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"Palästina wird ganz sicher kein zweites Afghanistan"

Über den Wahlsieg der Hamas, gescheiterte Widerstandsstrategien, hysterische Reaktionen und verfehlte Drohungen des Westens

Gespräch mit Raif Hussein*

Frage: Die »Demokratisierung des Nahen Ostens« verläuft nicht im Sinn der Demokratie-Exporteure: Nach dem Wahlsieg der islamischen Hamas im Gazastreifen und Westjordanland in der vergangenen Woche war hierzulande wie in den USA von einem »politischen Erdbeben« die Rede. Wie kam es zu diesem doch überraschend deutlichen Ergebnis für den Paria des Westens?

Raif Hussein: Zunächst einmal: Es ist unbestritten, daß die Wahlen in Palästina demokratisch und fair verlaufen sind. Es waren die ersten demokratischen Wahlen seit dem Ende der Kolonialzeit und das ohne, daß man Milliarden von Euro und Dollar für die Bombardierung eines Volkes ausgegeben hat, um es zur Demokratie zu zwingen.
Wie die Ergebnisse zustande gekommen sind, ist eine ganz andere Frage. Das Votum bringt den Willen des Volkes zum Ausdruck. Das einzige Problem ist, daß sich der Westen, insbesondere Europa, schwer tut, den Mehrheitswillen zu respektieren.

F: Die islamische Partei hat nicht nur in ihrer »Hochburg«, dem Gazastreifen, zugelegt. Auch in Ramallah, einer laizistischen Stadt im Westjordanland, hat Hamas alle Direktmandate gewonnen. Wie ist dieses politische Umschwenken zu erklären?

Es handelt sich bei der Wahl nicht um eine politische Richtungsentscheidung. Die Palästinenser haben vielmehr die Al Fatah abgewählt, die zehn Jahre lang alles mögliche getan hat, um Korruption und Vetternwirtschaft zu steigern und die wirtschaftliche und soziale Situation der Palästinenser zu verschlechtern. Es ist ein Votum gegen zehn beziehungsweise 14 Jahre Verhandlungen mit den Israelis, die nichts gebracht haben außer einer Mauer, die den Palästinensern das Leben zur Hölle macht. Das haben die Menschen registriert, und deswegen haben sie diese Partei abgewählt.

Den einfachen Bürgern in der Westbank und im Gazastreifen ging es bei der Wahl um die Frage, wer garantiert mir Ruhe, Stabilität, Brot und Würde. Al Fatah konnte am Ende nicht einmal diese vier Punkte garantieren. Hamas dagegen hat dort, wo sie herrscht, bewiesen, daß sie in der Lage ist, für Disziplin zu sorgen, soziale Hilfe zu leisten und Ruhe zu garantieren. Und dafür wurde sie von der Bevölkerung mit einem erdbeben-ähnlichen Wahlergebnis belohnt. Die kleineren demokratischen Parteien sind zu zersplittert und fast vereinzelt angetreten, diese Vorgehensweise hat den einfachen Bürger nicht überzeugt.

F: Die in Wien ansässige Antiimperialistische Koordination begrüßte in einer ersten Reaktion den Wahlsieg der Hamas und wertete das Votum als »klare Botschaft des palästinensischen Volkes an die Welt: Wir werden unseren Widerstand gegen die Besatzung niemals aufgeben!« Weiter hieß es, die Al-Fatah-dominierte Palästinensischen Autonomiebehörde habe »offen mit Israel kollaboriert« und sich auf diese Weise selbst bereichert »zum Schaden der Massen«. Daß »diese Kollaborateure nun gestraft wurden, ist ein gutes Zeichen«. Halten Sie diese Analyse für zutreffend?

Das Wort »Kollaborateure« gehört nicht zu meinem politischen Vokabular. Die Analyse ist aber auch falsch. Bei Al Fatah handelt es sich nicht um »Kollaborateure«, sondern um eine politische Partei, die die palästinensischen nationalen Interessen vertreten und den Befreiungskampf jahrzehntelang mitorganisiert hat. Al Fatah hat eine bestimmte politische Richtung vertreten und auf eine entsprechende Strategie gesetzt hat. Diese Strategie ist nicht aufgegangen.

