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Rache für Bin Laden – 80 Tote in Pakistan

Doppelanschlag der Taliban in der Grenzregion zu Afghanistan / US-Geheimdienste verhörten Witwen des getöteten Al-Qaida-Chefs *

Mit einem Doppelanschlag im Nordwesten Pakistans haben die Taliban nach eigener Darstellung erstmals den Tod Osama bin Ladens gerächt.

In einem Ausbildungszentrum paramilitärischer Sicherheitskräfte in Shabqadar sprengten sich am Freitag zwei Selbstmordattentäter, mindestens 80 Menschen starben. Die jungen Paramilitärs standen gerade in Zivilkleidung in Gruppen zusammen und beluden mehrere Busse, die sie für zehn Tage Urlaub nach Hause bringen sollten, als der erste Attentäter auf einem Motorrad angefahren kam und sich sprengte. »Ich habe im Bus auf meine Kollegen gewartet, als jemand ›Gott ist groß‹ schrie«, sagte der verletzte Ahmad Ali der Nachrichtenagentur AFP. Dann habe es eine Explosion gegeben. Als Polizisten und Rettungskräfte herbeigeeilt kamen, habe ein weiterer Attentäter auf einem Motorrad ein zweites Blutbad angerichtet. Rund 140 Menschen wurden nach Angaben der Polizei bei den Anschlägen verletzt, Dutzende schwebten am Freitag noch in Lebensgefahr.

Es war der schlimmste Anschlag in Pakistan, seit im Juli 2010 bei einem Attentat ebenfalls im Nordwesten des Landes 105 Menschen starben. Shabqadar liegt am Rand der unruhigen Stammesgebiete in der Grenzregion zu Afghanistan.

Die pakistanischen Taliban bekannten sich zu den Anschlägen. »Das war die erste Rache für Osamas Märtyrertod«, sagte Talibansprecher Ehsanullah Ehsan der Agentur AFP am Telefon. »Macht euch auf größere Attacken in Pakistan und Afghanistan gefasst.«

Wie CNN unter Berufung auf pakistanische und US-Regierungsquellen berichtete, wurden indes drei Witwen Bin Ladens durch US-Geheimdienste befragt. Sie waren im Anwesen in Abbottabad festgenommen worden, wo Bin Laden starb. Die USA erhoffen sich Informationen über Al Qaida und die Rolle, die Bin Laden zuletzt spielte. Beim Verhör waren laut CNN auch Vertreter des pakistanischen Geheimdienstes ISI anwesend.

Die US-Spezialeinheit Navy Seals hat ihr Eindringen in das Anwesen von Bin Laden und dessen Tötung einem Medienbericht zufolge mit Helmkameras gefilmt. Die Aufnahmen zeigten, dass während des etwa 40-minütigen Einsatzes nur im Hof des Gebäudekomplexes ein Feuergefecht mit Bewohnern des Hauses stattgefunden habe, berichtete CBS unter Berufung auf US-Regierungsvertreter. Die dortigen Verteidiger seien bei dem Gefecht erschossen worden.

Dem Bericht zufolge sahen Soldaten der 25 Mann starken Einheit Bin Laden zum ersten Mal, als er auf eine Art Balkon im zweiten Stock des Wohnhauses trat. Sie hätten sofort das Feuer eröffnet, den Gesuchten aber verfehlt. Bin Laden habe sich daraufhin in ein Schlafzimmer zurückgezogen, berichtete CBS weiter. Das erste dort eintreffende Kommando riss demnach zunächst Bin Ladens Töchter zur Seite. Ein zweites Kommando habe eine Frau Bin Ladens aus der Schusslinie gezogen und ihn angeschossen. Ein drittes Kommando gab ihm den Angaben zufolge den tödlichen Kopfschuss.

Unterdessen hat erstmals ein US-Politiker geschildert, was auf den Fotos vom toten Osama bin Laden zu sehen ist. »Ziemlich grausam« seien die Aufnahmen vom Leichnam, sagte Republikaner-Senator James Inhofe dem Fernsehsender CNN.

