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Protest mit Leichen

Pakistans Schiiten wehren sich gegen Terroranschläge und Morde

Von Knut Mellenthin *

Pakistans Schiiten beendeten am Montag ihre viertägigen Proteste, nachdem die Regierung ihre zentralen Forderungen erfüllt hatte. Die Aktionen hatten am Donnerstag begonnen, als bei einem Bombenanschlag in Quetta, der Hauptstadt der Provinz Belutschistan, über 90 Menschen getötet worden waren. 86 von ihnen gehörten zur überwiegend schiitischen Volksgruppe der Hazara. Nach vorherrschenden Theorien haben sie ostasiatische, hauptsächlich mongolische Wurzeln. Im Iran und in Afghanistan leben jeweils mehrere Millionen Hazara, in Pakistan etwa 600000. Insgesamt gehören 15 bis 20 Prozent der über 180 Millionen Pakistani zum schiitischen Zweig des Islam.

In den letzten Jahrzehnten wurden Tausende pakistanische Schiiten von extremistischen sunnitischen Fundamentalisten ermordet, die in ihnen »Ungläubige« sehen. Allein im vergangenen Jahr waren es über 400, mehr als jemals zuvor. Ziele der Anschläge sind Moscheen, religiöse und soziale Zentren, Busse mit Pilgerfahrern, aber auch Märkte und Einkaufsstraßen in überwiegend von Schiiten bewohnten Stadtvierteln. Zu dem Attentat in Quetta gab die um 1980 gegründete, seit 2001 verbotene Organisation Laschkar-e-Jhangwi, die schon viele Morde an Schiiten begangen hat, eine »Bekennererklärung« ab.

Seit Freitag hatten Hunderte Angehörige der Opfer und andere Hazara mit den 86 in weiße Leinentücher gehüllten Leichen bei Frostgraden ein ununterbrochenes Sit-in auf einer Hauptstraße von Quetta veranstaltet. Sie setzten sich damit in spektakulärer, offensiver Weise über den muslimischen Brauch hinweg, Tote umgehend zu bestatten. Eine spontan gebildete Protestleitung erklärte, daß man bis zur Erfüllung zweier Forderungen auf der Alamdar Road ausharren werde: Erstens sollte das Militär anstelle der für inkompetent und untätig gehaltenen Polizei die Kontrolle über Quetta unternehmen, um die schiitische Gemeinschaft zu schützen und die Mörder aufzuspüren. Zweitens wurde die Absetzung der Provinzregierung verlangt. Die Schiiten werfen ihr vor, nichts gegen die Terrorakte unternehmen zu haben. Am Sonntag kam Premierminister Raja Pervez Ashraf nach Quetta und sprach zu den Menschen auf der Alamdar Road. Anschließend traf er sich mit der Protestleitung und teilte ihr die Erfüllung ihrer Forderungen mit.

Der Protest in Quetta war von landesweiten Solidaritätsaktionen begleitet, die hauptsächlich von Schiiten getragen wurden. Am Montag war die größte Stadt Pakistans, Karatschi, weitgehend durch einen Streik lahmgelegt, den der zentrale Rat schiitischer Geistlicher für die gesamte Provinz Sindh ausgerufen hatte. In der 21-Millionen-Hafenstadt blieben die meisten Läden und Märkte geschlossen. Mehrere Hauptstraßen wurden stundenlang von Demonstranten blockiert.

Ebenfalls am Montag erreichte der von einem sufistischen Theologen organisierte »Lange Marsch« die Hauptstadt Islamabad. Der 61jährige Muhammad Tahir-ul-Qadri, Chef einer 1981 gegründeten politisch unbedeutenden Partei, nennt als Ziele des »Millionenmarsches« den Schutz der Menschenrechte, die Beseitigung der Armut, Rechtsstaatlichkeit und Verfassungsmäßigkeit sowie das Ende des Grundübels der pakistanischen Gesellschaft, der Korruption. Der »Marsch«, eigentlich ein Autokonvoi, begann am Sonntag in Lahore mit etwa 7000 Teilnehmern und wuchs während des Wegs auf mehrere zehntausend Menschen an. Tausende hatten sich in Dörfern, Städten und an Straßenkreuzungen versammelt, um dem Konvoi zuzujubeln.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 15. Januar 2013


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