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In Gaza ist keine Hungersnot

Aber die Zahl derer, die an Unterernährung leiden, wird größer

Von Gideon Levy, Israel

Zur Information für alle Besorgten: Es gibt noch keine Hungersnot in den besetzten Gebieten. Bis jetzt starb kein Kind an Unterernährung; kein Kind läuft mit aufgeblähtem Bauch herum. Es gibt Mehl und von Rafah bis Jenin gibt es Reis. Die Rede über eine „humanitäre Katastrophe“ ist übertrieben. Die internationalen Hilfsorganisationen versuchen verzweifelt, blinden Alarm zu schlagen, um Israelis und die Welt aufzurufen, sich an der Rettung des palästinensischen Volkes zu beteiligen, da sie wissen, dass nur übertriebene Rede jemanden zu bewegen vermag. Sie mögen recht haben – aber ihre Aufrufe kommen zu früh und auch viel zu spät. (Das war vor 8 Tagen – es wird inzwischen dramatischer sein; d. Übers.)

Die Anwendung des Terminus „Humanitäre Katastrophe“ ist tatsächlich ein Beleg für die Entmenschlichung der Palästinenser. Es gibt kein Mehl? „Humanitäre Katastrophe“. Es gibt Mehl? Dann ist es keine Katastrophe. Man nimmt an: alles, was die Palästinenser benötigen, ist eine tägliche Lebensmittelration – also werden sie nicht als Katastrophenopfer betrachtet. Es reicht, wenn sie Wasser und Lebensmittel in ihrem Kochtopf haben, um festzustellen, dass ihre Situation in Ordnung ist. Aber menschliche Wesen, einschließlich der Palästinenser, haben auch noch ein paar andere Grundbedürfnisse.

Die wirkliche humanitäre Katastrophe begann schon vor langer Zeit, und es ist nicht (nur) der Hunger. Derjenige, der das benachbarte Volk als menschliche Wesen sieht, weiß das sehr wohl. Es stimmt, die Dimensionen der Katastrophe werden schlimmer – aber das hat sich seit Jahren immer weiter in dieser Weise entwickelt. Und der Nahrungsmittelindex ist nicht der einzige Maßstab. Das Aufhören des Geldflusses (der Geberstaaten), nachdem die Hamas an die Macht kam, wird die wirtschaftliche Situation noch weiter belasten -- doch allein der Gedanke, wenn sie nur genug Lebensmittel haben, dann seien ihre Bedürfnisse befriedigt, und wir können ein reines Gewissen haben, ist ungeheuerlich.

Man muss keine Worte über das Ausmaß der Armut in den besetzten Gebieten verschwenden. 65% der Bevölkerung von Gaza und 48% der Bevölkerung in der Westbank leben laut UN-Bericht vom Dezember 2005 unter der Armutsgrenze. Und das war vor der Entscheidung, den Transfer der Steuergelder für sie einzufrieren. Da muss man kein Wirtschaftsexperte sein, um zu verstehen, was es heißt, wenn 37% der Menschen von Gaza (73 000) bei der Palästinensischen Behörde beschäftigt sind und nun nicht bezahlt werden können. Die Situation wird also schlimmer werden.

Die palästinensische Gesellschaft, die ein sehr hohes Niveau an Solidarität unter einander hat, wird wissen, wie sie mit diesem Unglück umzugehen hat. Auf Grund der Nahrungsmittel, die durch die UNRWA und andere Organisationen verteilt werden, wird es in Gaza so bald keine Hungersnot geben, auch wenn die Zahl derer, die an Unterernährung leiden, größer wird.

Doch selbst wenn sie Säcke voll Mehl und Reis haben, werden die Lebensbedingungen der Palästinenser immer bedrückender. Sie leben im Gefängnis. Ihre tägliche Routine schließt Demütigungen ein, was genau so schrecklich wie Unterernährung ist. Jeder, der um einen Passierschein bitten muss, um seinen Ort zu verlassen, und Stunden in der wartenden Menge am Checkpoint verbringt, nur um sein Ziel zu erreichen, jeder, in dessen Schlafzimmer mitten in der Nacht brutal die Besatzungsarmee eindringt, jeder, dessen Zeit und Leben als wertlos betrachtet wird und dessen menschliche Würde in den Dreck getrampelt wird, kann keinen Trost darin finden, dass es noch Mehl und Reis gibt. Jene, die denken, dass es völlig genügt, sie mit einem Quantum Mehl zu versorgen, und dann meinen, sie hätten keine Verantwortung mehr für das von ihnen besetzte Volk, leiden an ernsthafter moralischer Blindheit. Es genügt nicht, dass ein junger Mensch nicht hungrig ist, ein junger Mensch sollte träumen können, sich eine Karrieren erhoffen, eine ordentliche Ausbildung machen können, Ferien verbringen oder einfach ein paar Vergnügungen des Lebens haben. Wird allein die Tatsache, dass sein Magen nicht völlig leer ist, ihm helfen, mit der elenden Gegenwart und der hoffnungslosen Zukunft fertig zu werden?

Dass sich Israel vom Gazastreifen getrennt hat, nimmt Israel nicht die geringste Verantwortung ab, die es für das Schicksal von Gazas eingesperrten Bewohnern hat. Israel, das den Bewohnern des Gazastreifens verbietet, in die Westbank zu gehen – eine Verletzung der unterzeichneten Verträge! – und verhindert, dass Vorräte von Israel und von Ägypten her geliefert werden, hat den Gazastreifen nicht für einen Augenblick verlassen. Die Welt und die Menschen mit Gewissen in Israel sollten nicht auf das erste Kind warten, das den Hungertod stirbt und dann Zetermordio schreien. Viel zu viele Kinder sind schon getötet worden, weil die Finger zu leicht am Abzug lagen oder wegen verhinderter Gesundheitsversorgung. Die Verantwortung liegt nicht auf den internationalen Hilfsorganisationen, sondern auf den Schultern Israels. Aber Israels Gewissen hat sich in den vergangenen Jahren nur nach einem Hinweis gerichtet – nach einem Hinweis des Protestes aus Washington. Solange Washington ruhig bleibt, kann alles vertuscht werden.

Diejenigen, die bis jetzt ruhig geblieben sind, können sich weiter in ihr Schweigen hüllen. Diejenigen, die nicht von ihrem Gewissen beunruhigt werden und deren Schlaf nicht von Israels Verhalten in den besetzten Gebieten gestört wird, mögen weiter in Frieden ruhen. Es gibt keine „humanitäre Katastrophe“. Israel wird eine Lösung für die Nahrungsmittelkrise finden, und die Läden werden keinen Mangel an Mehl haben. Aber diejenigen, die die Palästinenser nur als solche betrachten, die ausschließlich Grundnahrungsmittel benötigen, sollten sich an den Zoo erinnern, wo es den Tieren auch an „nichts fehlt“ – wo aber die Besucher des Zoos oft über die Lage ihrer Gefangenschaft erschrocken sind.

Übersetzt von Ellen Rohlfs

Quelle: Ha'aretz / ZNet Deutschland 09.04.2006;
www.zmag.de



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