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"Wir brechen ihnen die Hände, so dass sie keine Steine mehr werfen"

Vor 25 Jahren begann die Erste Intifada

Von Wolfgang Sréter *

Vor fünfundzwanzig Jahren, Anfang Dezember 1987, fuhr ein israelischer Militärlastwagen in der Nähe des Flüchtlingslagers Jabaliya im Gaza-Streifen an einem Checkpoint der israelischen Armee in eine Schlange wartender palästinensischer Autos. Vier Palästinenser wurden getötet, sieben verletzt. Gerüchten zufolge wollte der Fahrer des Lkws Rache nehmen. Er war ein Verwandter eines zwei Tage zuvor von palästinensischen Tagelöhnern getöteten israelischen Arbeitsvermittlers. Nach den Begräbnissen kam es bei anschließenden Massendemonstrationen zu Zusammenstößen zwischen palästinensischen Jugendlichen und der israelischen Besatzungsarmee. Innerhalb weniger Tage breiteten sich die Unruhen auf Städte der gesamten besetzten Gebiete aus. Weder die israelische Seite noch die Fatah, die palästinensische Linke oder die islamischen Geistlichen waren auf die Ereignisse vorbereitet. In Flugblättern, die nachts verteilt wurden, wurde zum Streik, zum Boykott israelischer Waren, zum Kauf von palästinensischer Eigenproduktion und zum Steuerboykott aufgerufen.

Dies war der Beginn der Ersten Intifada (arabisch für Erhebung), mit der man im Gazastreifen und im Westjordanland die israelische Besatzung abschütteln wollte. Die Gründe dafür lagen in der alltäglichen Unterdrückung und Entwürdigung der Palästinenser durch die Besatzungsarmee. Sie lagen in den fortgesetzten Enteignungen, die eine israelische Siedlungspolitik mit einer ständig wachsenden Zahl an Siedlern möglich machte. Und sie lag an der völligen Zukunftslosigkeit junger Palästinenser in Gaza und im Westjordanland. Hinzu kam eine riesige Anzahl von Flüchtlingen vor allem in Gaza, die unter verheerenden Bedingungen lebten.

Allein in den ersten beiden Wochen des Aufstands kamen einundzwanzig Menschen ums Leben. Insgesamt waren es bis Ende 1992 nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem 1074 Menschen auf palästinensischer und 120 auf israelischer Seite.
„Die Palästinenser“, schreibt Sari Nusseibeh in seinem Buch ‚Es war einmal ein Land’, „unfreiwillig eingegliedert in ein System, das für die Enteignung ihres Landes, Gesetzlosigkeit und überall aus dem Boden schießende (israelischen) Siedlungen verantwortlich war, hatten mehr und mehr das Gefühl langsam zu ersticken.“
Die israelische Regierung reagierte auf den Aufstand überwiegend mit militärischen Mitteln. Sie setzte Schlagstöcke, Tränengas und scharfe Munition ein. Dazu kamen Repressalien wie die Sprengung von Häusern, Ausweisung oder Verhaftung von Aktivisten und die Zerstörung von Olivenhainen. Die gewaltsame Schließung von Schulen und Universitäten wurde von den Palästinensern als „Analphabetisierung“ verstanden.

General Yitzchak Rabin, der spätere Friedensnobelpreisträger, der schon ab 1985 eine „Politik der eisernen Faust“ gegenüber den Palästinensern ausgerufen hatte, war zu dieser Zeit Verteidigungsminister. Von ihm stammte die Aufforderung an die Armee, den Aufstand mit „Macht, Kraft und Prügel“ niederzuschlagen. Nicht nur in der arabischen Welt brachte ihm das den Beinamen „Knochenbrecher“ ein. Die Jerusalem Post zitierte ihn bei seiner Rückkehr von einem Staatsbesuch in den USA mit den Worten: „Wir brechen ihnen die Beine, so dass sie nicht mehr gehen können und wir brechen ihnen die Hände, so dass sie keine Steine mehr werfen werden.“

Ein Fernsehbeitrag aus dieser Zeit, der für weltweites Aufsehen sorgte, zeigt zwei palästinensische Jungendliche am Boden, deren Arme auf dem Rücken gefesselt sind. Vier Soldaten der israelischen Verteidigungsarmee stehen über ihnen und schlagen mit Steinen auf ihre Oberarme und Ellenbogen ein, um sie zu brechen. Einer der Soldaten sieht immer wieder aufmunternd zu dem amerikanischen Kamerateam, das die Szene aus nächster Nähe filmt. Die Wehrpflichtigen folgten damit dem öffentlichen Statement ihres Verteidigungsministers.

