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Pakistans Militär starteten Offensive

Taliban leisten heftigen Widerstand in Südwasiristan / Bereits über 100 000 Flüchtlinge

Von Hilmar König, Delhi *

Seit Samstag (17. Okt.) läuft die Offensive des pakistanischen Militärs gegen die Taliban-Bewegung – Tehrik-e-Taliban Pakistan – in der Region Südwasiristan. Die Regierung in Islamabad schreibt dieser militanten Bewegung 80 Prozent der terroristischen Aktivitäten im Land zu.

Nach Beginn der lange erwarteten Bodenoffensive der pakistanischen Armee gegen die Taliban in Südwaziristan haben die Streitkräfte nach Angaben aus der Region erste Geländegewinne erzielt. Wie am Sonntag aus pakistanischen Geheimdienstkreisen verlautete, nahmen Regierungstruppen nach heftigen Gefechten mehrere bislang von den Aufständischen besetzte Siedlungen in den Regionen Spinkai Raghzai und Shakai nahe der afghanischen Grenze ein.

Mit schwerer Artillerie und Angriffen aus der Luft versucht die Armee, die Oberhand über 10 000 bis 12 000 Militante zu gewinnen, die nach islamistischer Herrschaft Pakistans streben. In ersten Berichten hieß es, die Taliban leisteten erbitterten Widerstand. Die Offensive, seit Mitte Juni angekündigt und geplant, begann am Samstag an drei Fronten. Alle Zugangswege in die Region sind laut Militärangaben blockiert. Die Offensive könnte sechs bis acht Wochen dauern, bis zum Wintereinbruch. Eines der Hauptziele ist das Gebiet um die Stadt Makeen, wo die Führung des Mehsud-Stammes, der zwei Drittel Südwasiristans bevölkert, ihren Sitz hat. Hakimullah Mehsud, der Chef der »Tehrik«, einer Allianz aus über einem Dutzend radikal-islamischen Gruppen, wird für die Serie von Anschlägen der vergangenen zwei Wochen verantwortlich gemacht. Ihnen fielen in Lahore, Peshawar und Rawalpindi über 150 Menschen zum Opfer. Aus Militärkreisen war zu hören, man wolle die Bewegung enthaupten beziehungsweise deren Netzwerk zerlegen.

Das wird allerdings, wenn überhaupt, nur unter beträchtlichen Verlusten gelingen, denn die aufmarschierten 28 000 überwiegend in konventioneller Kriegsführung ausgebildeten Soldaten sehen sich einer äußerst beweglichen, gut gerüsteten, mit dem Gelände bestens vertrauten Stammesguerilla gegenüber. Die lokalen Taliban, an deren Seite etwa 1500 Gesinnungsgenossen aus dem mittelasiatischen Raum und aus arabischen Ländern kämpfen sollen, sind nicht nur gut ausgebildet, kampfgestählt und mit einem Waffenkult aufgewachsen, sondern sie sind auch von ihrer Mission beseelt, ein islamistisches Regime in ganz Pakistan zu errichten. Zudem verfügen sie, wie die jüngsten Attacken in Lahore zeigen, über ebenso fanatische Verbündete in der entwickelten Provinz Punjab. »Die Taliban werden einen Guerillakrieg führen. Das Militär sollte sich darauf konzentrieren, die Kommandostrukturen zu erobern oder zu vernichten. Ansonsten knüpfen die Taliban ihr Netzwerk neu«, schätzte Masud Sharif, ein ehemaliger Geheimdienstchef Pakistans, ein. Innenminister Rehman Malik erklärte kurz vor Beginn der Offensive, die Terroristen müssten in ihrem »Kernland« gestoppt werden, und die ganze Nation sollte daran mitwirken, ihnen eine Niederlage zu bereiten.

