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Auf dem Weg zu einem "neuen" Pakistan?

Bisherige Regierungspartei PPP muss um Machterhalt bangen

Von Hilmar König *

Islamabad lässt am Wahltag 600 000 Sicherheitsleute aufmarschieren, 20 000 der insgesamt 73 000 Wahllokale sind als besonders riskant markiert. Denn schon vor den Wahlen waren über 100 Vertreter politischer Parteien gezielten Aktionen von Taliban-Kommandos zum Opfer gefallen.

Bemerkenswert immerhin: Erstmals in der Geschichte des Landes hat eine Zivilregierung - gebildet von der Pakistanischen Volkspartei (PPP) und einigen Koalitionspartnern - die reguläre fünfjährige Amtszeit vollendet. In über 33 von 66 Jahren der staatlichen Selbstständigkeit hatte das Militär in Pakistan regiert.

In der letzten veröffentlichten Meinungsumfrage lagen indes zwei Oppositionsparteien fast gleichauf vorn: die Pakistan Muslimliga-N (PML-N) und die Gerechtigkeitsbewegung (PTI). Erst auf Platz 3 folgte die PPP.

Die PML-N wird von Nawaz Sharif geführt, der bereits zweimal Premier war, bevor er 1999 vom damaligen Armeechef Pervez Musharraf aus dem Amt gejagt und ins saudi-arabische Exil getrieben wurde. Sharif wird den religiös-konservativen Rechten zugerechnet, stand nicht auf der Todesliste der Taliban und betrieb seinen Wahlkampf deshalb ungehindert. Er werde von der Vorgängerregierung ein »Schlamassel« übernehmen, verkündete Sharif und meinte damit Korruption, Armut, Arbeitslosigkeit, schwache Infrastruktur, den häufigen Zusammenbruch der Energieversorgung, Inflation und Wirtschaftskrise. Er meinte den blutigen Zwist zwischen islamischen Sekten und andere zum Alltag gehörende, oft von Terroristen verübte Gewalt. Er meinte aber auch die Drohnenüberfälle der USA auf pakistanisches Territorium und die Kollaboration der Regierung mit Washington.

Den »riesigen Herausforderungen« will Sharif durch beschleunigte freie Marktwirtschaft, Privatisierungen, Kürzung der Staatsausgaben und ausländische Entwicklungshilfe begegnen. Gegenüber BBC kündigte er an, die Einbeziehung Pakistans in den Antiterrorkrieg der USA beenden zu wollen. Auf die Frage, ob er Militäroperationen gegen die Taliban und das Al-Qaida-Netzwerk einstellen würde, antwortete Sharif ausweichend, das sei eine »Frage von Details«.

Im Falle des Sieges der PML-N wäre eine Koalition mit rechten, islamischen und regional-nationalistischen Parteien wahrscheinlich. Denn eine absolute Mehrheit von 172 der insgesamt 342 Parlamentssitze dürfte keine der Parteien erreichen. Das gilt auch für die Pakistan Tehrik-e-Insaf (PTI - Gerechtigkeitsbewegung) des einstigen Kricket-Stars Imran Khan. Der 60-Jährige, der zu Wochenbeginn in Lahore einen schweren Unfall erlitt, richtete aus dem Krankenbett einen vom Fernsehen übertragenen Appell an die Wähler: »Es ist Zeit! Ihr entscheidet euch, ob ihr ein neues Pakistan haben wollt.« Gerechnet wird wegen Khans Sturz von einem Gabelstapler, der ihn auf eine Bühne hieven sollte, mit einer Sympathiewelle für die PTI.

Besonders viele jugendliche Wähler zeigen sich von Khan beeindruckt, der die bisherige Regierung wegen Inkompetenz und Steuerhinterziehung anprangert und verspricht, mit der Kraft eines Tsunamis die »Korruption in 90 Tagen auszurotten«. Auch er stand nicht auf der Abschussliste der Taliban. Sein »naya Pakistan« ist in aller Munde. Doch wie es aussehen soll, das neue Pakistan, das blieb in seinen Beschreibungen vage. Die Kolumnistin Kamila Hyat fragte in der Zeitung »The News«: Soll es ein friedliches, tolerantes Pakistan sein, wie es 1947 dem Staatsgründer Muhammad Ali Jinnah vorschwebte? Oder eine Gesellschaft, geprägt von Militanz, Extremismus und Terrorismus, in der die Taliban und andere islamistische Radikale diktieren, was Recht und Unrecht ist?

