Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Das große Experiment

Humanitäre Katastrophe im Gazastreifen: Wann werden die Palästinenser auf die Knie fallen und um Gnade bitten?

Von Uri Avnery *

Ist es möglich, ein ganzes Volk dahin zu bringen, sich einer fremden Besatzung zu unterwerfen, indem man es aushungert? Die Regierungen Israels und der Vereinigten Staaten sind derzeit - im Schulterschluss mit Europa - an einem streng wissenschaftlichen Experiment beteiligt, um eine definitive Antwort zu erhalten. Das Laboratorium, in dem der Versuch stattfindet, ist der Gaza-Streifen - die Versuchstiere sind 1,3 Millionen Palästinenser.

Um das Experiment nach den nötigen Standards durchzuführen, war es zunächst nötig, das Laboratorium vorzubereiten. Das geschah wie folgt: Zunächst holte Ariel Sharon die israelischen Siedler, die dort feststeckten, heraus. Man kann ein sauberes Experiment doch nicht durchführen, wenn rund um das Laboratorium die gehätschelten Kinder herumlaufen. Dies wurde mit "Entschlossenheit und Sensibilität" getan, Tränen liefen wie Wasser, die Soldaten küssten und umarmten die vertriebenen Siedler. Wieder einmal wurde gezeigt, dass die israelische Armee die allerbeste der Welt ist.

Danach konnte die nächste Phase beginnen: Alle Ein- und Ausgänge des Laboratoriums wurden hermetisch abgeriegelt, um störende Einflüsse von draußen zu vermeiden. Die israelische Regierung verhinderte den Bau eines Hafens in Gaza, der internationale Flughafen, der mit den Oslo-Verträgen entstand, wurde bombardiert und stillgelegt - der gesamte Gaza-Streifen von hoch effizienten Grenzanlagen eingezäunt. Es blieb eine einzige Verbindung mit der Außenwelt: der Grenzübergang Rafah nach Ägypten. Der konnte nicht ganz gesperrt werden, sonst wäre die Regierung in Kairo als Kollaborateur Israels erschienen. Also wurde eine raffinierte Lösung gefunden: Israels Armee verließ den Übergang und übergab ihn einem internationalen Überwachungsteam.

Dessen Mitglieder, darunter Deutsche, waren voll guter Absichten, in der Praxis aber völlig von den Israelis abhängig, die den Übergang aus einem nahen Kontrollraum überwachten. Auch lebten diese Inspektoren in einem israelischen Kibbuz und konnten den Übergang nur mit israelischem Einverständnis erreichen. Auf diese Weise war alles für das Experiment vorbereitet.

Wie die Luft zum Atmen

Das Signal, damit zu beginnen, gab es nach den Wahlen der Palästinenser im Januar, die unter anderem der frühere Präsident Carter beaufsichtigt und als frei und fair bewertet hatte. George Bush war angetan: Seine Vision, die Demokratie in den Nahen Osten zu bringen, schien sich zu erfüllen.

Als jedoch das Ergebnis vorlag, wusste man, die Palästinenser hatten versagt. Statt die "guten Araber" zu wählen, die in den USA angebetet werden, wählten sie die "bösen Araber", die Allah anbeten. Bush war beleidigt, die israelische Regierung begeistert: Nach dem Hamas-Sieg waren nämlich Amerikaner und Europäer bereit, an dem Experiment teilzunehmen, und sperrten umgehend alle Hilfsgelder an die Autonomiebehörde, die ja nun von "Terroristen kontrolliert" wurde. Zugleich blockierte auch die israelische Regierung jeglichen Geldfluss.

Um das einzuordnen, muss man wissen: Gemäß dem "Paris-Protokoll" (dem wirtschaftlichen Anhang des Oslo-Abkommens) ist die palästinensische Ökonomie ein Teil des israelischen Zoll- und Steuersystems. Das heißt, Israel kassiert sämtliche Zölle für Waren nach Palästina, die durch sein Gebiet laufen. Nachdem dabei eine beträchtliche Summe als Kommission abgezogen worden ist, wird das verbleibende Geld an die Palästinenser überwiesen, die darauf angewiesen sind wie auf die Luft zum Atmen.

Auch dies bedarf einer Erklärung: Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 wurden der Gaza-Streifen und die Westbank als besetzte Gebiete zum monopolistisch beherrschten Absatzmarkt für Israels Industrie. Palästinensische Arbeiter waren zudem gezwungen, in Israel für Hungerlöhne zu arbeiten. Von diesen Einkünften wiederum zog der israelische Staat (wie bei seinen eigenen Arbeitern üblich) alle Sozialabgaben ab, ohne dass die Palästinenser im Bedarfsfall je in den Genuss von Sozialhilfegeldern gekommen wären. Auf diese Weise wurden die ausgebeuteten Arbeiter um Dutzende Milliarden Dollar erleichtert, die in einem Fass ohne Boden - dem israelischen Staatshaushalt - verschwanden.