Nach einem Bericht der Hilfsorganisation ‚Save the Children’ aus dem Jahr 1990 benötigten schätzungsweise zwischen 23.600 und 29.900 palästinensische Kinder nach den ersten zwei Jahren der „Breaking of Bones“ – Strategie medizinische Versorgung wegen Verletzungen durch Stocksschläge und Steine. 30% dieser Kinder waren jünger als zehn Jahre alt, 20% jünger als 5 Jahre alt. Sie sind die heutige Generation der Fünfunddreißig- bis Vierzigjährigen, die die Hoffnung auf Frieden und einen eigenen Staat Palästina längst aufgegeben hat.

Einer davon ist Ghassan S. Während der ersten Intifada wurde er als Siebzehnjähriger in der Nähe des Elternhauses auf dem Weg zum Supermarkt zusammen mit einem fünfzehnjährigen Freund von vier Soldaten aufgegriffen. Im Rahmen einer Aktion, die von der Armee „Tertur“ genannt wurde, konnte jeder verhaftet, entlassen und wieder verhaftet werden.

Als Ghassan im Gefängnis ankam war sein rechter Unterschenkel gebrochen, das Gesicht von Stockschlägen zugeschwollen und ein Zahn ausgeschlagen. Im berüchtigten Al Fara’a Correction Centre des israelischen Geheimdienstes Shin Beit wurde er zu elf anderen Gefangenen in eine Zelle ohne Fenster und Toilette gesteckt. Der Raum, ein ehemaliger Pferdestall war nicht groß genug, dass alle zur gleichen Zeit im Liegen schlafen konnten. Ein junger Mann mit schweren Verletzungen durfte die ganze Zeit liegen. Vier andere Häftlinge passten daneben. Alle anderen schliefen in Schichten.

Immer wieder wurden den Gefangenen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Mit dem Rücken zur Wand wurden ihnen die Arme hochgezogen, so dass sie nur auf Zehenspitzen stehen konnten oder die Schultern ausgekugelt wurden.

In den Verhören sollte Ghassan Namen von politischen Aktivisten in seiner Umgebung nennen. Zwischen den Befragungen setzte man ihn gefesselt mit einem schwarzen Sack über dem Kopf in die Sonne. Wegen des ausgebrochenen Zahnes konnte er nichts essen. Nach achtzehn Tagen wurde er ohne Anklage oder Verfahren entlassen.

Mit der „Breaking of Bones“-Strategie hatte Rabin sicher nicht „am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker hingewirkt“, wie es in den Vorgaben für den Friedensnobelpreis heißt. Die UN-Vollversammlung rügte die Regierung Israels vergeblich für ihre schweren Verstöße gegen die Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Der damalige israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen Benjamin Netanjahu hingegen bezeichnete in seiner Stellungnahme die Militärverwaltung Israels als die mildeste, die es je gegeben habe.

Nicht alle Bürger Israels waren mit dem Statement des Botschafters in New York zufrieden. Einen Monat nach Ausbruch der Intifada versammelte sich eine kleine Gruppe israelischer und palästinensischer Frauen an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt in Jerusalem, schwarz gekleidet, mit Schildern in Form schwarzer Hände mit weißer Aufschrift: „Stop the Occupation“ („Ende der Besatzung!“) in hebräischer, arabischer und englischer Sprache - eine einfache und klare Botschaft mit breiter Wirkung. Die „Frauen in Schwarz“ stehen bis heute jede Woche zur selben Zeit am selben Ort, schweigend, um gegen die Gewalt in den besetzten Gebieten zu protestieren.

Folgt man Jean Amérys „Ethik der Erinnerung“, wonach jemand, der wie er einer Folter unterzogen wurde, nicht mehr heimisch werden kann in der Welt, gibt es Zehntausende von heute erwachsenen Palästinensern in den besetzten Gebieten und im Gaza-Streifen, denen es nach dieser schweren Traumatisierung so geht. Jean Améry bestand darauf: „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert …“ Für ihn gab es keine Brücke über den „Graben des Leidens und der Schuld“ zwischen Opfern und Tätern. Nach fünfundzwanzig Jahren, in denen sich die Situation der palästinensischen Bevölkerung zudem noch weiter dramatisch verschlechtert hat, muss davon ausgegangen werden, dass dies in den besetzten Gebieten ähnlich ist.

Die Narben sind bis heute nicht verheilt. Auch bei dem Schauspieler Ghassan S. nicht. Er wurde drei Mal verhaftet und verbrachte insgesamt über drei Jahre seiner Jungend im Gefängnis. Nach seiner letzten Verhaftung, bei der ihm sowohl der Kontakt zu einem Anwalt als auch zu seiner Familie verwehrt wurde, begann er einen Hungerstreik, erkrankte schwer und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Danach wurde er freigelassen.
Seit einigen Jahren lebt er mit seiner Familie in Berlin. Obwohl er seine Heimat sehr vermisst, beruhigt es ihn, dass seine Tochter nicht unter den unmenschlichen Bedingungen der israelischen Besatzung aufwachsen muss.

* Wolfgang Sréter lebt als freier Autor in München.


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