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Beispielloses Massaker

Pakistanische Anhänger des "Islamischen Staats" ermorden 132 Schüler. Islamabad will "Krieg gegen den Terror" ausweiten

Von Knut Mellenthin *

Pakistan steht immer noch unter dem Schock des Massakers in einer Schule in Peschawar, der Hauptstadt der an Afghanistan grenzenden nordwestlichen Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Sieben Terroristen, die am Dienstag in den Gebäudekomplex eingedrungen waren, ermordeten nach vorläufigen Angaben 132 Schüler und neun oder zehn Lehrer. Die Mehrheit der Opfer wurde durch Kopfschüsse aus nächster Nähe getötet. Es war das grausamste Blutbad in der Geschichte Pakistans und in der Art seiner Durchführung beispiellos. Die Regierung in Islamabad und das Militär scheinen trotz der Winterzeit, die für Bodenoperationen ungünstig ist, entschlossen, den Vorfall für eine Ausweitung des »Kriegs gegen den Terror« zu nutzen.

Die angegriffene Schule in der Drei-Millionen-Einwohner-Stadt Peschawar, die normalerweise von etwa 1.000 Kindern und Jugendlichen besucht wird, steht unter Regie des Militärs. Die meisten Schüler sind Angehörige von Soldaten und Offizieren. Angeblich schicken auch andere Pakistanis, die es sich leisten können, ihre Kinder gern auf diese Schulen, weil sie als überdurchschnittlich gut gelten und angesehen sind. Nach eigenen Angaben, die den bisherigen offiziellen Berichten entsprechen, konzentrierten sich die Angreifer darauf, die – wie sie es nannten – »erwachsenen« Schüler zu ermorden, während sie die »jungen« Schüler laufen ließen. Wo sie die Grenze zogen, ist unklar.

Ein Sprecher der hinter dem Überfall stehenden Gruppe Jamaat-ul-Ahrar, Muhammad Khorasani, veröffentlichte im Internet eine Erklärung, dass es sich um eine Vergeltung für die seit Mitte Juni laufenden Militäroperationen in Nordwasiristan gehandelt habe. Die verschiedenen Aufständischen, die in der Regel unter dem wenig aussagekräftigen Sammelbegriff »pakistanische Taliban« zusammengefasst werden, hatten bisher – vermutlich aus Schwäche – keine spektakulären Gegenaktionen durchgeführt. Dass sie nicht ewig passiv bleiben würden und dass vor allem das Risiko von Angriffen gegen sogenannte »weiche«, nichtmilitärische Ziele bestand, war offensichtlich. Es ist erstaunlich, dass die Schule trotzdem so gut wie ungeschützt war. Die Angreifer stiegen mitten am Tag, gegen halb elf Uhr, über eine Mauer, die das Schulgelände von einem angrenzenden Friedhof trennt.

Jamaat-ul-Ahrar hatte sich im August endgültig vom Taliban-Dachverband TTP losgesagt und einen Gefolgsschaftseid auf den Führer des im Irak und in Syrien aktiven »Islamischen Staates«, Abu Bakr Al-Baghdadi, abgelegt. Die für pakistanische Verhältnisse ungewöhnliche Brutalität, über 100 wehrlose Kinder und Jugendliche systematisch zu erschießen, könnte auf den zunehmenden internationalen Einfluss des IS zurückzuführen sein. Unter anderem der Streit um die Stellung zum IS, aber auch das härtere Vorgehen des Militärs haben dazu geführt, dass die TTP in Fraktionen zerfallen sind und faktisch als Zusammenhang nicht mehr existieren. Die afghanischen Taliban haben das Schulmassaker in einer ersten Stellungnahme scharf verurteilt.

Indessen gehen die Militäroperationen gegen Nordwasiristan, die im Oktober auf den Bezirk Khyber ausgeweitet wurden, der an Peschawar grenzt, trotz der Jahreszeit weiter. Normalerweise werden solche Offensiven vor Einbruch des Winters abgeschlossen. In Pakistan ist es seit Jahren üblich, vor allen großen Militäroperationen die gesamte Bevölkerung zum Verlassen des geplanten Kampfgebiets zu zwingen. Daher leben seit Juni ungefähr 900.000 Menschen aus Nordwasiristan in Notquartieren und Flüchtlingslagern, ohne dass es einen Zeitplan für ihre Rückkehr gibt. Die zwei wichtigsten Städte in der Region, Miramschah und Mir Ali, sind durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss völlig zerstört. Bodenoperationen fanden bisher nur in geringem Maß statt. Die Militärführung behauptet, dass in Nordwasiristan seit Juni mehr als 1.200 Aufständische getötet worden seien – bei eigenen Verlusten von weniger als 50 Mann.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 18. Dezember 2014


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