Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Es gibt hier viel zu tun"

Leinen los für "Free Gaza" und "Liberty". Friedensaktivisten von Palästinensern im Gazastreifen euphorisch aufgenommen. Humanitäre Hilfsprojekte vereinbart

Von Karin Leukefeld *

»Die Situation ist unbeschreiblich, ich habe völlig mein Zeitgefühl verloren«, sagt Edith Lutz, während sie sich mit dem Handy des »Free Gaza«-Teams in eine ruhige Ecke zurückzieht. Die Lehrerin aus Köln gehört zu der Gruppe von 44 Friedensaktivisten aus 17 Staaten, denen es am vergangenen Samstag gelungen war, die seeseitige israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen und im Hafen von Gaza an Land zu gehen. Während der Überfahrt seien die Telefonverbindungen von der kleineren »Liberty« zum Hauptschiff »Free Gaza« ausgefallen, auch die Kontaktpersonen auf dem Festland habe man nicht mehr erreichen können. Ein heftiger Sturm habe den ungeübten Passagieren erheblich zu schaffen gemacht, sagt Edith Lutz, »es war eine Strapaze«. Doch daß sie die Fahrt gut überstehen würden, daran habe sie nie gezweifelt, fügt sie hinzu. »Ich kam mir vor wie Jonas im Bauch des Wals, ich war sicher, wir würden Gaza erreichen.« Der Empfang im Hafen von Gaza sei überwältigend gewesen, so Edith Lutz: »Wir tauchten in ein Freudenmeer von Menschen.«

Die Zeit in Gaza vergehe wie im Flug, berichtet sie junge Welt weiter. Die Tage seien voller Begegnungen und Termine. Wo immer die Gruppe auftauche, ließen die Menschen es sich nicht nehmen, sie mit dem wenigen, was sie hätten, zu bewirten: Tee, Früchte, Backwerk. »Wir werden so verwöhnt.« Unter Protest sei die Gruppe an der teuersten Adresse von Gaza untergebracht worden, einem modernen Luxushotel, dessen Inhaber sie eingeladen habe. »Es gab Diskussionen über diese Unterkunft. Wir wollten mit einfachen Familien leben, um über deren Nöte und Probleme aus erster Hand informiert zu werden.« Die Unterbringung in dem Hotel entspreche nicht der Realität im Gazastreifen, wo die meisten der 1,5 Millionen Menschen nur mit Hilfe der UNRWA, dem UN-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge, überleben könnten. Doch die arabische Gastfreundschaft und das Sicherheitsbestreben der Hamas-Regierung habe man akzeptieren müssen.

Sie besuchten Flüchtlingslager, die Gedenkstätte für Rachel Corrie, eine US-amerikanische Friedensaktivistin, die im März 2003 beim Protest gegen den Abbruch von Häusern von einem israelischen Bulldozer getötet wurde. Einige seien mit den Fischern ausgefahren (siehe unten), andere hätten Krankenhäuser besucht. Arabische Medien begleiteten sie auf Schritt und Tritt, erzählt Edith Lutz. Besonders beeindruckt zeigt sie sich vom Besuch eines der Sommerlager, die von der UNRWA organisiert würden. Die israelische Belagerung, die militärischen Aktionen, der Mangel an Lebensmitteln, Strom, Wasser und medizinischer Grundversorgung führten zu einem enormen psychischen Streß von Kindern und Jugendlichen. Mehr als 250.000 Teilnehmer verzeichnete die UNRWA in diesem Sommer, die Jugendlichen konnten schwimmen und Sport treiben, Kunsthandwerk oder Tänze lernen und Theater spielen. Jeder Ball, jeder Buntstift, jedes Stück Papier habe UNRWA durch die israelische Blockade nach Gaza transportieren müssen. 400 Lehrer hätten auf ihren Sommerurlaub verzichtet, um in den Ferienlagern zu arbeiten.

Auch die Lehrerin Edith Lutz hatte auf ihren Sommerurlaub verzichtet, um sich an der Solidaritätsaktion »Free Gaza« zu beteiligen. Jeden ihrer 90 Kollegen auf der Gesamtschule Weilerswist (Köln) habe sie über ihr Vorhaben informiert und gebeten, sie zu unterstützen, sollte es zu Problemen kommen. Durch die zweiwöchige Verzögerung der Abfahrt – schwerer Seegang, technische Probleme und Drohungen – sei sie nicht rechtzeitig zum Schulanfang zurückgewesen und habe prompt eine Abmahnung vom Schulleiter erhalten. »Weil unsere Schule eine Partnerschaft mit einer Schule in Jerusalem hat, hoffte ich auf Verständnis«, erklärt Edith Lutz. Statt dessen gab es die Kündigung.

Am heutigen Donnerstag (27. August) treten die Boote »Free Gaza« und »Liberty« die Rückreise nach Zypern an. Einige Friedensaktivisten werden ihre Plätze an Bord Palästinensern zur Verfügung stellen, die im Ausland studieren und denen seit Monaten von Israel das Ausreisevisum verweigert wird, teilten die Organisatoren mit. Die Kampagne »Free Gaza« habe mit der entschlossenen Aktion erreicht, wozu Politiker bisher nicht in der Lage gewesen seien. Man lade die Vereinten Nationen, die Arabische Liga und andere ein, ähnliche humanitäre Missionen auf dem Seeweg nach Gaza zu organisieren, so Edith Lutz.

