Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Hamas: "Wir brauchen das Geld nicht für Militärausgaben."

Zwei Artikel über die Wahlsieger in Palästina und ein Interview mit Muhammed Abu Tir, zweiter Mann auf der Hamas-Kandidatenliste

Im Folgenden dokumentieren wir drei Beiträge, die sich mit der veränderten politischen Landschaft im Gazastreifen und den besetzten Gebieten des Westjordanlands befassen. In den Beiträgen werden die Rolle von Hamas und der sich zuspitzende Konflikt zwischen Hamas und Fatah in einem etwas anderen Licht erscheinen, als wir das sonst aus den Medien gewohnt sind.



Hamas: Ein Sieg zuviel

Der palästinensische Wahlsieger zwischen Realismus und Mission

Von Yonatan Ben Efrat*

Der überwältigende Sieg der Hamas in den palästinensischen Parlamentswahlen am 25. Januar, 2006 – sie gewann 74 von 132 Sitzen – hat die Region wie ein Donnerschlag getroffen. Niemand war verblüffter als Hamas selbst. Sie ähnelt einem Bettler, der in der Lotterie gewonnen hat und jetzt nicht weiß, wie er sich in der Welt der Reichen verhalten soll. Deshalb werden die Hamas-Führer vorsichtig agieren müssen. Regierung ohne Programm

Seit Beginn der ersten Intifada im Dezember 1987, als die PLO der Anerkennung des Staates Israel zustimmte, hat Hamas sich als Gegenkraft verstanden. In dieser Zeit, 1993, ging die PLO das Oslo-Abenteuer ein, in dessen Folge die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) etabliert wurde. Heute, mehr als ein Jahrzehnt nach dem Oslo-Abkommen – und nach fünf Jahren einer blutigen zweiten Intifada –, ist die PLO am Ende. Hamas ist es gelungen, den Status der Fatah als Hauptvertreter des palästinensischen Volkes zu untergraben.

Aber die Hamas befindet sich in einem tiefen Widerspruch. Über die Jahre profilierte sie sich selbst als innerpalästinensische Alternative, aber nicht als eine realistische politische Alternative – nicht als das Organ, das das palästinensische Volk gegenüber Israel und den Rest der Welt repräsentiert: Während der zweiten Intifada proklamierte Hamas wiederholt, ihre neue »Strategie«, die Selbstmordattacken, würde das zionistische Gebilde innerhalb von fünf Jahren zerstören. Kein Bedarf an Abkommen! Die Bewegung hat niemals eine politische Plattform oder einen Friedensplan präsentiert.

Auch auf der ökonomischen Ebene bietet Hamas keine reale Alternative. Die Hauptdifferenz zu Fatah ist Hygiene. Wie Fatah ermutigt Hamas die Kräfte des Marktes, das ist der Kapitalismus. Diese aber müßten frei sein von Korruption. Diese Haltung führte zu einem exemplarischen Netzwerk von Wohlfahrtseinrichtungen. Aber diese Wohlfahrt ist kein Ersatz für eine funktionierende Ökonomie, besonders nicht in der durch die Okkupation geprägten komplizierten Realität.

Spaltung der Fatah

Wenn wir die Wahlresultate im Detail analysieren, erscheint der Sieg der Hamas weniger gewaltig. Entsprechend dem – von der Fatah etablierten - Wahlsystem wird die Hälfte des Parlaments durch eine einfache landesweite Wahl, die andere Hälfte in Distriktwahlen gewählt. Landesweit stimmten 430000 (45 Prozent) für Hamas, 400000 (41 Prozent) für Fatah, und 14 Prozent für andere Kandidaten. Dafür fand in den Distriktwahlen der Erdrutsch statt. Hier gelang es der Fatah nicht, als Einheit aufzutreten. Den Ruf nach innerer Parteieinheit mißachtend traten innerhalb jedes Distriktes mehrere Fatah-Kandidaten gegeneinander an. Hamas dagegen war diszipliniert genug, nur einen Kandidaten je Distrikt aufzustellen. Somit wurden Stimmen für die Fatah vergeudet, die für Hamas nicht. Andernfalls hätte Fatah wahrscheinlich genügend Sitze gewonnen, um eine Koalition mit anderen säkularen Parteien bilden zu können.

Die Hamas hatte tatsächlich angenommen, daß Fatah eine Koalition bilden würde. Alles, was sie wünschten, war, unter Beibehaltung ihrer Identität als bewaffnete, kämpfende Opposition eine anerkannte politische Bewegung zu sein – wie die Hizbollah im Libanon. Hamas wollte nicht die Schlüssel zu dem innersten Heiligtum der Macht.

