Gaza: Hamas soll Folter und Morde beenden
Human Rights Watch: Mindestens 32 Palästinenser während und nach der israelischen Offensive getötet
„Während Israels Angriff auf Gaza ging die Hamas gewaltsam gegen
politische Gegner und angebliche Helfer der israelischen Armee vor. Auch
nach Beendigung der Kämpfe kam es weiter zu rechtswidrigen Festnahmen,
Folter und Mord in Gewahrsam, was die Behauptung der Hamas, das Gesetz
zu achten, Lügen straft.“
Joe Stork, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher Osten und
Nordafrika von Human Rights Watch
(20. April 2009, Gaza-Stadt) – Die Hamas soll Angriffe auf politische
Gegner und angebliche Kollaborateure in Gaza beenden, bei denen seit der
jüngsten Militäroffensive Israels mindestens 32 Palästinenser getötet
und einige Dutzend weitere verletzt wurden, so Human Rights Watch in
einem heute veröffentlichten Bericht. Human Rights Watch forderte die
Hamas-Behörden in Gaza auf, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Der 26-seitige Bericht
„Under Cover of War: Hamas Political Violence in
Gaza“ [externer Link] dokumentiert willkürliche Festnahmen und Verhaftungen sowie Folter, Verletzungen durch Schüsse und außergerichtliche Hinrichtungen durch mutmaßliche Mitglieder der Hamas-Sicherheitskräfte. Der Bericht stützt sich auf Interviews mit Opfern und Augenzeugen in Gaza sowie auf
Berichte palästinensischer Menschenrechtsgruppen.
Die Angriffswelle begann mit der israelischen Militäroperation vom 27.
Dezember 2008 bis 18. Januar 2009: Bei einer Massenhinrichtung in Gaza
wurden 18 Männer getötet, die meisten von ihnen wurden der Kollaboration
mit Israel verdächtigt. In den drei Monaten nach Beginn dieses Feldzugs
wurden 14 weitere Menschen getötet, mindestens vier von ihnen in Haft.
„Während Israels Angriff auf Gaza ging die Hamas gewaltsam gegen
politische Gegner und angebliche Helfer der israelischen Armee vor“, so
Joe Stork, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher Osten und
Nordafrika von Human Rights Watch. „Auch nach Beendigung der Kämpfe kam
es weiter zu rechtswidrigen Festnahmen, Folter und Mord in Gewahrsam,
was die Behauptung der Hamas, das Gesetz zu achten, Lügen straft.“
Die innerpolitische Gewalt in Gaza und im Westjordanland ist nicht neu.
Während der vergangenen drei Jahre haben Hamas und ihr Hauptgegner
Fatah, die das Westjordanland kontrolliert, Anhänger der jeweils anderen
Organisation willkürlich festgenommen, gefoltert und misshandelt.
Im April ist die Zahl der Übergriffe in Gaza laut Human Rights Watch
zwar zurückgegangen, doch die Hamas-Behörden haben die Verbrechen der
Sicherheitskräfte in der Zeit während und nach den israelischen
Angriffen immer noch nicht ernsthaft untersucht.
Hassan al-Seifi, Generalinspekteur im Innenministerium von Gaza,
berichtete Human Rights Watch am 16. April, dass ein von ihm geleitetes
Komitee die Ermittlungen zu zwei Todesfällen in Haft abgeschlossen
hätte. In beiden Fällen hätten die Hamas-Behörden entsprechend der
Empfehlungen des Komitees gehandelt, die verantwortlichen Polizeibeamten
vom Dienst suspendiert und Klage gegen sie eingereicht. In zwei weiteren
Fällen seien die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen.
In Interviews am 15. und 16. April erklärten Hamas-Sprecher Fawsi Barhum
und der Sprecher des Innenministeriums in Gaza, Ihab al-Ghussein,
gegenüber Human Rights Watch, die Hamas hätte die Anwendung
unverhältnismäßiger Gewalt durch die Sicherheitskräfte nach dem Ende der
israelischen Militäroperation ausdrücklich untersagt. Während der
Angriffe Israels hätten die Hamas-Sicherheitskräfte das Morden und
Schießen aufgrund der chaotischen Lage während der Kämpfe jedoch nicht
verhindern können.
Das oft systematische Vorgehen bei den Hinrichtungen und Angriffen sowie
die Tatsache, dass das Morden nach Ende der israelischen Offensive
weiterging, unterhöhlen diese Behauptungen, so Human Rights Watch.
„Die Polizei in Gaza gehörte zu den Zielen der israelischen Armee, die
bisweilen eindeutig widerrechtlich angegriffen wurden. Dies rechtfertigt
aber nicht die Massenhinrichtungen durch die Hamas, die ganz
offensichtlich stattgefunden haben“, so Stork. „Die Angriffe und das
Morden gingen auch nach Beendigung der israelischen Militäroperation
weiter.“
Human Rights Watch appellierte an die Hamas-Behörden, jedes Mitglied der
Sicherheitskräfte, das gegen das Gesetz verstoßen hat, strafrechtlich zu
verfolgen.
„Vier Ermittlungen in 32 Todesfällen sind nicht genug“, so Stork.