Für sie wird die Arbeit nun erst richtig beginnen. Mit Unterstützung eines Deutsch-Palästinensers in Gaza plant sie den Aufbau eines deutsch-palästinensischen Kindergartens, in dem traumatisierte und behinderte Kinder betreut werden sollen. Die Musikinstrumente, die sie zu therapeutischen Zwecken mit nach Gaza genommen habe, werde sie schon einmal da lassen, meint Edith Lutz: »Heute kam ein junger Palästinenser und bat mich, ihm Musikunterricht zu geben. Es gibt hier viel zu tun.«

* Alle Beiträge dieser Seite aus: junge Welt, 28. August 2008

Hintergrund: Jeff Halper verhaftet

Einer der Hauptorganisatoren der Mission »Free Gaza« ist am Dienstag nachmittag am Grenzübergang Erez bei der Einreise nach Israel festgenommen worden. Jeff Halper ist Aktivist des 1997 unter anderem von ihm gegründeten Israelischen Komitees gegen die Hauszerstörungen (ICAHD). Er hat in den vergangenen eineinhalb Jahren die Überfahrt der beiden Solidaritätsboote »Free Gaza« und »Liberty« von Zypern in den Hafen von Gaza mit vorbereitet. Halper, der die amerikanische und israelische Staatsangehörigkeit besitzt, ist Professor für Anthropologie. Zunächst sei Halper in Sderot befragt worden, erklärte der zuständige Polizeioffizier, weil er mit seiner Einreise in den Gazastreifen gegen eine israelische Militäranordnung verstoßen habe, die das verbietet. Später hieß es, Halper sei verhaftet worden und müsse sich vor einem Richter verantworten. Die Festnahme kam nicht überraschend für Jeff Halper, der im Laufe seiner langjährigen Solidaritätsaktivitäten für die Palästinenser schon achtmal verhaftet wurde.

Das Projekt »Free Gaza« soll nach Auskunft der teilnehmenden Aktivisten im 60. Jahr der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat, den Blick der Weltöffentlichkeit auf die Folgen der israelischen Besatzungs- und Belagerungspolitik für die Palästinenser richten. Die Aktivisten seien seit Jahren in Gaza und der Westbank »auf Einladung der Palästinenser« als humanitäre Arbeiter und Journalisten aktiv gewesen. Wegen der »zunehmenden Strangulierung durch die illegale israelische Besetzung Palästinas« sei es vielen nicht mehr möglich gewesen, nach Gaza zu gelangen. Viele hätten auch nicht mehr nach Israel und in die Westbank einreisen dürfen, obwohl es großen Bedarf für die humanitäre Unterstützung gebe. »Wir haben versucht, über Land einzureisen, wir haben es auf dem Luftweg versucht«, heißt es weiter in der Selbstdarstellung von »Free Gaza«. Auf dem Seeweg ist es den Friedensaktivisten am 23. August schließlich gelungen, wieder nach Palästina zu kommen. Nun werde man dafür arbeiten, daß die neue Passage »offen und sicher bleibt«.
(kl)



Unterwegs mit den Fischern von Gaza

Internationale Friedensaktivisten begleiten Palästinenser bei ihrer Arbeit

Von Greta Berlin *


Seit 15 Monaten hindert Israel die Palästinenser daran, in ihren eigenen Gewässern zu fischen. Vor Beginn der Belagerung durften sie nicht weiter als sechs Meilen vor ihrer Küste fischen. Inzwischen wird auf sie geschossen, wenn sie mehr als einen Kilometer hinausfahren. 19 von uns sind nun mit den Fischern in sechs Booten ausgefahren, um das Recht der Palästinenser auf Fischfang in den eigenen Gewässern durchzusetzen. So wie es die Fischer in jedem Land rund um das Mittelmeer tun, um sich und ihre Familien zu ernähren. Die Palästinenser sind die einzigen, denen dieses Recht verweigert wird. Einer der Fischer hat uns gesagt, sie seien gezwungen, Fisch zu hohen Preisen von den Israelis zu kaufen, dabei sei das ihr eigener Fisch.

Erst hieß es, die Fischer hätten Angst, mit uns hinauszufahren, weil die Israelis auf die Boote schießen könnten, doch schließlich kamen diese sechs Boote, auf die wir uns verteilten. Die Presseleute stiegen auf eines unserer Boote und begleiteten uns aus dem Hafen von Gaza. Erst nachdem wir acht Meilen weit hinausgefahren waren, tauchten drei israelische Patrouillenboote auf und fuhren vor uns hin und her. Am Heck saßen Soldaten an Maschinengewehren. Das Boot, in dem ich mitfuhr, gehörte sechs Cousins, der jüngste gerade mal 15, und sie waren ziemlich nervös. Doch die Israelis ließen uns in Ruhe.

Sechs Stunden später hatten die Fischer mehr Fische in ihren Netzen, als sie in den vergangen vier Jahren gefangen hatten. Sie waren euphorisch, als sie die reiche Beute aus den Netzen in die Boote hievten, aussortierten, wuschen und mir die schönste, acht Zentimeter große Garnele schenkten. Als wir zwölf Stunden später wieder in den Hafen einfuhren – ich hatte mir einen ordentlichen Sonnenbrand geholt –, waren die Fischer überglücklich. Das Einkommen für den guten Fang wird 16 Familien einen Monat lang ernähren. Wir können nur hoffen, daß diese Männer auch in Zukunft das tun können, was Generationen vor ihnen getan haben – fischen.

** Greta Berlin ist US-Amerikanerin und Mitbegründerin der Kampagne »Free Gaza«.

Übersetzung und Bearbeitung: Karin Leukefeld



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