Aber das palästinensische Volk hat entschieden, und nun ist Hamas an der Reihe, Antworten zu liefern. Als erstes Zeichen, um die Straße und die internationale Arena zu beruhigen, wählten sie für das Treffen ihrer Führung – einschließlich der Kader im Exil, der externen Führer, wie Khaled Mashal – statt Syrien Ägypten. Das war eine deutlich versöhnliche Geste, kritisiert doch die Hamas Charta Ägypten scharf wegen des Camp-David-Abkommens von 1978. Diese Entscheidung war ein Fingerzeig an Israel und die Welt, das die Hamas bereit ist, unter der Aufsicht der USA effektiv zu arbeiten.

Ende einer Entwicklung

Die weltpolitischen Reaktionen auf den Sieg der Hamas waren sehr unterschiedlich. Dazu haben verschiedene Faktoren beigetragen. Erstens gab es noch keinen konkreten politischen Vorgang, dem sich Hamas stellen mußte. Zweitens verfolgt Israel eine Politik der einseitigen Schritte, die selbst gemäßigte Palästinenser außer Acht läßt. Drittens waren die Wahlen zur PA – genau beobachtet von der internationale Gemeinschaft – erwähnenswert sauber. Diese Faktoren ermöglichten den Russen und Franzosen eine Offenheit gegenüber der Hamas, die Washington großes Unbehagen bereitet.

Die USA bekamen einen Geschmack davon, war passieren kann, wenn sie im Mittleren Osten ihre Demokratie einführen wollen. Wahlen in dieser Region kennen nur einen Sieger: den Islam. Dies liegt zum Teil daran, daß liberale Parteien mit westlichen Programmen fehlen. Wir müssen daran erinnern: Während des Kalten Krieges halfen die US, säkulare Alternativen in der ganzen Region auszulöschen, indem sie islamische Parteien förderten.

Die Resultate der PA-Wahlen widerspiegeln den historischen Prozeß. Die zweite Intifada begann im September 2000 als ein Volksaufstand. Seine Motive lagen in der Ablehnung beider Partner des Oslo-Abkommens: nicht nur Israels, auch der PA, welche das eigene Volk in eine tiefe Verarmung fallen ließ, während ihre Führer – und die Israelis – gediehen. Beide, Israel und die PA, rechneten jetzt mit der Furcht des Volkes vor der völligen Isolation im Falle einer Niederlage der Fatah. Hamas, so nahm man an, würde viele Stimmen auf sich vereinigen können, aber nicht die Mehrheit gewinnen; dies würde als Warnung an Fatah dienen, um sich selbst von der Korruption zu reinigen. Aber die Realität übertraf die Spekulationen. Die Revolte, die im Jahre 2000 nicht zu Ende gebracht wurde, kam 2006 zu einer ruhigeren Vollendung durch die von Bush geförderten Wahlen. Die Kraft, die Oslo und die PA begrub, war das palästinensische Volk selbst. Die Hamas war das Werkzeug.

Roni Ben Efrat zur Frage der Anerkennung

Am 26. Februar 2006, etwa einen Monat nach den palästinensischen Parlamentswahlen, gab Ismail Haniyeh von Hamas der Washington Post ein Interview. Kurz zuvor hatte er vom Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Abu Mazen, einen Termin für die Regierungsbildung erhalten. Das Interview führte die Journalistin Lally Weymouth von Newsweek. Sie ließ Haniyeh in Sachen Anerkennung Israels nicht in Ruhe. Sie stellte diese Frage in unterschiedlicher Form immer wieder und jedes Mal wich Haniyeh ihr aus. Als sie z.B. fragte, ob Hamas Israel anerkennen würde, wenn es sich aus allen 1967 eroberten Gebieten zurückzöge, antwortete er: »Falls Israel sich auf die Grenzen von 1967 zurückzieht, werden wir stufenweise Frieden schaffen.« Weymouth ließ ein bißchen locker und ging zu anderen Themen über, um am Ende dann wieder zuzupacken: »Werden Sie Israel anerkennen?« Endlich gab es eine klare Antwort: »Wenn Israel erklärt, daß es dem palästinensischen Volk einen Staat geben wird und es wieder in alle seine Rechte einsetzt, dann sind wir bereit es anzuerkennen.«

