-Tals. Taliban-Anhänger hatten sie verurteilt, weil sie angeblich mit einem verheirateten Mann zusammen aus ihrem Haus gekommen war. Regierung und Armee nutzten die Gunst der Stunde, um im Mai 2009 eine große Offensive gegen Swat und angrenzende Distrikte zu eröffnen. Im Juni wurde das Unternehmen erfolgreich abgeschlossen.

Eine ähnliche Stimmungslage herrscht jetzt nach dem Mordanschlag auf Malala. Allerdings läßt die Jahreszeit vermutlich aktuell nicht zu, größere Militäroperationen zu beginnen. Indessen sind alle Parteien und Politiker, die den Konflikt mit den Taliban im Nordwesten des Landes anders als rein militärisch lösen wollen, derzeit heftiger Kritik ausgesetzt und müssen aus der Defensive agieren. Prowestliche englischsprachige Medien Pakistans, die von einem »Krebsgeschwür« sprechen, das »herausgeschnitten« werden müsse, haben es vor diesem Hintergrund im Moment leicht. Die Taliban haben durch Stellungnahmen, die das Verbrechen rechtfertigen und als gottgefällige »Pflicht« darstellen, ihre Isolation noch mehr verstärkt.

Zum Hintergrund gehört, daß Malala nicht irgendein paschtunisches Mädchen ist. Ihr Vater ist Leiter und wohl auch Besitzer der Privatschule in Mingora, die seine Tochter besucht. Er ist darüber hinaus selbst politisch engagiert. Daß man sich entschloß, Malalas Namen bekannt zu machen und ihre Schriften zu internationalen Propagandazwecken gegen die Taliban einzusetzen, ohne sich ausreichend um ihren Schutz zu kümmern, ist Teil der Tragödie.

* Aus: junge Welt, Samstag, 13. Oktober 2012


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