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Vergesst die zwei Staaten in Palästina

DOKUMENT DER WOCHE: Es ist an der Zeit, das endlose Argumentieren aufzugeben, wer im Nahen Osten etwas angeboten, und wer wen zurückgewiesen hat.

Noch gilt die Gründung eines Staates der Palästinenser als allein gangbarer Weg, um den palästinensisch-israelischen Konflikt einzudämmen. Immer vernehmlicher werden jedoch Optionen vorgebracht, die einen multikulturellen, multikonfessionellen gemeinsamen Staat von Israelis und Palästinensern befürworten. Auch der Literaturprofessor Saree Makdisi - er lehrt an der University of California, Los Angeles (UCLA) und ist Autor des Buches Palestine Inside Out: An Everyday Occupation - kann solchen Überlegungen etwas abgewinnen. Wir dokumentieren seinen jüngst von Counterpunch publizierten Essay.



Von Saree Makdisi *

Es ist an der Zeit, das endlose Argumentieren aufzugeben, wer im Nahen Osten etwas angeboten, und wer wen zurückgewiesen hat. Haltet euch nicht länger mit der Frage auf, ob der Oslo-Prozess Anfang der neunziger Jahre starb, als Yassir Arafat vom Verhandlungstisch aufstand, oder ob es Ariel Sharons Spaziergang auf dem Jerusalemer Tempelberg im September 2000 war, der dies verursachte.

All dies abstrahiert von den Fakten vor Ort. Und deren wichtigster besteht darin, dass - nach vier Jahrzehnten intensiver jüdischer Besiedlung in den mit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 eroberten Gebieten - Israel unwiderruflich das Land, auf dem ein palästinensischer Staat hätte entstehen können oder entstehen soll, fest im Griff hat. 60 Jahre, nachdem Israel geschaffen und Palästina zerstört wurde, sind wir dort, wo wir begonnen haben: Zwei Bevölkerungen bewohnen ein Stück Land. Und wenn das Land nicht geteilt werden kann, muss es gemeinsam gleichmäßig und gleichwertig untereinander geteilt werden.

Die Siedler der Westbank werden sich in zwölf Jahren auf eine Million verdoppeln

Ich bin mir im klaren darüber, damit eine Position zu vertreten, die viele Amerikaner überrascht. Wenn jahrelang am Prinzip Zweistaatenlösung festgehalten und stetig das Gefühl vermittelt wurde, der Konflikt sei nur dadurch zu lösen, dann ist es schwierig, eine solche Idee als undurchführbar aufzugeben. Aber sie ist undurchführbar. Ein von den Vereinten Nationen veröffentlichter Bericht über die Koordination humanitärer Angelegenheiten fand heraus, dass 40 Prozent der Westbank inzwischen von israelischer Infrastruktur - von Straßen, Siedlungen und Militärbasen - durchzogen und damit für die Palästinenser unzugänglich sind. Israel hat systematisch die Reste des verbliebenen palästinensischen Territoriums durch Dutzende von Enklaven auseinander gebrochen und von der Außenwelt durch Zonen abgeschnitten, die es allein kontrolliert - inklusive 612 Kontrollpunkten und Straßensperren!

Nach dem UN-Report nähert sich zudem die Zahl jüdischer Siedler einer halben Million und wächst weiter - die Wachstumsrate dieser Klientel ist drei mal größer als die der übrigen israelischen Bevölkerung. Wer eine Hochrechnung riskiert, kommt zu dem Resultat, dass sich die Siedlerbevölkerung der Westbank in zwölf Jahren auf eine Million verdoppeln wird. Viele aus dieser Spezies sind schwer bewaffnet und ideologisch motiviert. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie freiwillig das Land verlassen, von dem sie behaupten, Gott habe es ihnen gegeben. Allein diese Fakten machen den Status des Friedensprozesses zu einer rein akademischen Frage.

Zu keiner Zeit hat Israel, seit die Verhandlungen mit der PLO in den frühen neunziger Jahren begannen, den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten suspendiert - damit wurde das Völkerrecht schwer verletzt. Kurz vor dem Gipfel in Annapolis (USA) im November 2007 wurden weitere Enteignungen von palästinensischem Besitz in der Westbank angekündigt; dann folgte die Mitteilung, dass die Har Homa-Siedlung um weitere Wohneinheiten erweitert werden soll wie Dutzende andere Camps auch. Dabei expandieren die Israelis in den besetzten Gebieten nicht etwa deshalb, weil sie den Raum für sich brauchen. Sie siedeln und handeln in dem festen Glauben, dass diese Gebiete ihnen gehören, weil sie Juden sind. "Das Land Israel gehört der Nation von Israel - und nur der Nation Israel", erklärt die Moledet-Partei, eine der Gruppierungen im nationalreligiösen Block, der über eine starke Präsenz in der Knesset verfügt.

Kein Volk verschwand jemals nur deshalb, weil ein anderes dies wünschte

Moledets Position ist kaum weit entfernt von der Ehud Olmerts. Obgleich der heute sagt, er glaube theoretisch, dass Israel den Gazastreifens und die Teile der Westbank aufgeben sollte, die von Palästinensern dicht bewohnt seien, meinte dieser Premier noch im Jahr 2006, dass "jeder Hügel in Samaria und jedes Tal in Judäa ein Teil des historischen Heimatlandes" sei, und man an den historischen Rechten des israelischen Volkes auf das ganze Land Israel festhalten werde.