F: Mit Hamas mit werden hierzulande einzig blutige Anschläge auf unschuldige israelische Zivilisten verbunden. Im Zusammenhang mit dem Wahlsieg war bisweilen denn auch von einem »Votum für den Terror« die Rede. Wie bewerten Sie die Hamas?

Wenn man die Umfragen liest, die in den besetzten Gebieten in den vergangenen zwei, drei Jahren gemacht wurden, wird man unschwer feststellen, daß die Menschen ganz andere Wünsche haben als das, was Hamas gemacht hat: Terror. Die Bevölkerung wünscht sich nachweislich Ruhe und Frieden mit Israel. Noch einmal: Die Palästinenser haben am 25. Januar nicht die Terrorpolitik und die fundamentalistische Richtung der Hamas gewählt. Die Menschen haben für die soziale Variante optiert und hoffen, daß Hamas in der Lage ist, das Chaos in den besetzten Gebieten zu beenden. Die Wähler haben in den Hamas-Kandidaten »ehrliche Menschen« gesehen und ihnen deshalb ihre Stimme gegeben.

Ich verurteile die Widerstandsstrategie der Hamas, weiß Gott. Ihre Aktionen gegen israelische Zivilisten haben der palästinensische Sache mehr geschadet als alles anderes in den vergangenen 40 Jahren. Man braucht kein großartiger politischer Beobachter zu sein, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Die palästinensische Sache hat viel zu viel unter diesen sinnlosen Terroranschlägen gelitten.

Man muß aber auch sehen und als Beobachter eingestehen, Hamas hat in den vergangenen zwei Jahren eine Gratwanderung gemacht und sich geändert. Zwei wesentliche Schritte sollten wir nicht unerwähnt lassen: Zum einen akzeptiert Hamas mittlerweile einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967, sicherlich ohne dabei Israel extra zu erwähnen. Vor den Wahlen wäre die Anerkennung des israelischen Existenzrechts für Hamas aber politischer Selbstmord gewesen. Bis dato hatte Hamas von einem palästinensischen Staat im historischen Palästina gesprochen. Wer einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 fordert, wird unweigerlich die Frage beantworten müssen, was denn hinter dieser Grenze ist. Das kann kein Niemandsland sein und ist es auch nicht. Hamas hat also erstmals eingestanden, daß Israel existiert.

Zum Zweiten hat Hamas mit der Teilnahme an den Wahlen die PLO als die einzig legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes akzeptiert. Damit wurde ein Konkurrenzkampf beendet, der seit nunmehr fast 35 Jahren andauert. Diese beiden Tatsachen veranlassen mich zu sagen, daß Hamas die ersten Schritte getan hat in Richtung einer demokratischen Partei. Das müssen wir anerkennen. Wie müssen den gemäßigten Flügel innerhalb Hamas unterstützen, damit die Radikalen nicht die Oberhand bekommen.

Wenn der Westen nun darauf drängt, Hamas müsse Israel schriftlich anerkennen, wie dies Yassir Arafat getan hat, dann ist er auf Erniedrigung der Organisation – und ihrer Anhänger – aus. Letztlich handelt es sich dabei doch nur um einen formalen Akt. An den Gegebenheiten würde sich erst einmal nichts ändern. Aber: Mit der ultimativen Forderung werden die radikalen Kräfte von Hamas gestärkt, und wir werden dorthin zurückgeworfen, wo wir vor zwei Jahren waren. Ich weiß nicht, ob der Westen das möchte.

F: Wie wirken auf die Palästinenser die Forderungen der EU und Deutschlands, trotz erklärtermaßen demokratischem Votum nicht mit dem Wahlsieger reden zu wollen, solange Hamas nicht von der Gewalt abschwört und das Existenzrecht Israels anerkennt?

Die Reaktionen auf die EU sind sehr negativ. Die Europäer, und insbesondere die Deutschen, verspielen langsam aber sicher das Vertrauen der arabischen Massen und des palästinensischen Volkes. Von den USA hatte man nichts anderes erwartet, aber von Europa. Und nun das: Die Menschen in Palästina haben sehr positiv auf die ersten Bemerkungen des US-amerikanischen Präsidenten reagiert. Zu vieler Überraschung sagte George W. Bush, die Wahlen seien sehr demokratisch und sehr fair verlaufen.

F: Wie wurde in Palästina der Nahost-Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgenommen: In Israel traf sie sich selbstverständlich mit Regierungsmitgliedern und der Knesset-Opposition, in Ramallah verweigerte sie jedes Gespräch mit Vertretern der Wahlsieger Hamas?