Südwasiristan in der Nordwest-Grenzprovinz ist rund 6620 Quadratkilometer groß und wird von etwa 600 000 Menschen, überwiegend paschtunischen Stämmen angehörend, bevölkert. Seit August sind bereits 90 000 Südwasiren angesichts der verstärkten Bombardements geflohen. Über das Wochenende sollen 100 000 Menschen ihre Heimatgebiete verlassen und Unterkunft in Notlagern gefunden haben. Die Armee rechnet damit, dass der Flüchtlingsstrom auf 200 000 Menschen anwächst. In Südwasiristan wird auch die Führung von Al Qaida vermutet. Deshalb sieht Washingtons Konzept vor, auf beiden Seiten der afghanisch-pakistanischen Grenze in den Stammesgebieten die Schlupfwinkel der Qaida-Kader auszuheben und den Taliban den Boden zu entziehen. In diesem Sinne hat das afghanische Verteidungsministerium die pakistanische Militäroffensive begrüßt.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Oktober 2009


Kämpfe in Wasiristan

Der lange erwartete Großangriff der pakistanischen Armee hat begonnen

Von Knut Mellenthin **

Die Offensive der pakistanischen Streitkräfte gegen die Stammesmilizen in Südwasiristan stößt auf heftigen Widerstand. Zwei Divisionen der Armee, insgesamt rund 28000 Mann, begannen am Samstag morgen aus drei Richtungen mit dem Einmarsch in das Gebiet, das als Stützpunkt der Dachorganisation Tehrik-i-Taliban (TTP) gilt. Schätzungen über die Stärke der gut bewaffneten Rebellen, die überwiegend zum Stamm der Mehsud gehören, liegen zwischen 5000 und 10000. Hinzu kommen sollen angeblich 1000 bis 1500 ausländische Kämpfer, vor allem Usbeken.

Die politische und militärische Führung Pakistans hatte schon seit Anfang Juni immer wieder einen Großangriff gegen Südwasiristan als kurz bevorstehend angekündigt. Die Armee hatte sich aber zunächst darauf beschränkt, alle in das Gebiet führenden Straßen abzuriegeln und mutmaßliche Stellungen der Taliban zu bombardieren oder mit schwerer Artillerie zu beschießen. Die totale Blockade Südwasiristans hatte einen Zusammenbruch der Versorgung mit Lebensmitteln, Heizöl und Benzin zur Folge. Das trieb, zusammen mit den täglichen Luftangriffen, Zehntausende Bewohner zur Flucht. Die pakistanischen Behörden sind, anders als während des Feldzugs gegen Swat im Mai, diesmal mit der Veröffentlichung von Zahlen sehr zurückhaltend. Hilfsorganisationen rechnen mit derzeit schon über 150000 Flüchtlingen.

Südwasiristan ist rund 6500 Quadratkilometer groß. Normalerweise leben dort ungefähr eine halbe Mil­lion Menschen. Große Teile der Re­gion sind hochgebirgig, dünn besiedelt und schwer zugänglich. Nach Aussagen von Armeesprecher Generalmajor Athar Abbas soll die Offensive sich auf ein sichelförmiges Gebiet im Norden konzentrieren, das ungefähr die Hälfte der Fläche Südwasiristans ausmacht. Eine solche Begrenzung wird aber angesichts der Mobilität der Stammeskrieger und ihrer Verbundenheit untereinander kaum aufrechtzuerhalten sein.

Daher rechnen pakistanische Beobachter damit, daß die Bodenkämpfe sich auf Nordwasiristan und andere Teile der sogenannten Stammesgebiete ausweiten werden. Diese umfassen insgesamt über 27200 Quadratkilometer mit etwa 3,8 Millionen Einwohnern. Sie bilden unter dem Namen Bundesstaatlich Verwaltete Stammesgebiete (FATA) eine besondere politische Einheit außerhalb der vier Provinzen, in die Pakistan eingeteilt ist. In den FATA gilt nicht die Landesverfassung, sondern ein von den früheren britischen Kolonialherren übernommenes diskriminierendes Sonderrecht. Dieses erlaubt unter anderem die Anwendung von Kollektivstrafen. So können die Bewohner nicht nur für die Taten von Familienangehörigen, sondern auch von Mitgliedern ihres Clans oder Stammes zur Rechenschaft gezogen werden. Das kann durch Inhaftierung, aber auch durch Beschlagnahme ihres Eigentums und Zerstörung ihrer Häuser geschehen.

Die jetzt begonnene Offensive der Armee, die durch halbmilitärische regionale Polizeikräfte unterstützt wird, steht unter einem enormen Zeitdruck. Gegen Ende November, also in etwa sechs Wochen, wird mit dem Beginn der Winterschneefälle gerechnet. Dann werden viele Straßen und Wege in den Stammesgebieten für Militärfahrzeuge unpassierbar sein. Andererseits kalkuliert die Armeeführung darauf, daß die Winterkälte die Taliban aus ihren Höhlenverstecken in den Bergen treiben wird.

** Aus: junge Welt, 19. Oktober 2009


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