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Ausnahmezustand in Gaza und Sderot

Neuerlicher Gewaltausbruch wird auf beiden Seiten von politischem Kalkül begleitet

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Die Gewalt in und um Gaza dauerte auch am Wochenende an: Israels Militär flog erneut Angriffe auf den Landstrich, während die israelischen Städte in der Nachbarschaft von Kämpfern der Hamas mit Raketen beschossen wurden.

Normalerweise sollten sie in der Synagoge sein oder in der Moschee oder beim Abendessen. Aber normal war am vergangenen Freitagabend nichts, weder im israelischen Sderot, wo den ganzen Tag über Raketen eingeschlagen waren, noch in Gaza-Stadt, wo die israelische Luftwaffe einen Angriff nach dem anderen flog und die Abschaltung der Stromversorgung droht, weil der Brennstoff ausgeht. So herrscht in Gaza wie in Sderot Ausnahmezustand. Und der ist, da sind sich die meisten Beobachter einig, Vorbote für Schlimmeres, nämlich eine israelische Bodenoffensive im Gaza-Streifen und eine Serie von Anschlägen in Israel.

Die Straßen Gazas sind am Sonnabend, für Palästinenser eigentlich der Einkaufstag, menschenleer. Die Gefahr, dass man zur falschen Zeit am falschen Ort ist und ins Zentrum eines israelischen Angriffs oder eines der wieder zunehmenden Gefechte zwischen Kämpfern der Hamas und Anhängern der Fatah gerät, sei zu groß, sagen die wenigen, die draußen anzutreffen sind.

Ein ähnliches Bild bietet sich in Sderot: Man bleibt zu Hause, in notdürftig eingerichteten Luftschutzbunkern. Die Regierung weigert sich beharrlich, öffentliche Bunker zu bauen - warum, das können nicht einmal Regierungssprecher so genau sagen. Man werde die Kassam-Raketen mit allen Mitteln stoppen, sagen sie immer wieder, und verweisen auf Analysen des Verteidigungsministeriums, in denen steht, dass Hamas und Islamischer Dschihad immer panischer würden, weil in den vergangenen Wochen eine ganze Reihe ihrer Führungsmitglieder getötet worden seien.

Aber Panik im Gaza-Streifen sei das, was Israel im Moment am allerwenigsten gebrauchen könne, findet Haim Oron, Abgeordneter des linksliberalen Meretz/Jachad-Blocks und ein vehementer Kritiker der israelischen Strategie. »Eine panische Hamas ist eine radikale Hamas, in der Hardliner die Oberhand gewinnen und uns mit allem angreifen, was sie haben. Man braucht keine geordnete Führungsschicht, um uns Schmerzen zuzufügen. Kassam-Raketen sind leicht zu bauen und leicht zu bedienen.«

Denn der militärische Flügel der Hamas, die den Gaza-Streifen beherrscht, setzt sich überwiegend aus jungen, radikalisierten Männern zusammen. Die sind in den von Arbeitslosigkeit und sozialem Elend geplagten Flüchtlingslagern im Gaza-Streifen groß geworden und daran gewöhnt, in einem Zellen-System zu arbeiten: Kleine Gruppen operieren relativ unabhängig voneinander, um es dem israelischen Sicherheitapparat zu erschweren, die Kämpfer der Organisation anzugreifen.

Doch die israelische Öffentlichkeit sieht das im Moment anders: Ende Januar wird der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Libanon-Krieg vor eineinhalb Jahren veröffentlicht werden, und der wird - das ist sicher - für Premierminister Ehud Olmert verheerend ausfallen. Der Regierungschef sieht sich deshalb dem Zwang ausgesetzt, endlich in und um Gaza herum »aufzuräumen«. Sein Verteidigungsminister, der Sozialdemokrat Ehud Barak, liefert ihm Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu zeigen, was das reformierte Militär mittlerweile kann: zum Beispiel »Luftschläge« mit tödlicher Präzision ausführen. Im Dezember hatte ein erster, isolierter Angriff den Premier, wenn auch nur kurzzeitig, aus seinem chronischen Umfragetief katapultiert. Vermutlich hoffe er darauf, dass es auch diesmal wieder so sein wird, damit er gerüstet ist, wenn seine Gegner nach der Veröffentlichung des Libanon-Berichts zum Angriff auf sein Amt blasen, spekuliert man in israelischen Medien.