Das war am Morgen. Am Nachmittag begannen die Dementis hereinzurieseln. Sie kamen von Mahmoud a-Zahar, einem der Führer von Hamas in Gaza, von Dr. Salakh Bardawil, dem Sprecher von Hamas im Legislativrat, und von dem freimütigsten von allen, von Khaled Mashal, der das politische Büro von Hamas in Damaskus leitet. In einem Interview mit Al-Hayat erklärte Mashal, er sei bereit mit jeder internationalen Kraft Gespräche zu führen, aber »mit dem zionistischen Feind werden wir keinen Kontakt haben«. (...) Wenn sich Hamas in Übereinstimmung mit dem ihr von der Bevölkerung erteilten Mandat verhalten will, muß sie aufhören, ihre Version des islamischen Fundamentalismus mit ihrem politischen Programm zu vermischen. Andererseits darf sie nicht in Opportunismus verfallen, indem sie mit Washingtons Alliierten im Nahen Osten, wie Saudi-Arabien und den Golfstaaten, Bindungen eingeht.

Oslo hat in der Tat aufgehört, eine politische oder juristische Grundlage für eine Friedensvereinbarung zwischen Israel und dem palästinensischen Volk zu sein. Abgesehen von der Tatsache, daß es der Mehrheit des palästinensischen Volks nichts – oder Verschlechterungen – gebracht hat, ist es von Israel praktisch gekündigt worden – zunächst durch die Wiedereroberung der Gebiete, dann durch unilaterales Vorgehen. Aber das Ende von Oslo muß nicht das Ende der Diplomatie bedeuten. Wenn Hamas das palästinensische Volk vertreten will, sollte sie unzweideutig erklären, daß sie bereit ist, die Grenzen von 1967 als Grundlage der Verhandlungen für eine permanente Lösung anzuerkennen.

* Aus: junge Welt, 3. April 2006


Machtkampf zwischen Hamas und Fatah

Lage in Gaza eskaliert nach Mordanschlag

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem**


Nach der Ermordung eines palästinensischen Extremisten eskaliert die Lage im Gazastreifen. Ministerpräsident Ismail Hanija kündigte an, die Anhänger der Hamas entwaffnen zu wollen. Rivalisierende Gruppen wiesen dies jedoch zurück.

Wer hinter dem Autobombenanschlag auf Abu Jussef al Kuka am Freitag steckt, war auch am Sonntagmorgen noch lange nicht klar. Während sich militante Anhänger Kuka war in Gaza getötet worden, als neben ihm ein mit Spengstoff präpariertes Auto in die Luft geflogen war. Während sich militante Anhänger der Fatah-Fraktion von Präsident Machmud Abbas und der radikalislamischen Hamas von Ministerpräsident Ismail Hanija immer wieder erbitterte Feuergefechte lieferten, bei denen drei Menschen getötet und mindestens 20 verletzt wurden, bemühte sich ein Ermittlerteam der jordanischen Kriminalpolizei auf Bitten der palästinensischen Autonomiebehörde um Aufklärung.

Für die Anhänger des 44-jährigen Kommandanten des Volkswiderstandskommitees ist der Fall aber schon jetzt klar. Nachdem sie in den ersten Stunden nach dem blutigen Anschlag die israelische Armee dafür verantwortlich gemacht hatten, wähnen sie nun den ehemaligen Kommandanten des Vorbeugenden Sicherheitsdienstes, Mohammad Dahlan, und den Fatah-Funktionär Samari Mascharawi hinter dem Anschlag. Am Abend vor der Explosion seien mehrere ihrer Anhänger gesehen worden, wie sie das Haus al Kukas ausspionierten.

»Ich fürchte, wir werden das Ergebnis der Ermittlungen nicht mögen«, meinte Ahmad Sachur, ein Redakteur der Zeitung »Al Kuds«. Seiner Ansicht nach bahnt sich ein Machtkampf zwischen Fatah und Hamas an, der schnell außer Kontrolle geraten könnte. »Es sind zu viele Waffen im Besitz von Leuten, die zu schnell den Abzug betätigen«. konstatierte der Journalist. »Hanija muss sehr schnell handeln, sonst bekommen wir ein Problem, dass größer sein wird, als es die israelische Besatzung jemals gewesen ist«, erklärte er warnend.