Als im Jahr 2000 die Intifada ausbrach, entdeckten die israelischen Unternehmer, dass man auch ohne palästinensische Arbeitskräfte auskommen konnte und es profitabler war, Aushilfen aus Thailand, Rumänien und anderen armen Ländern zu holen. Die Palästinenser wurden arbeitslos.

Das war die Lage zu Beginn des Testprogramms: die palästinensische Infrastruktur zerstört, praktisch ohne Produktionsmittel, keine Arbeit für die Arbeiter. Alles in allem ein idealer Ausgangspunkt für das große "Experiment Hunger".

Die Ausführung begann - wie erwähnt - mit der Sperrung der Zahlungen. Der bewusste Grenzübergang zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten wurde faktisch geschlossen, nur zuweilen für ein paar Stunden geöffnet - um den Schein zu wahren, damit die Kranken oder Sterbenden nach Hause kamen oder ein ägyptisches Hospital erreichen konnten.

Die Passagen zwischen dem Gaza-Streifen und Israel wurden "aus dringenden Sicherheitsgründen" geschlossen. Stets im richtigen Augenblick kam "die Warnung eines bevorstehenden Terroranschlages". Palästinensische Produkte verfaulten am Übergang. Medikamente und Nahrungsmittel gelangten nicht hinein, manchmal für kurze Zeit, um den Schein zu wahren - wenn eine wichtige Persönlichkeit aus dem Ausland ihre Stimme erhob und protestierte. Dann kam eine neue "dringende Sicherheitswarnung" - und alles blieb wie gehabt.

Um das Bild abzurunden, bombardierte die israelische Luftwaffe das einzige Elektrizitätswerk in Gaza, so dass es nur noch stundenweise Strom und Wasser gab (da die Wasserpumpen Strom brauchen). Selbst an den heißesten Tagen mit Temperaturen von über 30 Grad im Schatten blieben Gefriergeräte, Ventilatoren, Geschäfte und Ambulanzen ohne Strom.

Welche Botschaft wurde mit alldem aus Israel den USA und Europa übermittelt? Ihr geratet an den Rand des Hungers und sogar darüber hinaus, wenn ihr euch nicht ergebt. Ihr müsst die Hamas-Regierung davonjagen und Kandidaten wählen, die von Israel und den USA anerkannt werden. Und - was noch wichtiger ist - ihr müsst euch mit einem palästinensischen Staat zufrieden geben, der aus verschiedenen Enklaven besteht, die wiedeum alle von der Gnade Israels abhängig sind.

Der Krieg, den die Armee beherrscht

Im Moment beschäftigt die Ausführenden des Experimentes eine komplizierte Frage: Wie halten die Palästinenser trotz allem durch? Nach sämtlichen Hypothesen hätten sie längst aufgeben müssen, und es gibt in dieser Hinsicht "ermutigende Zeichen". Eine Atmosphäre der Frustration und Verzweiflung sorgt für Spannungen zwischen Hamas und Fatah, es gibt Zusammenstöße, Menschen werden getötet und verletzt, aber jedes Mal - kurz vor dem Bürgerkrieg - tritt wieder Ruhe ein. Und anders als erwartet, hält sich auch der Widerstand gegen die Besatzung. Nicht einmal der gefangene israelische Soldat wurde entlassen.

Eine Erklärung dafür liegt in der Struktur der palästinensischen Gesellschaft. Solange in der Hamula - der Großfamilie - auch nur einer arbeitet, verhungert keiner, selbst wenn es eine weit verbreitete Unterernährung gibt. Jeder, der irgendein Einkommen hat, teilt es mit seinen Brüdern und Schwestern, Eltern, Großeltern, Cousins und Kindern. Ein einfaches System, aber unter solchen Umständen sehr wirksam. Es scheint, als hätten die Planer des Experimentes damit nicht gerechnet.

Um den Prozess dennoch zu beschleunigen, wird noch einmal die ganze Wucht der israelischen Armee eingesetzt. Monate lang war sie mit dem zweiten Libanon-Krieg befasst, als deutlich wurde, dass eine Armee, die während der vergangenen Jahrzehnte vorzugsweise als Kolonialpolizei beschäftigt war, nicht funktioniert, wenn sie plötzlich auf einen trainierten und bewaffneten Gegner trifft, der zurückschlagen kann. Der Feldzug endete unter diesen Umständen nicht wie erwartet.

Jetzt kehrt die Armee zu dem Krieg zurück, den sie beherrscht. Die Luftwaffe, deren Helikopter sich fürchteten, im Libanon Verletzte herauszuholen, kann nun wieder nach Lust und Laune Raketen auf die Häuser "gesuchter Personen" und deren Familien abfeuern. Wurden im Sommer "nur" 100 Palästinenser pro Monat getötet, sind wir jetzt Zeugen eines dramatischen Anstiegs dieser Zahl.

Wie kann nur eine ausgehungerte Bevölkerung durchhalten, der die Medikamente und das medizinische Gerät für ihre einfachen Krankenhäuser fehlen und die Angriffen vom Land, vom Meer und aus der Luft ausgesetzt ist? Wann wird sie auf die Knie fallen und um Gnade bitten? Oder wird sie eine übermenschliche Kraft finden und die Prüfung bestehen?

