Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

In Gaza droht eine Explosion

Gespräch mit Abdallah Frangi, dem scheidenden palästinensischen Generaldelegierten in der Bundesrepublik*

Seit 1993 war Abdallah Frangi Generaldelegierter Palästinas in der Bundesrepublik Deutschland. Inzwischen hat der 61-Jährige als Chef der Fatah-Bewegung im Gaza-Streifen eine verantwortungsvolle und schwierige Aufgabe in der Heimat übernommen. Mit ihm sprach Olaf Standke vom "Neuen Deutschland".

ND: Mit der Eröffnung des Grenzüberganges Rafah hat die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen ein weiteres Stück Freiheit gewonnen. Wie schätzen Sie die Fortschritte seit Abzug der israelischen Truppen ein?

Frangi: Natürlich war die Freude über den Abzug groß, und wir freuen uns auch über den Übergang Rafah. Aber insgesamt hat sich zu wenig geändert, darüber können gewisse Erleichterungen für die Palästinenser bei der Ein- und Ausreise nicht hinwegtäuschen. Israel beansprucht weiter die Hoheit über Luftraum, Land und Meer. Sie überwachen auch den Grenzverkehr weiter. Wir sind noch weit davon entfernt, gleichberechtigte Partner zu sein.

Eröffnen sich mit Rafah nicht neue wirtschaftliche Chancen?

Im Prinzip ja. Doch auch Wirtschaftstransporte nach Ägypten brauchen die Erlaubnis Israels. Der Ex- und Import von Waren unterliegt der direkten israelischen Kontrolle. Das ist nicht gut für die wirtschaftliche Entwicklung. Ohne völlige Handelsfreizügigkeit für die Palästinenser und ein Sicherheitsabkommen zwischen Westjordanland und Gaza-Streifen wird es schwerer, Investoren zu finden. Wirtschaft und Handel brauchen ein Klima des Friedens. Doch die Israelis behandeln uns letztlich weiterhin als besetztes Land.

Wie steht es um den Wiederaufbau des Flughafens in Gaza?

Wir wollen den Flughafen wieder instand setzen. Aber Israel gibt bisher kein grünes Licht. Auch deshalb brauchen wir die Europäer, ihre Anwesenheit kann als Katalysator zur Lösung der Probleme beitragen. Auch die USA spüren, dass sich etwas bewegen muss.

Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit im Gaza-Streifen?

Sie beträgt über 70 Prozent. Es ist schlimm, wenn man junge Leute sieht, die seit Jahren mit dem Studium fertig sind, arbeiten wollen, ihre Familien ernähren müssen, aber keine Arbeit finden, obwohl so viel getan werden müsste. Diesen Zustand kann niemand auf Dauer ertragen. Zudem sehen die Palästinenser: Israel hat sich aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen, um so viel wie möglich vom Westjordanland zu annektieren. Ich erlebe diese Perspektivlosigkeit hautnah und kann nur warnen: Hält dieser Zustand an, führt er zu einer Explosion.

Sie befürchten ein Erstarken der radikal-islamistischen Kräfte?

Ich erlebe es schon jetzt Tag für Tag: Hamas ist der Gewinner dieser Entwicklung. Und der Zustrom wird wachsen, wenn die Autonomiebehörde keine Erfolge aufweisen kann. Die Menschen wollen Arbeit, Frieden, Freizügigkeit. Daran werden wir gemessen.

Auch bei den Wahlen im Januar.

Mit Sicherheit. Hamas ist stärker geworden durch den Slogan »Der bewaffnete Kampf muss fortgesetzt werden«, weil viele aus Erfahrung glauben, dass Israel nur diese Sprache versteht. Ich bin sicher, dass wir mit bewaffnetem Kampf nicht vorankommen. Aber wir können die Leute schwer davon überzeugen, wenn sie die Besatzungsmacht noch immer spüren.

Sie sind in Gaza auch angetreten, um die eigene Organisation zu formieren. Mit Erfolg?

Es gibt erkennbare Fortschritte, in der Fatah selbst, aber auch in der Regierung. Die Rivalitäten dort waren groß, so dass man sogar eine Spaltung befürchten musste. Diese Gefahr ist überwunden. Und wir werden den Reformprozess fortsetzen.

Werden Sie bei den Wahlen selbst antreten?

Nein. Ich werde mich auf die internen Parteiaufgaben konzentrieren. Die Bewegung ist seit dem Oslo-Prozess vernachlässigt worden. Es fehlt an klaren Konzepten. Wir haben viel Potenzial, aber man muss die Strukturen straffen und neu gestalten, damit wir alle Menschen erreichen können.

Sie waren zwölf Jahre palästinensischer Generaldelegierter in der Bundesrepublik. Geht man da auch mit ein bisschen Wehmut?

Ja, für mich ist das hier ein zweites Zuhause, ich habe viele Freunde, ich kenne viele Menschen, die uns unterstützt haben mit ihrer Solidaritätsarbeit. Ohne ihre Hilfe hätten wir manches nicht erreicht.

Und worauf hoffen Sie für die Zukunft?

Dass wir wirklichen, dauerhaften Frieden erreichen mit Israel, als gleichberechtigte Partner. Davon würde die gesamte Region profitieren, das hätte Auswirkungen bis nach Irak oder Afghanistan. Dabei hoffen wir auf deutsche Hilfe. Nicht nur materiell. Auch bei der Reformierung und Stärkung von Fatah und PLO. Auch, indem wir wie schon in anderen Ländern in Berlin voll anerkannt werden, einen diplomatischen Status erhalten, der zu einer Botschaft führt.

* Aus: Neues Deutschland, 29.11.2005


Zurück zur Palästina-Seite

Zur Nahost-Seite

Zurück zur Homepage