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Gast auf dem eigenen Land

Bei den Palästinensern im Westjordanland wächst der Frust

Von Jan-Niklas Kniewel *

Auch 45 Jahre nach der israelischen Okkupation des Westjordanlandes ist keine Lösung in Sicht für das israelisch-palästinensische Problem. Jedes weitere Jahr der Besatzung schürt Unzufriedenheit. Ein Besuch.

Eine sanfte Böe zerrt an den Blättern des knorrigen Olivenbaums, unter den Abed ein paar ramponierte Plastikstühle gestellt hat. Melodisch rauscht der Wind im Geäst, vor der Terrasse erstreckt sich eine Hügellandschaft, an deren Hängen zwischen dem Geröll Oliven und Trauben sprießen. Man könnte meinen, inmitten eines Idylls zu sitzen ... wäre da nicht die gegenüberliegende Seite des Tales. Dort liegt die 1977 gegründete israelische Siedlung Halamish, mit ihren großen, mit edlem Weiß verputzten Häusern.

Vor sieben Monaten, im Dezember 2011, wurde Abeds Sohn Mustafa von den Israelischen Streitkräften (IDF) getötet. Es geschah auf der wöchentlichen Demonstration, die hier, in dem 550-Einwohner-Dorf Nabi Saleh im Westjordanland, jeden Freitag stattfindet. Israelische Soldaten versuchen regelmäßig, die Veranstaltung der Palästinenser aufzulösen. Seit 2010 gilt wieder die 1967 erlassene Order 101, die das Abhalten von Demonstrationen im Westjordanland nahezu gänzlich unmöglich macht und so auch die gewaltfreie Teilnahme kriminalisiert. Obwohl es den Soldaten verboten ist, auf Menschen zu zielen, feuern sie Tränengasgranaten direkt auf die Demonstranten. 150 Stück sind es im Schnitt jede Woche. Eine davon traf Mustafa aus nächster Entfernung.

Die IDF haben niemals Bedauern ausgedrückt für den Tod des 28-Jährigen. Im Gegenteil. Nicht lange danach standen sie vor Abeds Haus, »und haben mir den nächsten Sohn genommen, haben ihn weggesperrt, weil er an den Demonstrationen teilgenommen hat. Vier Tage später hätte Mustafas Verlobung sein sollen. Er wollte nach Kanada mit ihr, sich ein neues Leben aufbauen. Doch die Israelis kamen ihm zuvor.«

Das Land des Dorfes, in dem Abed wohnt, bedeckt über 2,7 Quadratkilometer, doch die Bewohner können nur noch einen Teil nutzen. Ihr Land erstreckt sich über die nach dem Oslo-II-Abkommen festgelegten Zonen B und C. Erstere wird sicherheitspolitisch durch die Israelis und ordnungspolitisch durch die Palästinenser kontrolliert. Letztere steht unter israelischer Verwaltung und macht den Großteil des Westjordanlandes aus.

Die Dorfbewohner haben auf Hunderte ihrer Olivenbäume keinen Zugriff mehr. »Letztes Jahr habe ich einen brachliegenden Teil des Agrarlandes neu bepflanzt. Als dann Zeit war zu ernten, kamen die Israelis mit Bulldozern und haben alles zerstört. Sie versuchen, uns in die Ecke zu treiben. Versuchten sogar, das Wasser unter ihre Kontrolle zu bringen«, klagt ein Anwohner. Die nahe gelegene Al-Qaws-Quelle, die sie zur Bewässerung der Felder nutzen, wurde 2010 plötzlich zur archäologischen Stätte erklärt, und man verbot den Palästinensern die Nutzung. »Es war fatal für die meisten Bewohner, die auf die Landwirtschaft angewiesen waren.«

Nach einer längeren juristischen Auseinandersetzung gewähren die IDF einzelnen Palästinensern heute wieder Zugriff zur Quelle. Unter Auflagen. Die israelischen Siedler genießen uneingeschränktes Nutzungs- und Zugangsrecht. Die IDF haben die Kontrolle über Transport, Gewinnung oder Einrichtung neuer Wasserreserven.