Die Volkspartei PPP zehrt noch immer vom Ruf ihrer 2007 ermordeten Chefin und Premierministerin Benazir Bhutto. Doch diesmal fehlt ihr eine Leitfigur. Benazirs Gatte Asif Ali Zardari durfte als Staatspräsident laut Verfassung im Wahlkampf nicht Flagge zeigen und ihr 24-jähriger Sohn Bilawal Bhutto Zardari, PPP-Generalsekretär, erschien kaum in der Öffentlichkeit. Da er ganz oben auf der Liste der Taliban stand, hielt ihn die Parteiführung im wahrsten Sinne des Wortes aus der Schusslinie. Aber auch eine Galionsfigur hätte das ramponierte Ansehen der säkular ausgerichteten Volkspartei kaum aufbessern können.

Die Stimmung in der Bevölkerung, besonders unter der Jugend, tendiert zu einem stärker »islamischen System«. Das wäre, so meinen viele, der richtige Weg aus dem »Schlamassel«. Im April bekundeten bei einer Umfrage 38 Prozent der Jugendlichen, sie bevorzugten die islamische Gesetzgebung Scharia. Deren Vertreter würden die Probleme des kleinen Mannes kennen. Saudi-Arabien betrachteten sie als Vorbild.

In diese Kerbe schlägt auch das Militär, das nach wie vor mächtig ist, auch wenn es sich in den vergangenen Jahren öffentlich zurückhielt. Es kontrolliert die Außen- und Sicherheitspolitik, den Geheimdienst ISI und das Verhältnis zu den USA. Es wacht über Atombomben und Trägerraketen, bestimmt die Beziehungen zu Afghanistan und zum Erzfeind Indien. Armeechef Ashfaq Pervez Kayani kritisierte die Politiker wegen ihrer »Selbsterhöhung« und des »Plünderns des nationalen Reichtums und der Ressourcen«. Er erklärte auch, der Islam, der die Basis der Gründung Pakistans gewesen sei, könne niemals von der Politik getrennt werden.

Wenn sich eine neue Regierung in Islamabad für ein »naya« Pakistan engagieren sollte - für welches also?

* Aus: neues deutschland, Samstag, 11. Mai 2013

Zahlen und Fakten: Das Wahlsystem

Mehr als 86 Millionen der über 180 Millionen Pakistaner sind dazu aufgerufen, am Sonnabend ihre Stimme abzugeben. Die pakistanischen Taliban (TTP) halten die Wahl allerdings für »unislamisch« und haben den Wahlkampf durch zahlreiche Anschläge zu stören versucht.

Vergeben werden zunächst 272 Sitze der Nationalversammlung in Islamabad. Weitere 60 Sitze sind für Frauen reserviert, zehn weitere für religiöse Minderheiten. Diese Sitze stehen am Sonnabend aber nicht zur Wahl, sondern werden danach von den Parteien je nach ihrem Abschneiden besetzt. Ein Beispiel: Sollte eine Partei bei der Wahl ein Drittel der 272 Sitze gewinnen, dürfte sie anschließend auch ein Drittel der Frauen- und ein Drittel der Minderheitensitze besetzen.

Gewählt wird nach dem Mehrheitswahlrecht: Wer in einem der 272 Wahlkreise am stärksten abschneidet, gewinnt dort den Sitz. Die Stimmen der Verlierer verfallen. 6850 Bewerbungen hat die Wahlkommission zugelassen. In dieser Zahl sind auch Kandidaten erfasst, die in mehr als einem Wahlkreis kandidieren und daher mehrfach gezählt werden. In Pakistan ist es nämlich erlaubt, in mehreren Wahlkreisen gleichzeitig zu kandidieren. Bei einem Mehrfachsieg muss sich der Kandidat für den Sitz eines Wahlkreises entscheiden, in den anderen Distrikten muss nachgewählt werden.

Neben der Nationalversammlung werden die Regionalparlamente der vier Provinzen Punjab, Sindh, Khyper-Pakhtunkhwa und Baluchistan gewählt. Seit der Wahl 2008 führt die Volkspartei PPP von Präsident Asif Ali Zardari eine Regierungskoalition mit wechselnden Partnern an. Die PPP hatte damals 30,8 Prozent der Stimmen gewonnen, gefolgt von der Muslim-Liga des heute 63-jährigen Expremiers Nawaz Sharif (PML-N), die auf 23,1 Prozent der Stimmen kam. Imran Khans PTI hatte die Wahl boykottiert. Die Wahlbeteiligung lag damals bei 43,7 Prozent. (dpa/nd)

(nd, 11.05.2013)




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