Der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland kommen die Einsätze des israelischen Militärs derweil sogar recht gelegen: Auch wenn Vertreter der Notstandsregierung die Angriffe verurteilen, hoffen sie nach Aussage von Mitarbeitern der Regierung im Stillen darauf, dass die israelischen Aktionen der Fatah die Möglichkeit eröffnen, die Macht im Gaza-Streifen zurück zu erobern. Nicht nur, dass eine starke Hamas eine Bedrohung für die Herrschaft der Fatah im Westjordanland ist, ihre Kontrolle über Gaza stellt auch die Verhandlungen mit Israel in Frage, in denen immer wieder betont wird, dass ein Abkommen nur unter Einschluss von Gaza möglich sein wird.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Januar 2008

Elektrizitätswerk im Gazastreifen komplett abgeschaltet - UNO warnt vor "humanitärer Notlage"

Wegen der ausbleibenden Öllieferungen ist im Gazastreifen das einzige Elektrizitätswerk abgeschaltet worden. Infolge der Abriegelung des Palästinensergebietes durch Israel sei das Öl für den Betrieb der Anlage ausgegangen, erklärte der Werksleiter Rafik Mliha. Das Werk versorgt ein Drittel der Haushalte in dem Küstengebiet mit Strom. Einen Termin für eine Wiederaufnahme der Öllieferungen gibt es seinen Angaben zufolge noch nicht. Israel hatte den Gazastreifen am 17. Januar vollständig abgeriegelt.

"Die Schließung wird sehr ernste Konsequenzen für die Einwohner haben, aber auch für Krankenhäuser und Wasserpumpstationen", sagte Mliha. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas forderte Israel unterdessen auf, die Blockade "unverzüglich" wieder aufzuheben. Es müsse wieder Kraftstoff in den Gazastreifen geliefert werden, um das Leben von "Unschuldigen" zu erleichtern, sagte Abbas, wie sein Sprecher Nabil Abu Rudeina in Ramallah mitteilte. "Sollte Israel die Blockade nicht in den nächsten Stunden aufheben, werden wir uns an der UN-Sicherheitsrat werden", erklärte Abu Rudeina weiter. Auch der jordanische König Abdullah II. zeigte sich besorgt über die humanitäre Lage im Gazastreifen. Bei einem Treffen mit den Botschaftern mehrerer europäischer Länder verurteilte er laut einer Mitteilung des Königspalastes zudem die Angriffe der israelischen Armee in dem Gebiet.

Nach der Abriegelung des Gazastreifens durch Israel haben die UN nachdrücklich vor einer humanitären Notlage in dem Palästinensergebiet gewarnt. UN-Nothilfekoordinator John Holmes äußerte sich am 19. Januar in New York "tief besorgt" über die Zuspitzung der Lage. Die Schließung der Grenzübergänge bedeute, dass auch Nahrungsmittel und Medikamente für Hilfsaktionen nicht mehr in den Gazastreifen gelangen könnten. Die neue Eskalation der Gewalt gefährdet die Friedensgespräche zwischen Israel und den Palästinensern.

Die israelische Regierung kündigte derweil ihr Festhalten an der Grenzblockade an. Das Kabinett habe in seiner wöchentlichen Runde beschlossen "den Druck aufrechtzuerhalten", sagte ein ranghoher Regierungsmitarbeiter in Jerusalem am 20. Januar.

Die UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) warnte vor "katastrophalen Folgen" für die ohnehin verarmte Bevölkerung. UNRWA-Sprecher Christopher Gunness kritisierte die Grenzblockade scharf. Menschen den Zugang zu Grundlebensmitteln wie Wasser zu verwehren verletze die Menschenwürde, sagte er. "Es ist schwer, die Logik nachzuvollziehen, weshalb Hunderttausende ohne Grund leiden sollen." Im Gazastreifen leben rund 1,5 Millionen Menschen.

