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Prediger will Regierung stürzen

Zehntausende bei Dauerkundgebung in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad

Von Knut Mellenthin *

Die regierungsfeindlichen Proteste in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad gehen weiter. Vor Zehntausenden Anhängern und Unterstützern forderte der Theologe und Verfassungsrechtler Muhammad Tahir-ul-Qadri am Mittwoch erneut den sofortigen Rücktritt der Regierung. Alle im Staatsdienst Stehenden rief er zur Gehorsamsverweigerung auf. Die Kundgebung in der Nähe des von starken Sicherheitskräften abgeriegelten Parlaments werde so lange fortgesetzt, bis die »korrupte«, »kriminelle« Regierung »davongejagt« sei, kündigte der 61jährige an.

Qadris »demokratische Revolution«, wie er selbst diese Massenaktion bezeichnet, hatte am Sonntag mittag mit dem Start eines Autokonvois im 300 Kilometer entfernten Lahore begonnen. Anfangs waren es nur etwa 7000 Menschen, die sich in Bewegung setzten. Unterwegs wuchs Qadris »Langer Marsch« immer mehr an. Tausende standen an Straßen und Kreuzungen, um den Zug zu begrüßen und nach pakistanischer Sitte mit Rosenblättern zu bewerfen. Entsprechend langsam bewegte sich die Karawane, mehrfach von Zwischenkundgebungen unterbrochen, so daß sie erst am frühen Dienstag morgen gegen zwei Uhr in Islamabad ankam. Dort hatten sich schon seit den Mittagsstunden mehrere tausend Menschen versammelt, um den Konvoi zu erwarten. Zwar nicht zwei Millionen, wie Qadri unerschütterlich vorhergesagt hatte, aber immerhin ungefähr 100000 Menschen waren es schließlich, die sich am Beginn des »Sit-ins« beteiligten, das zum Sturz der von der Volkspartei geleiteten Koalition führen soll.

Regierungspolitiker hatten zuvor heftig gegen Qadri und seinen »Langen Marsch« Stimmung gemacht und fast bis zuletzt offengehalten, ob sie die Kundgebung in der Hauptstadt mit Polizei- und Militärgewalt niederschlagen lassen würden. Potentielle Teilnehmer wurden sogar mit Hinweis auf die derzeit herrschende Kälte und auf die Gefahr von Schlangenbissen gewarnt, sie sollten doch lieber zu Hause bleiben.

Qadris Mobilisierungserfolg muß auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen, da er bis vor wenigen Wochen in Pakistan nahezu unbekannt war. Die von ihm gegründete Partei existiert zwar schon seit 1989, ist aber politisch unbedeutend. Qadri war einige Jahre lang Parlamentsabgeordneter, bevor er 2005 nach Kanada auswanderte. Von dort kehrte er erst im Dezember 2012 zurück. Im westlichen Ausland kennt man den Prediger der betont gemäßigten und toleranten sufistischen Form des Islam besser. Dazu hat seine im März 2010 veröffentlichte, 600 Seiten starke Fatwa – ein islamisches Rechtsgutachten – gegen den Terrorismus wesentlich beigetragen. Die scheinbar riesigen Finanzmittel, über die Qadri jetzt für seine Kampagne zu verfügen scheint, bestärken den Verdacht auf Hintermänner. Seine Gegner vermuten diese in westlichen Regierungen und vor allem im pakistanischen Militär, das es wieder einmal auf die Beseitigung der Zivilregierung abgesehen haben könnte.

In diesem Zusammenhang wird vielfach auch der Haftbefehl gegen Premierminister Raja Pervez Ashraf interpretiert, den der Oberste Gerichtshof am Dienstag erließ. Er bezieht sich auf Korruptions- und Bestechungsvorwürfe aus den Jahren 2008 bis 2011, als Ashraf Minister für Wasser und Energie war. Die Anschuldigungen waren schon bei seiner Wahl zum Regierungschef im Juni 2012 vollständig bekannt. Haftbefehl erging am Dienstag auch gegen 15 weitere in diesem Zusammenhang Beschuldigte, darunter mehrere ehemalige Staatssekretäre. Wirklich eingesperrt wurde bis Redaktionsschluß niemand.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 17. Januar 2013


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