Die meisten der insgesamt 18 Palästinenser, die während der israelischen
Militäroperation hingerichtet wurden, waren der Kollaboration mit Israel
beschuldigt. Nachdem die israelische Luftwaffe am 28. Dezember das
Zentralgefängnis von Gaza bombardiert hatte, waren diese Männer
gemeinsam mit anderen Insassen geflohen. Sie wurden von bewaffneten
Einheiten, die wahrscheinlich zur Hamas gehörten, aufgespürt und erschossen.
Hamas-Sicherheitskräfte griffen während der israelischen Operation auch
bekannte Fatah-Mitglieder an, die größtenteils vor Juni 2007 für den von
der Fatah geführten Sicherheitsdienst der Palästinensischen
Autonomiebehörde gearbeitet hatten. Besonders besorgniserregend ist die
weit verbreitete Praxis, Menschen durch Schüsse in die Beine
kampfunfähig zu machen.
Laut der Independent Commission for Human Rights (ICHR), der
Ombudsmann-Organisation für Menschenrechte der Palästinensischen
Autonomiebehörde, haben maskierte Bewaffnete in der Zeit vom 28.
Dezember bis 31. Januar mindestens 49 Menschen auf diese Weise verstümmelt.
Human Rights Watch interviewte drei Männer, davon zwei Fatah-Anhänger,
denen während der israelischen Angriffe offensichtlich von
Hamas-Sicherheitskräften gezielt in die Beine geschossen wurde. Der
dritte berichtete, dass seine Kritik an der Hamas auf der Straße
belauscht worden war: „Etwa vierzehn Männer kamen zu mir nach Hause. Sie
zwangen mich, ihnen an einen dunklen Ort in der Nähe einer Moschee zu
folgen. Vier Männer schossen mir in die Beine, jeder ein Schuss, aber
einer zielte daneben.“
Verschleppungen und schwere Körperverletzungen geben ebenfalls Anlass
zur Sorge. Laut ICHR wurden in der Zeit vom 28. Dezember bis 31. Januar
insgesamt 73 Männern aus Gaza von unbekannten Tätern Arme und Beine
gebrochen. Drei Fatah-Anhänger, die von mutmaßlichen Hamas-Angehörigen
gewalttätig angegriffen worden waren, wurden von Human Rights Watch
interviewt.
Während bewaffneter Konflikte ist die Hamas als die in Gaza herrschende
Behörde befugt, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Sicherheit zu
gewährleisten. Dazu gehört auch die Festnahme von Personen, die ein
Sicherheitsrisiko darstellen. Körperliche Misshandlungen, einschließlich
Folter, Verstümmelungen und Massenhinrichtungen, sind unter allen
Umständen streng untersagt. Gemäß Völkerrecht können Verhaftungen weder
willkürlich erfolgen noch können bestimmte Personengruppen aus
politischen Gründen, dafür aber aus Sicherheitsgründen, verhaftet werden.
Auf der anderen Seite des innerpalästinensischen Konflikts haben die von
der Fatah geführten Behörden im Westjordanland die repressiven Maßnahmen
gegen Mitglieder und Anhänger der Hamas verstärkt, so Human Rights
Watch. In der Zeit vom 28. Dezember bis 28. Februar registrierten
palästinensische Menschenrechtsgruppen 31 Anzeigen aus der Bevölkerung,
in denen von Folter durch Fatah-Sicherheitskräfte berichtet wurde.
Außerdem wurde ein Todesfall in Gewahrsam sowie die willkürliche
Verhaftung von zwei Journalisten eines privaten Fernsehsenders
registriert, der als Hamas-freundlich gilt.
Die Geldgeber aus den USA und der EU, die die von der Fatah geführten
Streitkräfte im Westjordanland finanzieren und trainieren, haben diese
schwerwiegenden Verstößen gegen die Menschenrechte nicht öffentlich
kritisiert.
„Die westlichen Regierungen, die die Fatah-Behörden im Westjordanland
unterstützen und finanzieren, üben sich angesichts der willkürlichen
Festnahmen und Folter von Hamas-Mitgliedern und anderen in öffentlichem
Schweigen“, so Stork.
Die Menschenrechtsverletzungen in Gaza und im Westjordanland verstoßen
gegen palästinensisches Gesetz. Das palästinensische Grundgesetz, das
als Übergangsverfassung gilt, garantiert das Recht auf Gleichheit vor
dem Gesetz, auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie grundlegende
Verfahrensrechte und untersagt Folter und andere Misshandlung.
Sowohl die Hamas- wie auch die Fatah-Behörden erheben Anspruch auf die
gesetzmäßige Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde, die
wiederholt versprach, die internationalen Menschenrechtstandards zu
achten. Die Hamas hat in ihrer Funktion als politische Partei bei
verschiedenen Anlässen öffentlich zu verstehen gegeben, dass es die
internationalen Menschenrechtsstandards achten würde.
Quelle: Website von Human Rights Watch, 20 April 2009; www.hrw.org/de; Mitteilung durch den Newsletter der israelischen Botschaft in Berlin, 30. April 2009
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