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"Militarisierung der Intifada war schwerer Fehler"

Palästinenser dürfen nicht auf Provokationen der israelischen Falken reagieren. Ein Gespräch mit Hanan Aschrawi

Hanan Aschrawi (63) ist Anglistikprofessorin und Abgeordnete der Partei »Dritter Weg« im palästinensischen Parlament. Sie ist Trägerin des Olof-Palme-Preises für Frieden und Menschenrechte. Ihr Vater war Mitbegründer der PLO.



Wie bewerten Sie die jüngsten Ereignisse um die israelischen Siedlungspläne in Ostjerusalem?

Die israelischen Falken glauben, sie ständen über allem und allen. Die Baugenehmigung für die 1600 Wohnungen ausgerechnet während des Besuchs von US-Vizepräsidenten Joseph Biden zu erteilen, ist ein klarer Affront gegen diesen. Sie haben damit Präsident Barack Obama die Tür vor der Nase zugeknallt und sich gegenüber der Kritik der Europäischen Union taub gestellt. Das ist ein Allmachtswahn, der im Mittleren Osten zu einem neuen verheerenden Religionskrieg führen kann.

Jerusalem war wieder Schauplatz gewaltsamer Zusammenstöße. Wie kam es dazu?

Es gibt Kräfte in der israelischen Politik, die genau auf diese Entwicklung hinarbeiteten. Die jüngsten provokatorischen Entscheidungen machten die Logik der aktuellen israelischen Regierung deutlich ...

Was für eine Logik ist das?

Eine militaristische Kolonialistenlogik, die mit Nationalismus und religiösem Fundamentalismus vermischt ist. Es ist die Logik jener, die von einem Kompromiß nichts halten und ungeachtet der Kritik der internationalen Gemeinschaft offen das Völkerrecht herausfordern. Das sind gefährliche Pyromanen, die im Begriff sind, das Pulverfaß Mittlerer Osten in Brand zu setzen.

Wie kann man sie stoppen?

Indem man sie isoliert, und zwar durch Taten - nicht durch Worte! Indem man ihnen praktisch klarmacht, daß die Zeiten vorbei sind, in denen sie für ihre Verbrechen nichts zu befürchten hatten. Wenn ich von Taten rede, denke ich an diplomatischen Druck und Protestdemonstrationen. Wer schweigt, macht sich zum Komplizen dieser Pyromanen.

Besteht die Gefahr einer Rückkehr zu den tragischen Zeiten der zweiten Intifada zu Beginn des Jahrtausends?

Die Wut ist groß. Es kann jeden Moment zu einer Explosion kommen. Wir Palästinenser müssen über die begangenen Fehler nachdenken und aufpassen, daß wir nicht in die Falle der israelischen Falken tappen. Ich war immer der Ansicht, daß die Militarisierung der Intifada ein schwerer Fehler war, den wir nicht wiederholen sollten. Zwischen den »Schahid« (Märtyrern) und der Resignation existiert ein dritter Weg ...

Welcher?

Der Weg des gewaltfreien Volksaufstandes, der den Geist der ersten Intifada wiederbelebt, jener »Revolte der Steine«, die die palästinensische Frage erneut in den Mittelpunkt des internationalen Interesses rückt. Der Weg des zivilen Ungehorsams, des Boykotts aller israelischen Produkte, die aus den Siedlungen stammen. Das ist der Weg, den Palästinenser und Israelis in Beilin in der West Bank bei ihrem Widerstand gegen den Bau der Apartheidmauer seit langem praktizieren. Und es ist der gewaltfreie Protest, den Palästinenser und Israelis gegen den Bau neuer jüdischer Siedlungen in Ostjerusalem entwickeln. Das ist nicht leicht, dessen bin ich mir wohl bewußt. Aber es ist der richtige Weg.

Die Vereinigten Staaten, Europa und das aus Vertretern von USA, EU, Rußand und der UNO bestehende Nahostquartett bekräftigen immer wieder, daß die einzig mögliche Lösung nur auf dem Prinzip »Zwei Völker - zwei Staaten« beruhen könne. Teilen Sie diese Auffassung?

Das Prinzip ist richtig, aber seine Umsetzung wird jeden Tag problematischer. Die Grundlagen für ein umfassendes Abkommen wurden von den UN-Resolutionen umrissen und in der Road Map genannt. Da muß man nichts Neues erfinden. Notwendig ist der politische Wille zum Kompromiß. Einen Willen, den die israelischen Pyromanen nicht haben.

Zu den Problemen, die gelöst werden müssen, gehört Jerusalem. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat behauptet, für ihn sei das kein Verhandlungsgegenstand. Wie sehen Sie das?

Über den Status von Jerusalem nicht zu verhandeln, bedeutet, nicht über einen umfassenden Frieden verhandeln zu wollen. Weil Jerusalem ein unveräußerlicher Bestandteil der Zwei-Staaten-Lösung ist. Einen Staat Palästina ohne Ostjerusalem als Hauptstadt kann es nicht geben.

Dieses Interview erschien in der italienischen Tageszeitung l'Unità vom 17.3.2010

Interview: Umberto De Giovannangeli

* Aus: junge Welt, 22. März 2010


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