Nach Berichten über ein Notizbuch Bin Ladens mit möglichen Anschlagszielen in den USA sagte ein Vertreter der US-Regierung der Nachrichtenagentur AFP, auch auf den in seinem Haus sichergestellten Datenträgern seien Überlegungen zu »groß angelegten Attentaten« gefunden worden. Dies erhärte die Überzeugung der USA, dass Bin Ladens Haus in Abbottabad »tatsächlich das Befehls- und Kontrollzentrum« Al Qaidas gewesen sei. Das Netzwerk habe Anschläge auf »Verkehrsmittel und die öffentliche Infrastruktur« der USA zu symbolischen Daten wie dem Unabhängigkeitstag am 4. Juli oder dem 11. September, dem Tag der Terroranschläge im Jahr 2001, geplant.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Mai 2011


Zwei Wahrheiten

Von Hans-Dieter Schütt **

US-Journalisten fordern verstärkt die Veröffentlichung jener Videos, die Bin Ladens Tötung dokumentieren. Washington weigert sich weiter. Zu abstoßend sind Bilder, bei denen der Krieg Regie führt? Dem Publikum nicht zumutbar, was Kameras im Gräuel dokumentieren?

Das moralische Bedenken der politischen und militärischen Führung wird mit einem Ton vorgetragen, der Pietätsbewusstsein erheischt. Als erledige sich mit diesem Ton der Verdacht, Osama bin Laden sei möglicherweise grausam liquidiert worden.

Kommt Zeit, kommt Durchschlupf. Bislang konnte ein Mensch nicht grausam genug zugerichtet sein, um irgendwann nicht doch öffentlich zu werden. Ob nun als Kronzeuge oder Kitzel. Mag der Aufklärungsdrang an verschlossenen Archiven bohren und bohren – er wird Durchbrüche schaffen, auch wenn er dabei auf seine eigene Tragik stößt: Wahrheit setzt sich kaum noch als bewusste Erfüllung eines ethischen Auftrags durch, sondern wohl eher als Objekt einer übermächtigen Unterhaltungsindustrie. Die Bilder sehen will, die keiner sehen kann. Und die deshalb Furore machen.

Bitteres wie verlässliches Phänomen aller Aufklärung: Etwas wird erhellt, aber etwas Dunkles kommt dabei auch immer ans Licht.

** Aus: Neues Deutschland, 14. Mai 2011 (Kommentar)


Führerloses Pakistan

Von Roland Etzel ***

Es ist die Schwere des Anschlags, die ihn heraushebt. Dass er als Rache für Bin Laden ausgegeben wird, ist höchstens zusätzliche Provokation und irreführend. Dieses jüngste Selbstmordattentat in Pakistan ist eines unter vielen in diesem Jahr und den Jahren davor. Es zeigt einmal mehr, dass Pakistan unter einer sich auflösenden Staatsstruktur Chaos und Terror ausgeliefert ist. Das eine bedingt das andere. Seit dem erzwungenen Abtritt des Präsidentengenerals Musharraf und der Ermordung von dessen Rivalin Benazir Bhutto stehen dem Land seit drei Jahren ein schwacher Premierminister Gilani und ein Präsident Zardari vor, der dieses Amt einzig seinem Status als Witwer Bhuttos zu verdanken hat.

Die USA sehen das in ihrer südlichen Aufmarschbasis gegen Afghanistan seit längerem mit Unbehagen. Um so erstaunlicher ist ihre Unfähigkeit zu einem politischen Konzept gegenüber Pakistan. Mit immer mehr Geldern zur Finanzierung des pakistanischen Rüstungshaushalts will das Pentagon die Generäle in Islamabad bei Laune halten – und brüskiert sie dann mit dem Coup gegen Bin Laden vor ihrer Haustür; lässt sie vor aller Welt als nicht weiter beachtungswürdige Deppen dastehen, die – das ist die Botschaft, die bei den 170 Millionen Pakistanis ankommt – wohl auch einem Enthauptungsschlag durch den Erzrivalen Indien nichts entgegenzusetzen hätten. Die Taliban – oder wer auch immer den Anschlag vom Freitag ausführte – haben diese Annahme blutig unterstrichen.

*** Aus: Neues Deutschland, 14. Mai 2011 (Kommentar)


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