Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Keine Heimat

Al-Dschasira enthüllt: Palästinensische Verhandlungsdelegation gab Forderung nach Rückkehr aller Flüchtlinge auf

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Die palästinensische Autonomiebehörde hat bei den Nahostfriedensverhandlungen of­fenbar auf das Recht aller palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Heimat verzichtet. Das geht aus den »Palästina-Papieren« hervor, die der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira seit Sonntag veröffentlicht. Danach erklärte Israel sich bereit, höchstens 5000 der etwa sechs Millionen palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr zu gestatten, allerdings nicht nach Israel, das 1948 auf dem Boden der vertriebenen Palästinenser errichtet wurde, sondern in die palästinensische Westbank. Das palästinensische Verhandlungsteam um Chefunterhändler Saeb Erekat hingegen forderte den Dokumenten zufolge das Rückkehrrecht für 150000 Palästinenser, ebenfalls sehr viel weniger als die Zahl derjenigen, denen nach dem Völkerrecht das Recht auf Rückkehr zusteht.

Anfang 2010 sprach Erekat gegenüber dem US-Diplomaten David Hale von einer »symbolischen Zahl« von Flüchtlingen, die seine Delegation den Israelis vorgeschlagen habe. Außerdem sollten nicht alle Flüchtlinge das Recht haben, über ein mögliches Friedensabkommen mit Israel abstimmen zu können. Bei einem Treffen im März 2007 erklärte Erekat dann gegenüber dem damaligen belgischen Außenminister Karel de Gucht, er habe »nie gesagt, daß die Diaspora abstimmen wird. Das wird es nicht geben. Das Referendum wird für die Palästinenser in Gaza, der Westbank und Ostjerusalem sein.« Weder im Libanon, wo derzeit 400000 palästinensische Flüchtlinge leben, noch in Jordanien, wo ihre Zahl sogar 1,9 Millionen beträgt, werde es ein Referendum geben. Bei einem Treffen mit dem US-Sondervermittler George Mitchell im Oktober 2009 sagte der Unterhändler, die Palästinenser müßten einsehen, »daß fünf Millionen Flüchtlinge nicht zurückkehren werden«. Die endgültige Zahl der Rückkehrer sei Verhandlungssache und zudem davon abhängig, »wieviele ihr eigener Staat jährlich aufnehmen kann«. Eine Rückkehr nach Israel wird damit auch vom palästinensischen Verhandlungsteam nicht mehr gefordert, obwohl klar ist, daß ein zukünftiger palästinensischer Staat nicht in der Lage sein wird, alle Palästinenser unterzubringen, die zurückkehren möchten.

Die islamische Hamas reagierte mit Empörung auf die Enthüllungen des Fernsehsenders. Palästinensische Flüchtlinge in aller Welt sollten gegen die Haltung des Verhandlungsteams um Präsident Mahmud Abbas protestieren, erklärte der Nachrichtenagentur dapd zufolge das führende Hamas-Mitglied Mahmud Sahar am Montag abend.

Während das palästinensische Verhandlungsteam seinen ursprünglichen Auftrag, die Rechte der Flüchtlinge zu vertreten, aufgegeben hat, ließ die israelische Seite keinen Zweifel daran, daß sie das Rückkehrrecht der Flüchtlinge unter keinen Umständen anerkennen werde. Bei einem Treffen Anfang 2008 erklärte die damalige israelische Außenministerin Tzipi Livni, der palästinensische Staat werde »die Antwort für alle Palästinenser sein, Flüchtlinge inklusive«.

Zwischen 1947 und 1949 wurden etwa 800000 Palästinenser von zionistischen Milizen aus ihrer palästinensischen Heimat, die auch das heutige Israel umfaßt, vertrieben. Ihnen und ihren Nachfahren, heute bis zu sechs Millionen Menschen weltweit, garantiert das Völkerrecht das Recht auf Rückkehr zum »frühestmöglichen Zeitpunkt«. Sollten sie nicht zurückkehren wollen oder können, steht ihnen »Wiedergutmachung für ihr verlorenes oder zerstörtes Eigentum« zu. Zuständig für solche Zahlungen sind die für die Vertreibung »verantwortlichen Regierungen und Behörden«. Die US-Unterhändler unterstützen trotzdem die israelische Seite, die eine Verantwortung für die palästinensischen Flüchtlinge ablehnt. US-Außenministerin Hillary Clinton brachte kürzlich sogar ins Gespräch, Argentinien und Chile könnten die Palästinenser aufnehmen.

transparency.aljazeera.net

* Aus: junge Welt, 26. Januar 2011


Hamas: "Historische Katastrophe"

Weitere Palästina-Dokumente veröffentlicht **

Die Palästinenserführung gerät wegen brisanter Einzelheiten über ihre Kompromissbereitschaft bei den Nahost-Friedensverhandlungen immer weiter unter Rechtfertigungszwang.