Judäa und Samaria: die alten biblischen Bezeichnungen werden von israelischen Offiziellen noch immer für die Westbank benutzt. Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Oslo-Prozess, von dem angenommen wurde, er führe zu einer Zwei-Staaten-Lösung, zeigen Karten in israelischen Schulbüchern weiter nicht die "Westbank" an, sondern "Judäa und Samaria", die als integraler Teil Israels gekennzeichnet sind. - Wie viel Raum gibt es bei einer solchen Projektion jüdischer Ansprüche noch für die Palästinenser auf ihr Land? Doch wohl keinen. Bestenfalls werden sie als "demographisches Problem" betrachtet.

Eine derartige Sicht ist keineswegs neu. Israel wurde 1948 als jüdischer Staat gegründet, indem eine vorsätzlich geplante und zwangsweise Vertreibung von so viel einheimischer palästinensischer Bevölkerung wie möglich stattfand. Nicht zufällig sprechen die Palästinenser seither von der Nakba - der Katastrophe schlechthin. Der israelische Historiker Benny Morris schreibt unumwunden: "Ein jüdischer Staat wäre nicht ohne die Vertreibung von 700.000 Palästinensern entstanden. Es gab keine andere Wahl ..." Es habe sich um einen "jener Umstände in der Geschichte gehandelt, die ethnische Säuberungen rechtfertigten".

Von den Palästinensern als "Problem" zu reden, das entfernt werden muss, geht auf die Zeit vor 1948 zurück. Es war von dem Augenblick an, als die zionistische Bewegung - vom britischen Empire unterstützt - 1917 die Gründung eines jüdischen Staates in einer Region in Gang setzte, in der eine vorwiegend nicht-jüdische Bevölkerung lebte. Edwin Montagu, das einzige jüdische Mitglied im damaligen britischen Kabinett, war strikt gegen ein solches Projekt, das er als ungerecht empfand. Die Diplomaten Henry King und Charles Crane, von US-Präsident Wilson zu einer Fact-Finding-Mission nach Palästina geschickt, kamen zu keinem anderen Urteil: Ein solcher Staat wäre nur durch enorme Gewaltanwendung möglich. Sie warnten: Vorhaben, bei deren Vollzug Armeen gebraucht werden, sind überflüssig - sie hinterlassen nichts als schwerwiegendes Unrecht.

Und Gewalt wurde gebraucht. Entfacht hat diesen Konflikt von Anfang das exklusive zionistische Verständnis vom Anspruch auf ein "historisches Heimatland". Gab es auch palästinensische Gewalt? Ja! War sie immer gerechtfertigt? Natürlich nicht, aber kommt es darauf an, wenn dir jemand erzählt, dass es für dich auf deinem eigenen Land keinen Platz mehr gibt - dass allein schon deine Existenz ein "Problem" ist. Kein Volk der Geschichte verschwand jemals nur deshalb weg, weil ein anderes Volk dies wünschte.

Die Gewalt wird enden, ein gerechter Frieden wird nur dann kommen, wenn beiden Seiten klar ist, dass der andere bleibt. Viele Palästinenser haben diese Prämisse akzeptiert und sind nach meinem Eindruck bereit, die Idee eines unabhängigen palästinensischen Staates aufzugeben und sich der Vorstellung von einem einzigen, demokratischen, säkularen und multikulturellen Staat zu nähern, den sie sich mit israelischen Juden teilen .

Für die meisten Israelis ist eine solche Projektion bisher unannehmbar, sie zögern, die Idee eines "jüdischen Staates" aufzugeben und die Realität anzuerkennen, dass Israel nie exklusiv jüdisch und die Idee, wonach Mitglieder der einen Volksgruppe privilegierter seien als die der anderen, stets undemokratisch und unfair war. Beim besten Willen lässt sich Israel nicht als wirkliche Demokratie beurteilen: Vielmehr handelt es sich um einen ethno-religiösen Staat, der versucht, die multikulturelle Geschichte der Region, in der er gegründet wurde, zu verachten.

Von daher kann der Konflikt mit den Palästinensern nur gelöst werden, wenn die israelischen Juden auf ihre Privilegien verzichten und das Rückkehrrecht der aus ihren Häusern vertriebenen Palästinensern anerkennen. Was sie dafür bekommen, wäre die Möglichkeit, sicher zu leben, mit den Palästinensern zusammen, statt sie weiter zu bekämpfen.

Es gibt dazu keine Alternative. Wie Ehud Olmert selbst vor kurzem warnte, geben immer mehr Palästinenser ihrem Kampf eine andere Richtung - sie halten sich an das Vorbild Südafrikas, sie wollen gleiche Rechte für alle Bürger - unabhängig von Herkunft, Ethnie und Religion - in einem einzigen Staat. Das ist ein viel sauberer Kampf und ein populärerer dazu - ich kann dem nur zustimmen.

Zwischentitel von der Redaktion Übersetzung aus dem Englischen: Ellen Rohlfs

* Aus: Wochenzeitung "Freitag", 20. Juni 2008 (Rubrik: "Dokument der Woche")


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