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"Die Einheit ist unsere einzige Chance"

Jenseits von Hamas und Fatah: Volksfront zur Befreiung Palästinas will Linke zusammenführen. Ein Gespräch mit Abu Khalil


Abu Khalil (Pseudonym) ist Professor der Geschichte und stammt aus Al-Bazza, das heute wenige Kilometer südlich der libanesisch-israelischen Grenze liegt. Als Jugendlicher engagierte er sich in der Arabischen Nationalen Bewegung, und schloß sich später der Volksfront zur Befreiung von Palästina (PFLP) unter George Habash an.

Vertreter von Hamas und Fatah wollen sich heute zu Gesprächen treffen. Geben Sie der Versöhnung eine Chance?

Als PFLP fordern wir beide Seiten seit 2007 auf, sich wieder zu versöhnen. Die palästinensische Einheit ist die einzige Chance, angesichts der Tatsache, daß Israel täglich neues Land konfisziert und Tausende neuer Wohnungen baut und die Siedlungen ausdehnt. Die Palästinenser haben nur eine Option, und das ist, vereint vorzugehen. Fraglich ist, ob die Amerikaner überhaupt wollen, daß Hamas und Fatah sich einigen. Bisher haben sie immer ihr Veto eingelegt. Und Israel lehnt es ab, daß die Hamas Mitglied der PLO wird. Wir haben also ein innerpalästinensisches Problem und die Probleme, die uns von außen aufgezwungen werden. Ob es gelingt, die Hindernisse zu überwinden? Besonders im Bereich der Sicherheitskräfte ist es schwierig. Die Frage ist, wer kontrolliert die PLO-Sicherheitskräfte – Hamas oder Fatah? Derzeit hat das Kommando ein amerikanischer General.

Sie meinen General Dayton?

Genau, General Dayton, der sich in der Westbank aufführt wie ein Pfau. Er bringt die Soldaten und Polizisten für fünf, sechs Monate nach Amman, jeweils 500 von ihnen, wo sie ausgebildet werden. Gehirnwäsche nenne ich das. Sie lernen, daß ihr Feind nicht Mossad, Shabak oder Shin Bet heißt, sie lernen, daß ihr Feind die palästinensischen Organisationen sind, die mit der offiziellen Linie der Autonomiebehörde (PA) nicht übereinstimmen. Dann kommen sie zurück in die Westbank und greifen uns an.

Die PFLP wird von den palästinensischen Sicherheitskräften verfolgt?

Ja, wenn auch nicht so heftig wie die Hamas, aber wir sind genauso Ziel ihrer Angriffe wie andere. Jeder, der nicht die Meinung der PA teilt, wird zum Ziel. Wir sollen zu Hause bleiben, essen, heiraten, Kinder kriegen und vielleicht noch ein kleines Auto kaufen irgendwann. Sie wollen uns umdrehen, unsere innere Energie, unseren Widerstand, unsere Leidenschaft für den Kampf um Freiheit und unsere selbstbestimmte Zukunft einfrieren.

Die EU zahlt viel Geld für diese Sicherheitskräfte, aber auch für andere Projekte der Palästinenser.

Das Geld aus Europa geht an die Palästinensische Autonomiebehörde, nicht an die Palästinenser. Damit unterstützen sie Mahmud Abbas, der die israelische Politik gegen die Palästinenser nicht mehr grundsätzlich kritisiert. Aus Protest dagegen haben wir auch unsere Aktivitäten in der PLO ausgesetzt.

Wie könnte die europäische Politik die innerpalästinensische Versöhnung unterstützen?

Europa denkt zur Zeit vor allem über seine eigenen Probleme nach, über die Wirtschaftskrise. Die Europäer wollen zwar eine Stabilisierung der Region, aber bedauerlicherweise kommt Israel auch bei ihnen immer zuerst, nicht die Palästinenser. Wir sähen es gern, wenn die EU auf Augenhöhe mit den USA ihre Politik hier in der Region entwickelte, wenn sie sich mehr für Gerechtigkeit und einen umfassenden Frieden einsetzte. Europa sollte Israel mehr und dauerhaft unter Druck setzen, damit es den Golan, die Westbank und den Gazastreifen verläßt.

Selbst wenn die Besatzungstruppen gehen, bleiben die Siedlungen und die Siedler.