Alle, die an diesem Experiment teilnehmen - Ehud Olmert, Condoleezza Rice und Angela Merkel, Amir Peretz und George Bush, vom Friedensnobelpreisträger Shimon Peres ganz zu schweigen - sind über Mikroskope gebeugt und warten auf eine Antwort, die zweifellos ein wichtiger Beitrag für die politischen Wissenschaften sein wird. Ich hoffe, das Nobelpreis-Komitee wird dies bei der Preisvergabe 2007 gebührend würdigen.

Aus dem Englischen von Ellen Rohlfs

* Aus: Freitag 43, 27. Oktober 2006


Ausgelaugt und erschöpft

UN-Report zum Gazastreifen: Alle Reserven sind erschöpft

Von Steffen Vogel *

Die Vereinten Nationen haben ihrem halbjährlichen Palästina-Bericht einen dringenden Appell vorangestellt: Es müsse 2006 weit öfter Hilfe gewährt werden als geplant. 95,5 Millionen Dollar sollten als Nothilfe für die Bevölkerung in den besetzten Gebieten dienen. Doch das Geld reichte gerade für ein halbes Jahr, tatsächlich brauche man 170 Millionen. Hinter den nackten Zahlen verbirgt sich ein ökonomischer Kollaps.

Das "Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten" (UNRWA) kümmert sich um Ausbildung und Gesundheitsfürsorge, zudem vermittelt es Arbeitsplätze. Allein in Gaza führt es 100.000 Flüchtlinge auf Job-Wartelisten - in der Westbank stieg der Bedarf inzwischen um 600 Prozent gegenüber dem Vorjahr. "Die ersten sechs Monate des Jahres zeigten eine merkliche Verschlechterung der humanitären Bedingungen", heißt es im jüngsten UNRWA-Report. Fast die Hälfte - genau 44 Prozent der Palästinenser in den besetzten Gebieten - friste ein Dasein unterhalb der Armutsgrenze, schon Anfang des Jahres habe die Arbeitslosigkeit bei 31,1 Prozent gelegen. Die Menschen in Gaza wüssten immer weniger, wie sie die nötigen Lebensmittel beschaffen sollten, ihre Reserven seien erschöpft. Zwar unterstützten sie einander, doch die privaten sozialen Netzwerke trügen jetzt schon eine enorme Last. Für viele bedeute das schlicht, bei einem ohnehin schon rasanten sozialen Abstieg noch tiefer zu fallen.

Der Konflikt mit Israel - dokumentiert der UNRWA-Report - stranguliert die palästinensische Ökonomie, so dass man in den besetzten Gebieten in hohem Maße gezwungen sei, mit internationalen Hilfsgeldern zu wirtschaften. Seit Hamas Anfang des Jahres die Regierungsgeschäfte übernommen hat, blieben diese Zahlungen jedoch weitgehend aus. Zudem hält Israel Steuern zurück, die es regelmäßig im Namen der Autonomiebehörde erhebt. Die solcherart geschwächte Administration sei aber zugleich der größte Arbeitgeber in den Palästinensergebieten, stellen die UNRWA-Berichterstatter fest: Allein in der Stadt Gaza stehen 83.000 Menschen bei ihr in Lohn und Brot und damit über ein Drittel der überhaupt Beschäftigten. Ende Juni warteten die Angestellten der Autonomiebehörde bereits seit fast vier Monaten auf ihr Gehalt. Auch sehe sich die Behörde außer Stande, die öffentlichen Dienste am Leben zu erhalten.

Im Laufe des Jahres riegelte Israel die besetzten Gebiete immer häufiger ab. Allein der Übergang Karni - für Handelsgüter das wichtigste Tor nach Gaza - war seit Anfang 2006 insgesamt sechs Monate lang gesperrt. Lebensmittel und Benzin erreichten in der Folge immer seltener die palästinensischen Gebiete und wurden knapp. Dem Welternährungsprogramm zufolge zogen dadurch die Preise für Grundnahrungsmittel wie Öl, Mehl und Zucker enorm an. Die Vogelgrippe tat ein Übriges: Im Gaza-Streifen mussten etwa 400.000 Tiere gekeult werden, die nicht von außen ersetzt werden konnten. Auch wer den Gaza-Streifen in Richtung Israel verlassen oder Güter dorthin exportieren will, sieht sich gehindert. Zahlreiche Waren gelangen nicht hinaus, die palästinensischen Behörden sprechen von täglichen Verlusten in Höhe von etwa 500.000 Dollar. Zu Beginn des Jahres arbeiteten 45.000 Menschen und damit zehn Prozent aller Beschäftigten des Gazastreifens und der Westbank in Israel. Ab Mitte Februar durften nur noch 15.000 Arbeiter täglich den Kontrollpunkt Erez passieren, seit dem 12. März ist auch das vorbei.

* Aus: Freitag 43, 27. Oktober 2006




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