Erste Anzeichen dafür, dass die Dinge im ohnehin schon von monatelanger Anarchie gebeutelten Gazastreifen außer Kontrolle geraten gibt es schon jetzt. Nachdem Regierungschef Hanija am Samstagmittag angekündigt hatte, die Waffen der der Hamas nahestehenden As-Edin-al-Kassam- Brigaden einziehen zu wollen, antworteten die Anführer der Al-Aksa-Brigaden, des bewaffneten Flügels der Fatah, sie selber würden auf keinen Fall auf ihre Waffen verzichten. Waffen zu tragen, das sei das Recht ihrer Mitglieder, hieß es in einer Stellungnahme. »Die Al- Aksa-Brigaden«, so wurde mit Nachdruck klargestellt, »sehen sich als Streitkraft Palästinas, und werden sich nicht der von der Hamas geführten Regierung unterordnen.«

Schützenhilfe bekommen die Fatah-Anhänger dabei vom Islamischen Dschihad, der seit der vergangenen Woche mehrere Dutzend Raketen auf die israelischen Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft des Gazastreifens abgefeuert und damit den Druck auf Hanija verschärft hat. Als Reaktion auf diese Attacken beschoss das israelischen Militär immer wieder die Felder, von denen aus die Raketen abgefeuert werden – und lieferte auf diese Weise den militanten Al-Aksa- Brigaden eine weitere Legitimation für ihre Weigerung, die Waffen niederzulegen.

** Aus: Neues Deutschland, 3. April 2006


"Mit Gesprächen allein bekommt man keine Konzessionen von Israel"

Über den Wahlsieg der Hamas und das Verhältnis zur Fatah sprachen Roni Ben Efrat und Assaf Adiv mit Muhammed Abu Tir, Platz zwei auf der Kandidatenliste der Hamas (15. Febr. 2006)**

Frage: Vor den Wahlen sagte Ismail Haniyeh (Nr. 1 der Hamas Liste), daß die Hamas kein Interesse an der Enthronung von Fatah habe, sondern nur Partner in der PA sein wolle. Hat der sehr große Erfolg Ihrer Partei bei den Wahlen Sie überrascht?

Muhammed Abu Tir: Wir waren nicht überrascht über unseren Sieg über die Fatah. Darüber waren wir uns im klaren. Wir glaubten, daß wir um die 65 Sitze gewinnen würden, doch wir konnten uns nicht vorstellen, 74 zu bekommen. In diesem Sinne können Sie sagen, daß wir überrascht waren.

F: Viele Experten behaupten, daß es weniger ein Sieg für Hamas war als eine Niederlage für Fatah.

Ich kann Ihnen sagen, daß sich Jerusalem unser ganze Kampagnenbudget auf zirka 180000 Shekel belief, Fatah gab Millionen aus. Der wichtige Punkt war, daß wir sehr viele Freiwillige hatten ... Selbst Christen aus Ramallah und Beit Sahur stimmten für uns und unser Programm. Tatsächlich kann ich nicht leugnen, daß Fatah in den letzten Jahren geschwächt war, aufgebläht durch die Korruption. Ich kann mit Sicherheit sagen, daß, wenn das palästinensische Volk nur ein Viertel des Geldes, das in die PA floß, erhalten hätte, wir alle reich sein würden. In dem Fall würde die politische Situation von Fatah ganz anders aussehen. Hier ein Beispiel. Vor Oslo betrug das jährliche Einkommen pro Einwohner 3500 Dollar. Heute beträgt es 700 Dollar.

F: In der Fatah gibt eine Menge Zorn auf Hamas. Sie sagen, daß die Attacken, die Sie gegen Israel 1996 unternahmen, Oslo zum Scheitern verurteilten, und daß ihretwegen Netanjahu an die Macht kam. Einige sagen, daß Fatah nun genauso mit der Hamas verfahren wird. Wie antworten Sie darauf?

In der Tat ist es korrekt, daß wir uns dem Oslo-Prozeß widersetzten, da wir es nicht als Programm ansahen, das möglicherweise dem palästinensischen Volk helfen kann. Aber es gab keinen Versuch unsererseits, einen Bürgerkrieg anzuzetteln, weil aus unserer Sicht palästinensisches Blut etwas heiliges ist. Und ich glaube nicht, daß wir irgend ein Hindernis bei der Verwirklichung des Oslo-Abkommens waren. Tatsächlich stellte sich das Abkommen während des Camp-David-Treffens selbst ein Bein. Aber um auf 1996 zurückzukommen, zu der Zeit waren wir militärisch noch nicht organisiert. Die PA verhaftete unsere Mitglieder, und wir hatten Schwierigkeiten, Aktionen durchzuführen. Unsere militärische Arbeit begann sich herauszukristallisieren nach dem Start der zweiten Intifada, doch die Al-Aqsa-Martyrs-Brigaden, die der Fatah nahestehen, waren ebenfalls aktiv. Für die weiteren Beziehungen zwischen uns nun gilt, entsprechend unseres Sieges, daß die Sicherheitskräfte in der Hand von Abu Mazen sein werden. Wenn die Fatah-Leute unabhängig gegen uns aktiv werden wollen, werden sie lediglich die Schwäche Abu Mazens aufdecken und sich in dieser Weise selbst schädigen.