Es muß ein Weg gefunden werden, damit diese Leute wieder dahin zurückkehren, was sie Israel nennen. Für uns als PFLP gibt es keine Zwei-Staaten-Lösung, Israel nimmt alles und gibt uns nichts. Da existiert die Enklave Gaza mit 1,5 Millionen Menschen und die Westbank, die von Siedlerstraßen in alle Richtungen durchkreuzt wird. Den Palästinensern lassen sie ein paar Quadratkilometer mal hier, mal dort. Das kann man doch noch nicht mal ein »Gebilde« nennen. Und jetzt sagen sie noch, Finger weg von Jerusalem, vergeßt das Rückkehrrecht – das sollen wir akzeptieren? Darum brauchen wir so dringend die palästinensische Einheit, um eine neue Linie für den Kampf um unsere Rechte zu finden.

Fühlen Sie sich als Palästinenser von den arabischen Staaten alleingelassen?

Nein, nein, die Völker der arabischen Familie werden sich erheben. Nicht jetzt, aber in zehn, 20 Jahren. Erinnern Sie sich an das Osmanische Reich und die Kreuzzüge. Sie kamen und haben uns unter dem Vorwand einer Religion kolonialisiert. Natürlich hatten sie politische Ziele, und sie sind wieder abgezogen. Wir als PFLP sind Marxisten. Wenn man uns in eine Einbahnstraße schickt, an deren Ende ein Abgrund ist, werden wir einen neuen Weg finden, um unser Ziel zu erreichen.

Ist ein solcher neuer Weg in Sicht?

Wir arbeiten an einer dritten Option für die Palästinenser, jenseits von Hamas und Fatah wollen wir die Linke sammeln. PFLP, die Demokratische Front (DFLP) und die Kommunistische Partei, die heute Volkspartei heißt. Das ist für uns die dritte Option.

Nicht nur unsere Häuser, auch unsere Hirne sollen zerstört werden, aber das wird ihnen nicht gelingen. Wir vergessen nicht und wir werden weiter kämpfen. Für das Recht auf Rückkehr und, als PFLP, für einen säkularen und demokratischen Staat in Palästina. Und wer von den Juden mit uns leben möchte, ist dabei. Die Zukunft wird zeigen, daß es keinen anderen Weg gibt.

Interview: Karin Leukefeld, Damaskus

* Aus: junge Welt, 24. November 2010

Hintergrund: Daytons Armee

Generalleutnant Keith Dayton ist der Leiter des US-Sicherheitskoordinationsteams (USSC) für Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete. Der Posten wurde 2005 unter US-Präsident George W. Bush eingerichtet mit dem Auftrag, die Sicherheitskräfte der palästinensischen Autonomiebehörde (PNSF) zu reformieren. Das USSC bildet und rüstet aus und schult im Umgang mit Recht und Gesetz in der Westbank. Ziel ist, die palästinensischen Sicherheitskräfte so auszubilden, daß eine Anwesenheit israelischer Besatzungstruppen nicht mehr »erforderlich« scheint (um die Sicherheit Israels zu gewährleisten). Nach dem Sieg der Hamas bei den Wahlen 2006 konzentrierte das USSC sich auf die Ausbildung der Präsidentschaftsgarden von Mahmud Abbas, die die Grenzen des Gazastreifens kontrollierten. Seit 2007 engagiert sich das USSC ausschließlich in der Westbank zugunsten der Autonomiebehörde und von Präsident Mahmud Abbas. Ziel ist die Ausbildung von 4700 Kämpfern in zehn Bataillonen, 1,3 Milliarden US-Dollar soll das Programm kosten. Teil des Trainings ist ein mehrmonatiger Kurs an der internationalen Polizeischule in Amman (Jordanien). Die neuen Sicherheitskräfte – von Palästinensern auch als »Daytons Armee« bezeichnet – koordinieren ihre Maßnahmen mit der israelischen Armee in der Westbank, insbesondere gegen die »illegale« Hamas. Bei einem Vortrag vor dem Washingtoner Institut für Nahostpolitik, einer Israel nahestehenden Einrichtung, sagte Generalleutnant Dayton, es sei ihm gelungen, mit dem Programm einen »neuen« palästinensischen Menschen zu schaffen. Israelische Kommandeure hätten sich so beeindruckt gezeigt von dem Vorgehen der neuen Truppe gegen Hamas und Islamischer Dschihad, daß sie ihn gefragt hätten, wie schnell und wie viele dieser »neuen Palästinenser« er erzeugen könne.
(kl)

* Aus: junge Welt, 24. November 2010




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