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Notstand ignoriert

Katastrophale Bedingungen für Hunderttausende Pakistaner, die wegen der Aufstandsbekämpfung zwangsausgesiedelt wurden

Von Knut Mellenthin *

In Pakistan findet eine humanitäre Katastrophe statt, die außerhalb des Landes kaum jemanden zu interessieren scheint. Schließlich dient das bewußt in Kauf genommene Elend von mehreren hunderttausend Menschen einer guten Sache, nämlich dem »Krieg gegen den Terror«. Die Zahl der aus Nordwasiristan vertriebenen Menschen hat am Wochenende nach amtlicher Zählung erstmals die Grenze von 900000 überschritten. Bis Sonnabend hatten die pakistanischen Behörden 910000 »internally displaced people« (IDPs) registriert, darunter 394000 Kinder. Diese »Binnenflüchtlinge« wurden gezwungen, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen, um optimale Voraussetzungen für eine Großoffensive gegen islamistische Aufständische und Stammeskrieger zu schaffen. Die vollständige Aussiedlung der Zivilbevölkerung zu Beginn jeder bedeutenderen Militäraktion ist eine weltweit vermutlich einmalige Methode, wird aber von den pakistanischen Streitkräften schon seit Jahren regelmäßig praktiziert. Die Dauer solcher Vertreibungen kann zwischen einigen Wochen und mehreren Monaten liegen. Die meisten Familien verlieren dabei den größten Teil ihrer Nutztiere, mindestens eine Ernte und oft auch ihren Besitz, weil die verlassenen Häuser von Soldaten und anderen Plünderern ausgeraubt werden.

Im gegenwärtigen Fall Nordwasiristans begann die erzwungene Massenflucht, von der pakistanischen Regierung scheinheilig als »Evakuierung« bezeichnet, am 15. Juni. Viele Vertriebene leben also schon seit drei oder vier Wochen in Notquartieren. Ein Ende der Militäroffensive »Zarb-i-Azb«, deren Name an das Schwert des Propheten Mohammed erinnert, ist nicht abzusehen. Die Streitkräfte beschränken sich bisher im wesentlichen darauf, mutmaßliche Stützpunkte der Aufständischen aus der Luft und durch Artillerie- und Panzerbeschuß zu zerstören. Außerdem hat die Armee die menschenleere Hauptstadt Miramschah, wo noch vor kurzem 100000 Einwohner lebten, weitgehend unter Kontrolle gebracht. Die sehr viel komplizierteren Bodenoperationen gegen die in den steilen, schwer zugänglichen Berggegenden verborgenen Rebellen haben aber noch nicht einmal begonnen. Die Militärführung behauptete am Wochenende, daß bisher 400 Aufständische, angeblich meist Ausländer, getötet worden seien. Die eigenen Verluste wurden mit 20 Soldaten angegeben.

Die Zahl von über 900000 amtlich registrierten IDPs, zu denen noch mindestens 70000 Menschen hinzuzurechnen sind, die nach Afghanistan geflohen sind, gibt Rätsel auf: Aufgrund der Statistiken bestand bisher kein Grund zur Annahme, daß Nordwasiristan wesentlich mehr als 400000 Einwohner hat. Neben der Möglichkeit falscher Angaben durch manche Familienoberhäupter ist nicht auszuschließen, daß auch Bewohner benachbarter Gebiete geflohen sind. Die meisten Vertriebenen leben gegenwärtig im Distrikt Bannu, der an Nordwasiristan grenzt. Bannu hat selbst nicht viel mehr als 900000 Einwohner und ist mit der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge völlig überfordert. Der Großteil von ihnen kampiert in Schulen, öffentlichen Gebäuden und privaten Notunterkünften – zum Teil mit 20 bis 25 Personen in einem Raum. Nur wenige Familien mochten in das einzige vom Staat eingerichtete Lager einziehen.

Pakistanische Medien berichten, daß aufgrund des Mangels an sauberem Wasser und adäquaten sanitären Anlagen sowie verstärkt durch die Sommerhitze Tausende von IDPs unter Magen-Darm-Infektionen und Erkrankungen der Atemwege leiden. Hauptsächlich betroffen seien Kinder, Frauen und alte Menschen. Unter den Kindern soll es sogar Fälle von Unterernährung geben. Soweit sich aus den Berichten schließen läßt, klappt die Organisation der Hilfsdienste noch schlechter als bei früheren »Massenevakuierungen«. Die von der konservativen PML-N geführte Regierung lehnt es trotzdem ausdrücklich ab, sich mit der Bitte um Unterstützung ans Ausland zu wenden.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 16. Juli 2014


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