Etwa 50 Kilometer weiter nördlich lebt der Bauer Said [1] im 100-Seelen-Dorf Yanun. In Sichtweite ragt der Wachturm der israelischen Siedlung Itamar auf. An einem entfernten Hügel grasen Schafe, die Weide ist von einem Schäfer aus der Kolonie besetzt. Der Hirte sei schwer bewaffnet, um sich vor den Palästinensern zu schützen. Dabei gehöre das Land eigentlich ihnen, sagt Said. Er stapft einen staubigen Weg entlang zu einer bescheidenen kleinen Moschee und deutet über die davor liegende Ebene. »Dies ist mein Land, aber ich darf es nicht betreten. Nur einmal im Jahr darf ich einen Antrag bei der Gemeindeverwaltung stellen, die sich dann an die IDF wendet. Dann kann ich meine Oliven ernten. Wenn ich das Land außerhalb dieser Zeit betrete, muss ich befürchten, dass sie mich angreifen und zusammenschlagen.«

Als am Freitag der Mittag und die Demonstration näherrücken, wirft sich Alim* seine Kufiya, das traditionelle Kopftuch, um und prüft fachmännisch seine Steinschleuder. Er ist keine dreizehn Jahre alt, doch seine Augen wirken wesentlich älter. Die IDF haben kein Problem damit, auch Jungen in seinem Alter festzunehmen. Es gibt viele minderjährige Palästinenser in israelischen Gefängnissen. Fast jede Woche nehmen die Soldaten Einwohner fest, auch junge. 13 Prozent der Einwohner von Nabi Saleh haben schon Bekanntschaft mit einem israelischen Gefängnis gemacht. Neben dem Steinewerfen bezichtigt man sie etwa, die Soldaten bei der Ausübung ihrer Pflicht gestört zu haben.

Bassem Tamimi, so behaupten die Israelis, sei »Aktivist«, organisiere die Demonstrationen und stifte Jugendliche an, Steine zu werfen. Er bestreitet das. Erst im April wurde er aus der Haft entlassen - sie hatte 14 Monate gedauert. Er behauptet, es sei sein 18. Gefängnisaufenthalt gewesen; bestätigen lassen sich zumindest zwölf. Nun ist er auf Bewährung draußen. Sollte ihn irgendwer beschuldigen, er habe die Jugendlichen zum Steinewerfen animiert, muss er weitere 17 Monate sitzen.

Die vielen Gefängnisaufenthalte waren hart. Während eines Verhörs wurde er derart misshandelt, dass er deswegen zehn Tage im Koma lag. Doch aufgeben will er nicht. »Im internationalen Recht ist das, was wir tun, legal. Und die Gesetze, nach denen ich verurteilt wurde, sind die Gesetze des Besatzungsregimes. Die erkenne ich nicht an. Mein Land wurde mir gestohlen von den Zionisten. Sie stahlen mir mein Land, mein Leben und meine Freiheit. Ihre Gesetze, ihre Gerichte sind nur Mittel der Unterdrückung, ebenso wie ihre Zäune und Siedlungen. Ich glaube nur an mein Recht, der Besatzung Widerstand zu leisten. Das ist mein Schicksal, meine Pflicht und meine Verantwortung.«

In der israelischen Siedlung Halamish zelebriert man das perfekte Vorstadtleben. Immer gleich aussehende Doppelhaushälften reihen sich aneinander, im kleinen Vorgarten üppig bewässerte Rasenflächen. Benjamin* sitzt in einem Pickup-Truck und lehnt sich lässig auf den Lauf des riesigen Maschinengewehrs, der zwischen den beiden Vordersitzen hindurchragt. Warum wählt man ein Leben hinter Zäunen, unter strenger Bewachung durch das Militär? »Meine Großeltern und Urgroßeltern hatten hier eine Nummer eintätowiert«, er deutet auf seinen Unterarm. »Sie waren ungarische Juden, die Nazis haben sie in Auschwitz ermordet. Sie waren schwach, hatten keine Macht, deswegen konnte man sie töten. Aber wir haben jetzt Macht, und deswegen können wir hier leben. Das ist unser Land, das steht in der Bibel.«

Er weist mit dem Blick auf Autos, die vor dem Tor der Siedlung parken. »Siehst du die alten Karren da? Die gehören den Arabern. Wir geben ihnen Arbeit, Geld und bringen ihnen Respekt entgegen. Und alles ist gut. Weil wir die Macht haben. Das Problem sind weniger die Araber, es sind jene Israelis, die glauben, wir könnten ihnen einfach Land geben, und dann wäre alles gut und die Araber zufrieden. Es sind die Linken, die glauben, dass das möglich wäre, die wirklich eine Gefahr darstellen. Denn die Araber würden immer mehr wollen. Wenn du ihnen das Stück Land gibst, würden sie auch das dort haben wollen. Wenn wir hier verschwänden, die Macht abgeben würden, dann würde es außer Kontrolle geraten.«

Auf der anderen Seite des Hügels, in Nabi Saleh, sagt Abed traurig, er glaube nicht daran, dass jemals wieder Friede und Gerechtigkeit einkehren werden, in Palästina. Ein anderer Dorfbewohner betont, die Leute fürchten um ihre Existenz und würden sich irgendwann wehren. »Es baut sich immer mehr Druck auf, und wo sich Druck staut, kommt es irgendwann zur Explosion.«

[1] Name geändert

Aus: neues deutschland, Montag, 23. Juli 2012


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