(Verschiedene Meldungen der Nachrichtenagenturen AFP und dpa, 20./21. Januar 2008



Kein Strom, kein Wasser

Vollblockade durch Israel verschlechtert Lage im Gazastreifen dramatisch

Von Karin Leukefeld **

Drei Tage nach der Abriegelung des Gazastreifens durch Israel wird die Blockade für die dort lebenden Palästinenser immer schmerzhafter spürbar. Wegen der ausbleibenden Rohstofflieferungen wurde eine der beiden Turbinen des einzigen Elektrizitätswerks am Sonntag (20. Januar) abgeschaltet. Im Gazastreifen gab es deswegen weitreichende Stromausfälle. Die UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) warnte vor »katastrophalen Folgen« für die ohnehin verarmte Bevölkerung. Israel wollte die Blockade dennoch beibehalten.

UNRWA-Sprecher Christopher Gunness kritisierte die Grenzblockade scharf. Menschen den Zugang zu Grundlebensmitteln wie Wasser zu verwehren, verletze die Menschenwürde, sagte er. »Es ist schwer, die Logik nachzuvollziehen, weshalb Hunderttausende ohne Grund leiden sollen.« Derweil zeigte sich UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, wie häufig, phlegmatisch und unerträglich ausgewogen. »Zutiefst beunruhigt« über die »Eskalation der Gewalt in Gaza, Westbank und Süd­israel« erinnerte der Südkoreaner am Wochenende »alle Parteien« an ihre »Verpflichtung, die internationalen Menschenrechte einzuhalten und keine Zivilisten zu gefährden«.

Deutlichere Worte fand der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte in den palästinensischen Gebieten, John Dugard. Israels Angriff auf ein Regierungsgebäude der Hamas sei ein »Kriegsverbrechen«, die Verantwortlichen müßten bestraft werden, forderte er am Wochenende. Auch das Töten von mindestens 40 Palästinensern und die Schließung der Grenzübergänge verurteilte Dugard. In unmittelbarer Nähe des zerstörten Regierungsgebäudes habe eine Hochzeitsfeier stattgefunden, die Angreifer hätten mit einem großen Verlust von Menschenleben rechnen müssen.

Bei der Attacke war eine 47jährige Frau durch Granatsplitter getötet worden, 50 Personen wurden verletzt, darunter auch Kinder. »Diejenigen, die für solche feigen Aktionen verantwortlich sind, haben sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht, sie sollten angeklagt und bestraft werden«, betonte Dugard. Das Verhalten Israels ließe »Zweifel an dessen Respekt vor dem Völkerrecht und dessen Verpflichtung gegenüber dem Friedensprozeß« aufkommen. Eine Sprecherin der israelischen Armee erklärte zu den Vorwürfen, man habe lediglich »Gebäude angegriffen, sonst nichts«.

Die israelische Regierung nutzt offenbar auch den in diesem Jahr ungewöhnlich harten Winter, um die Bevölkerung des Gazastreifens zusätzlich zu strafen. Infolge der von Dugard kritisierten Schließung der Grenzübergänge gelangt kaum noch Brennstoff in den Gazastreifen. Die 1,5 Millionen Palästinenser leiden vor allem unter Strommangel; Heizungen und Wasserversorgung sind weitgehend stillgelegt. Oft gebe es nur von Mitternacht bis sechs Uhr Strom, berichtete eine ältere Einwohnerin eines Flüchtlingslagers dem UN-Informationsnetzwerk IRIN.

Auch am Sonntag (20. Januar) blieben die Grenzübergänge zum Gazastreifen geschlossen. Die meisten Tankstellen hatten keinen Kraftstoff mehr, die Lieferungen von Lebensmitteln und Hilfsgütern blieben ebenfalls an der Grenze stecken. Große Teile der 400 000 Einwohner von Gaza-Stadt waren von der Stromversorung abgeschnitten. Dem einzigen Elektrizitätswerk drohte nach Angaben der Betreiber die komplette Schließung. »Wenn wir keinen Kraftstoff bekommen, müssen wir die letzte Turbine heute abend abschalten«, sagte Werksleiter Rafik Mliha am Sonntag. Ein Produktionsstopp werde fatale Folgen für Krankenhäuser und die Wasserversorgung haben. Das Werk versorgt ein Drittel der Haushalte in dem Küstengebiet mit Strom.

** Aus: junge Welt, 21. Januar 2008


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