Der arabische Fernsehsender Al-Dschasira und die britische Tageszeitung »Guardian« veröffentlichten am Dienstag (25. Jan.) weitere der rund 1600 Geheimdokumente. Sie zeigen eine Bereitschaft der palästinensischen Unterhändler zu weitreichenden Zugeständnissen und vermitteln den Eindruck, dass sich die palästinensischen Unterhändler damit abgefunden hatten, dass nur 10 000 der rund 4,8 Millionen offiziell registrierten palästinensischen Flüchtlinge und Vertriebenen nach Israel zurückkehren dürfen. Israels damaliger Ministerpräsident Ehud Olmert soll ein entsprechendes Angebot unterbreitet haben.

Der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat bezeichnete Berichte über die Bereitschaft zu Zugeständnissen in der Flüchtlingsfrage als falsch. Erekat warf Al-Dschasira vor, der Sender hetze gegen die Autonomiebehörde mit dem Ziel, sie zu zerstören. »Die Veröffentlichung schwächt die Autonomiebehörde und schadet ihrer Glaubwürdigkeit«, sagte der palästinensische Kommentator Hani Masri. Die im Gaza-Streifen herrschende radikalislamische Hamas bezeichnete die veröffentlichten »Palästina-Dokumente« am Dienstag als »historische Katastrophe«. Die Unterhändler seien bereit, das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge aufzugeben, sagte Hamas-Sprecher Fausi Barhum.

Die US-Regierung sieht kurzfristigen Schaden für den Friedensprozess. »Wir leugnen nicht, dass diese Veröffentlichung zumindest eine Zeit lang die Situation nur noch schwieriger machen wird, als sie schon war«, sagte Außenamtssprecher Philip Crowley. Die USA arbeiteten weiter daran, Israelis und Palästinenser zur Wiederaufnahme der seit September auf Eis gelegten Gespräche zu bringen.

Israelische Medien berichteten am Dienstag (25. Jan.) ausführlich über Kompromissvorschläge beider Seiten während der Nahost-Verhandlungen 2008. Der damalige Generaldirektor des israelischen Außenministeriums, Aharon Abramowitsch, sagte dem israelischen Rundfunk, die Verhandlungen während Olmerts seien tiefschürfend und ernsthaft gewesen. Sie hätten kurz vor dem Abschluss gestanden.

** Aus: Neues Deutschland, 26. Januar 2011


Allein unter Brüdern

Von Roland Etzel ***

Diejenigen, die ihn schon immer des Verrats ziehen, sehen sich bestätigt: Palästinenser-Präsident Abbas hat das eigene Volk hintergangen – indem er bei den Verhandlungen mit Israel Ost-Jerusalem opfern, auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge verzichten, israelische Siedlungen auf der Westbank akzeptieren wollte ... In nicht wenigen arabischen Ländern wird Abbas nun publizistisch gesteinigt. Sie sind ziemlich identisch mit jenen, deren Führungen – ob in Kairo, Kuwait oder Tripolis – das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge lediglich noch an diversen Gedenktagen ebenso wortreich wie tatenlos beklagen.

Zunehmend allein gelassen von den arabischen »Brüdern« und den Großmächten hat Abbas versucht, Realpolitik zu machen; ein Mann, dem das Charisma seines Vorgängers völlig fehlt und der hilflos mit ansehen muss, wie die politische Spaltung des eigenen Volkes – hier Hamas, da PLO – sich immer mehr verfestigt. Wie hätte der also schon in der Provinz Gescheiterte auf der Weltbühne mehr leisten können?

Ein Präsident hält seine politische Strategie dem eigenen Volke gegenüber nicht für vermittelbar. Das ist eine Tragik, nicht nur für ihn, sondern vor allem für die wichtigsten Angelegenheiten des palästinensischen Volkes. Und nur diesem steht es zu, zu entscheiden, ob Abbas' Handeln nur unklug oder schon unverzeihlich ist. Vom verbrecherischen Verhalten Israels nimmt dies nichts weg. Das aber steht auf einem anderen Blatt.

*** Aus: Neues Deutschland, 26. Januar 2011 (Kommentar)


Zurück zur Palästina-Seite

Zurück zur Homepage