Die Palästinensische Gemeinde Deutschland hat sich schon vor der Reise an die Bundeskanzlerin gewandt und sie gebeten, sich mit den Wahlsiegern zu treffen – unabhängig davon, wer gewinnt. Damit würde der demokratische Prozeß innerhalb Palästinas gefördert und der Wille des palästinensischen Volkes und seine Entscheidung respektiert. Dies Gepflogenheiten sollten unter Demokraten eigentlich selbstverständlich sein. Leider folgte Angela Merkel unserer Bitte nicht. Wir bedauern das ausdrücklich. Mit ihrem Verhalten in den besetzten palästinensischen Gebieten hat sie sich mehr als jeder andere deutsche Politiker als ausschließlicher Freund Israel gebrandmarkt.

F: Welche Konsequenzen hat das Wahlergebnis für die palästinensischen Frauen? Müssen sie nicht einen gesellschaftspolitischen Rückschritt erwarten?

Wir haben es bei Hamas mit klugen Menschen zu tun. Leider Gottes sind sie nicht so dumm, wie so mancher meint oder wie wir es vielleicht gerne hätten. Hamas hat auf ihre Wählerlisten an prominente Stelle sechs Frauen gesetzt, die jetzt Mitglied des Parlaments sind. Frauenpolitik spielt innerhalb der Hamas eine große Rolle, natürlich nicht so, wie Sie sich das wahrscheinlich wünschen und wie ich mir das wünsche und viele andere säkulare Menschen auch. Es mag nicht jedem gefallen, gegenwärtig sind in Palästina frauenspezifische Themen nicht vorrangig. Für die meisten Palästinenser geht es heute darum, wer garantiert für ein hohes Maß an Sicherheit, wer schafft Arbeitsplätze und bringt damit Brot auf den Tisch. Das ist das Wichtigste.

Sicherlich wird es mit dem Hamas-Sieg auch gewisse Veränderungen geben. Eine Afghanisierung Palästinas droht allerdings ganz sicher nicht. Auch sind wir fern von Saudi-Arabien. Vielleicht werden die gemischten Schulen wieder nach Geschlechtern getrennt. In den Universitäten könnte es eine stärkere Trennung geben. Das heißt nicht, daß junge Frauen nicht mehr studieren dürfen.

Letztlich hängt es aber auch davon ab, welche Regierung zustandekommt. Wir sollten daher nicht weiter spekulieren, welche Politik Hamas bezüglich Familien und Frauen, Umweltpolitik und Wirtschaft betreiben wird. Für die Palästinenser ist es wichtig, wie es gegen die Besatzung, die Apartheidsmauer und die illegalen israelischen Sidlungen weiter geht

F: Welche Schlußfolgerungen muß der große Wahlverlierer Al Fatah aus dem Ergebnis ziehen? Al-Fatah-Anhänger haben in ersten Reaktionen zum einen den Rücktritt der alten Führung gefordert, zum anderen jede Zusammenarbeit mit der islamischen Hamas abgelehnt.

Die ersten Protestaktionen der Al-Fatah-Anhänger und Forderungen nach Rücktritt der alten Garde sind nur zu verständlich. Nach vierzig Jahren alleiniger Herrschaft hätte ich eine noch heftigere Reaktion erwartet. Zum Glück kam es dazu nicht. Es wird jetzt abzuwarten sein, wie die Al Fatah mit der neuen Situation umgeht. Das Wichtigste ist, daß die Partei nicht auseinanderfällt, was angesichts der vielen verschiedenen Persönlichkeiten und Strömungen droht. Wenn die bisherige Führung ihre Würde bewahren will, sollte sie die politische Bühne den jüngeren überlassen.

Die Forderung, mit Hamas nicht zu kooperieren, kam lediglich im ersten Trubel um den Riesenverlust der Macht auf. Ich glaube nicht, daß dahinter eine politische Strategie steht. Al Fatah bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als mit Hamas zu kooperieren. Und ich wünsche mir auch, daß Hamas mit der Fatah und den anderen vier Fraktionen innerhalb des palästinensischen Parlaments kooperiert, um eine Regierung der nationalen Einheit zu stellen.

F: Das heißt, All-Parteien-Koalition ohne die abgestraften Kader von Al Fatah?