F: 1996 weigerte sich Hamas, an der Wahl teilzunehmen. Nun, zehn Jahre später, hat sich die Position verändert. Wie erklären Sie diesen Wechsel?

Wir haben niemals behauptet, daß die Wahlen damals überflüssig waren. Wir boykottierten sie, da sie im Rahmen von Oslo stattfanden und diese ganze Übereinkunft diktiert war durch eine negative Einstellung gegenüber Hamas. Was sich geändert hat, sind die Bedingungen. Erstens, das Abkommen mißlang und die Intifada brach aus. Israel hat faktisch Oslo durch die Besetzung des ganzen palästinensischen Territoriums und die Aufteilung in A-, B- und C-Gebiete außer Kraft gesetzt. Selbst Präsident Arafat war unter Belagerung der Israelis.

Als Abu Omar (Arafat) starb und Abu Mazen ihn ersetzte, ging er auf uns zu und sagte, er wünschte, das »palästinensische Haus« in Ordnung zu bringen. Er verpflichtete sich, »Widerstand« als legitimen Weg beizubehalten. Sie wissen nach allem, mit Gesprächen allein bekommt man keine Konzessionen von Israel, das nicht willens ist, auch nur irgend etwas abzugeben. Ohne Widerstand hätten sie sich auch nicht aus Gaza zurückgezogen.

Fassen wir zusammen: Ich kann positiv sagen, daß die Wahlen 1996 integraler Bestandteil des Oslo-Abkommens waren, wogegen jetzt die Entscheidung, Wahlen abzuhalten, dem direkten Abkommen zwischen uns und Abu Mazen zuzuschreiben ist, innerhalb des Rahmens der Kairo-Übereinkünfte, ohne Beziehung zu Oslo.

F: Es gibt Menschen, die sagen, daß Hamas sich moderat entwickelt hat, und daß die prinzipiellen Gründe dafür in der Ermordung der Topführer zu suchen sind.

Wir sind in der Tat moderat. Glauben Sie mir, wir sind nicht gegen Juden, und wir sind nicht gegen das Judentum als Religion. Vielleicht sahen Sie das Interview mit mir in Israels Kanal 2. Sie fragten mich, mit Bezug auf die Attacken, ob ich es genieße, Blut zu sehen und Schlächterei. Ich antwortete: Niemals! Ich mag es nicht, Blut zu sehen, und das ist die Wahrheit. Wir wünschen Frieden, und wir lieben ihn, weil Gott ihn erwünscht. Und Sie, nach allem, ausgesetzt der Deportation und dem Massaker in Europa durch die Hand der Nazis? Wie können Sie mit solchen Dingen übereinstimmen? Das ist nicht akzeptabel in unseren Augen. Fand nicht die das Goldene Zeitalter der Juden unter der Ägide des islamischen Regimes in Andalusien statt? Das will ich sagen: Wir sind nicht gegen Juden, wir sind gegen die Okkupation.

F: Welches Programm hat Hamas in der Wahlkampagne propagiert?

Wir haben eine klare Überschrift: Wechsel und Reform. Wir wollen die schmerzvolle Wirklichkeit, in welcher sich das palästinensische Volk befindet, verändern und die Korruption, die sich in der Gesellschaft ausgebreitet hat, vernichten. Unsere erste Aufgabe ist es, das palästinensische Haus in Ordnung zu bringen, eine neue Struktur für die Organisation der Befreiung Palästinas zu errichten und für das palästinensische Parlament. Wir wollen am Bildungs- und Gesundheitswesen arbeiten und die soziale Situation verbessern. Wir wollen legale Systeme entwickeln und ihre Unabhängigkeit sichern als Teil des Krieges gegen die Korruption. Wir wollen die Unterbeschäftigung und die Armut eliminieren.

F: Ich höre in Ihren Worten nichts über Positionen, die mit einem Abkommen mit Israel verbunden sind.

Diese Frage wurde mir nicht gestellt.