Die meisten Minister waren korrupt und sind ihren Aufgaben nicht nachgegangen. Hamas wäre also gut beraten, diese Persönlichkeiten von der politischen Bühne zu fegen. Wer eine ordentliche Arbeit geleistet hat, sollte eingebunden werden. Es bleibt aber Hamas und den anderen Parteien überlassen, welche Koalition mit welchen Personen sie anstreben. Wie gesagt, der Regierung der nationalen Einheit sollten alle politischen Kräfte des Parlaments angehören: Hamas, Al Fatah, die Volksfront zur Befreiung Palästinas mit ihren drei Abgeordneten, die alternative Al Badil, der auch die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas angehört, der Dritte Weg, die Partei des ehemaligen Finanzministers Salam Fajad, der als künftiger Premierminister gehandelt wird, sowie »Free Palestine« von Mustafa Barghouti, der für das Präsidentenamt kandidiert.

F: Nach den Wahlen meinten Korrespondenten und Kommentatoren, es drohe ein palästinensischer Bürgerkrieg zwischen Hamas und Al Fatah. Nur Hysterie?

Ja, ich bin mir sicher, das ist reine Hysterie. Bleiben wir doch auf dem Teppich: Bis jetzt ist alles demokratisch und verhältnismäßig ruhig abgelaufen. Alle Parteien und Beteiligten sind klug genug, um keinen Bürgerkrieg zu beginnen. Die Zeichen zeigen in eine ganz andere Richtung: Kooperation und Verständnis. Alle haben sich mittlerweile damit abgefunden, daß Hamas die stärkste Fraktion ist und sie die absolute Mehrheit hat.

Jetzt geht es darum, die eigenen Reihen neu aufzustellen, sich neu zu sortieren. Nicht nur bei Al Fatah. An den verschiedenen, teilweise widersprüchlichen Pressemitteilungen der Hamas ist zu sehen, daß innerhalb der Organisation der Kampf zwischen radikalem und gemäßigtem Flügel begonnen hat.

Ich kann nur hoffen, daß der Westen klug genug ist, jetzt nicht mit dem Hammer draufzuhauen und endlich zu erkennen, daß es innerhalb des palästinensischen Volkes mehr als nur Schwarz und Weiß gibt, mehr als Hamas und Al Fatah.

F: Im Westen gibt es nicht nur massive Kritik an Hamas, die Organisation wird vielmehr komplett isoliert, in der EU und in den USA steht sie auf sogenannten Terrorlisten. Welche Optionen hat Hamas für das weitere politische Handeln? Wie kann sie die Isolationspolitik durchbrechen? Oder muß sie das vielleicht gar nicht, weil als alternativer Unterstützer andere Länder – wie Iran etwa – schon bereitstehen?

Man muß nicht allzu klug sein, um zu wissen, woher Hamas das Geld nehmen wird. Es braucht mehrere hundert Millionen Dollar im Jahr, nur um alles aufrecht zu erhalten, was bis jetzt da ist, also ohne eine Verbesserung der Situation zu erreichen. Wenn die Europäer und Amerikaner alles abblocken, wird Hamas andere Geldgeber finden. Die stehen schon an – wie sie es seinerzeit bei den Taliban in Afghanistan nach dem US-Rückzug auch getan hatten.

Ich bedauere sehr, daß Europa derzeit Außenpolitik auf Grundschulniveau betreibt. Es macht mir richtig Sorge, daß diese Gefahr nicht gesehen wird. Im Nahen Osten müßte es doch darum gehen, alles zu tun, um die Macht der Radikalen einzuschränken. Wer aber Druck ausübt, mit Sanktionen droht und ausgrenzt wird das Gegenteil dessen bewirken, was er zu erreichen vorgibt.

Letztlich kann das nicht im Sinne Israels und auch nicht im Sinne der arabischen Welt sein. Ja auch nicht im Sinne der Europäer und all der Demokratie-Propheten, die durch die Welt reisen und ganze Völker mit Bomben befreien wollen.

* Der Politologe Raif Hussein ist stellvertretender Vorsitzender der Palästinensischen Gemeinde Deutschlands e.V. und lebt in Hannover.
Das Gespräch führte Rüdiger Göbel

Aus: junge Welt, 4. Februar 2006 (Wochenendbeilage)


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