F: Sie bilden nun die Führerung, die PA ist in der Hand der Hamas. Sie beantworteten unsere Frage nach dem Programm, aber wir hörten nur etwas über die internen palästinensischen Angelegenheiten. Unsere Frage ist, wie werden Sie gegenüber Israel und Amerika agieren? Wie wird Hamas mit der Forderung nach Anerkennung Israels als Voraussetzung für die weitere Entwicklung umgehen?

Das Problem ist nicht die Anerkennung. Das Gerede über die Anerkennung Israels gibt es seit 1974. Arafat erkannte Israel an. Er verdammte Terrorismus und Gewalt, und ich frage Sie, was gab Israel zurück? Israel ist nicht vertrauenswürdig. Ich höre und Sie alle hören die israelischen Führer von Jerusalem als ewiger Hauptstadt des jüdischen Volkes sprechen. Das bedeutet, daß es keinen Rückzug zum Jerusalem von 1967 geben wird. Für uns bedeutet das, daß Zeit totgeschlagen werden soll. Wenn es einen Rückzug aus Jerusalem, der West-Bank und Gaza gäbe, und wenn ein unabhängiger palästinensischer Staat auferstehen würde, würden alle bewaffneten Parteien zu einer nationalen Armee vereinigt. Es würde so sein wie es Ben Gurion tat, als er alle Splittergruppen sammelte.

F: Israel ist verpflichtet, der PA das Geld für Steuern und Handel zu transferieren, verweigert dies aber. Was wollen Sie nun tun? Diese Frage betrifft auch die Palästinenser, die in Israel arbeiten. Entspricht es dem Wunsch von Hamas, daß sie dort arbeiten? Wie ist es mit den Zahlungen aus Europa und den USA?

Zur Frage des Geldes: Die gebenden Nationen haben gesagt, daß sie es zurückhalten wollen, aber wir sind nicht ein Volk, das sich erniedrigen läßt. Wir werden nicht um Wohlfahrt betteln. Zudem ist es ein Skandal, daß das Geld in die Taschen der Korrupten ging und niemand danach fragte. Warum gibt man das Geld nicht in saubere Hände? Ich will etwas wichtiges hervorheben. Wir brauchen das Geld nicht für Militärausgaben. Wenn wir sagen, daß es in die Gesundheit geht, dann geht es in die Gesundheit. Wenn wir sagen, es geht in die Wohlfahrt, dann geht es in die Wohlfahrt, in ein legales System.

Wir stecken kein Geld in die eigenen Taschen, und wir werden keine Waffen dafür kaufen. Dafür gibt es den Schwarzen Markt und die, die Waffen wollen, gehen dort hin.

Wenn sie die Geldzahlungen einstellen, gibt es andere Wege, es zu erhalten. Wir haben die arabische Welt und die islamische Welt, die Golfstaaten und andere.

F: Vielleicht würden Dinge leichter für Hamas, wenn Fatah für die Abkommen mit Israel zuständig wären und die Hamas mit den inneren Angelegenheiten?

Was zu tun ist, tun wir.Wir werden eine Regierung bilden. Danach – nun, jedes Ding hat seine Lösung. Wir werden den Weg finden.

F: Sie sind optimistisch?

Sehr, obwohl ich weiß, daß Israel und die USA gegen uns stehen.

F: Sie haben sich öffentlich auf einen Artikel bezogen, der in New York Times über einen israelisch-amerikanischen Plan erschien, die neue Regierung zu destabilisieren und Neuwahlen zu erzielen.

Ja, ich las ihn. Und ich werde nicht überrascht sein, wenn sie scheitern, weil sie fortwährend verlieren, während wir fortwährend gewinnen. Wenn die Straße sieht, was sie mit uns tun, wird die Liebe zu uns größer werden. Wir haben einen Staat ohne einen Staat errichtet. Wir haben Institutionen und Schulen, ein Netzwerk an Wohlfahrt, Hospitäler und Universitäten. Was wir gebaut haben, hat die PA nicht gebaut. Mit unserer Hingabe und Stärke des Willens sind wir überzeugt, daß das Geld kommen wird. Ich selbst fände es nicht beschämend, letztlich den Besen zu nehmen, um die Straße zu fegen, auch wenn ich an die Spitze der PA aufsteigen würde. Die Stärke eines Mannes kommt von innen. (...)

* Aus junge Welt, 3. April 2006

Hinweis: Alle Beiträge sind in der israelischen Zeitschrift Challenge, Nr.96 (März/April 2006) erschienen und werden in der Langfassung auf www.arbeiterpolitik.de zugänglich gemacht.


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