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"Die Gefahr eines Bürgerkriegs ist sehr groß"

Sabotage der USA und Führungskampf in der Fatah verursachen Chaos in Palästina. Ein Gespräch mit Helga Baumgarten


Wie US-Außenministerin Condoleeza Rice spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel namens der EU von neuen Chancen für den Frieden in Nahost. Wie sehen Sie das?

Es gibt nicht viel neues. Im Prinzip geht es darum, die Palästinenser dazu zu bringen, über einen Staat zu verhandeln, ohne Grenzen festzulegen. So äußerte sich die israelische Außenministerin Livni in der vergangenen Woche in Paris, und das ist auch die Vision der USA. Israel würde eine Grenzziehung bevorzugen, die über den Verlauf der Mauer noch hinausgeht. Es verhindert jede echte Friedenslösung mit der Absicht, sich möglichst viel Land mit möglichst wenigen Palästinensern anzueignen.

Rice behauptete kürzlich in einem Spiegel-Interview, daß Iran und Syrien nicht nur an dem Konflikt in Libanon, sondern auch an der Verhinderung einer Lösung in Palästina schuld seien ...

Es ist typisch für das Kalkül der USA, sich nicht mit den Konfliktparteien und deren Interessen vor Ort auseinanderzusetzen, sondern »Hintermänner« auswärts zu vermuten. Der große Buhmann ist zur Zeit Iran. Es ist aber die Politik des sogenannten Nahost-Quartetts, die die Hamas in die Arme des Iran treibt. Mit wenig Erfolg allerdings, denn die Hamas läßt sich von keinem anderen seine politische Agenda diktieren. Seit ihrer Gründung ist sie sehr darauf bedacht, die Souveränität anderer Staaten der Re­gion zu respektieren, verlangte dafür aber immer auch, daß diese Staaten sich aus inneren palästinensischen Angelegenheiten heraushalten.

Ist es richtig, von einer Gewaltspirale zu sprechen, davon, daß sich palästinensische und israelische Extremisten immer weiter aufschaukeln?

Nein, das Hauptproblem ist nach wie vor, daß Israel seit 40 Jahren keine Bereitschaft zeigt, der Aufforderung des UN-Sicherheitsrates zu folgen, die Besatzung zu beenden. Das aktuelle Ziel der Hamas ist eigentlich nichts anderes als die Umsetzung dieses UN-Beschlusses, also die Gründung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967. Doch obwohl die Hamas mit überwältigender Mehrheit gewählt wurde, kann sie zur Zeit kein einziges ihrer Ziele durchsetzen; ihre innenpolitische Macht wird sabotiert. Ihr Plan, eine Regierung zu bilden und dann ihr Programm durchzuziehen, ist an dem israelischen Finanzboykott gescheitert. Sie hat keine Möglichkeit eines irgendwie gearteten Aufbaus der besetzten Gebiete. Dafür wird sie von der Bevölkerung verantwortlich gemacht, und zwar in einem Maße, daß es sogar unsicher wäre, ob sie eventuelle Neuwahlen gewinnen würde. Die Palästinenser haben von all dem schlichtweg die Schnauze voll.

Ist also die Hamas doch für die heraufziehende Gefahr eines Bürgerkrieges verantwortlich?

Die Gefahr eines Bürgerkriegs ist tatsächlich groß, aber die meisten Zusammenstöße sind nicht der Hamas anzukreiden. Im wesentlichen führen zwei Dinge zu der momentanen Welle der Gewalt. Erstens ist die Fatah in einem völlig chaotischen Zustand. Nach Arafat gibt es keine Führungspersönlichkeit mehr. Abbas ist weit davon entfernt, ein Palästinenserführer zu sein. Um die Nachfolge wird ein harter Kampf geführt. Die USA sind dabei, vor allem Mohammed Dahlan, den langjährigen Sicherheitschef in Gaza, zu seinem Nachfolger aufzubauen. In der Westbank bekommt Dahlan erst langsam einen Fuß auf den Boden. Er hat die bewaffneten Gruppen in der Hamas nicht unter Kontrolle. Das Chaos stammt aus der Fatah, deren Truppen entweder völlig unkontrolliert agieren oder gar von Dahlan benutzt werden, der die Macht der Fatah demonstrieren will.

Und was ist der zweite Faktor?

Der zweite Punkt sind die Sabotageaktionen des Westens, besonders der USA. Immer, wenn eine Einigung über eine Regierung der Nationalen Einheit nahe scheint, greifen die USA ein und es wird ein Treffen zwischen Abbas und Rice oder Bush anberaumt. Außerdem haben die USA ein klares Interesse daran, die Fatah zu stützen. Dahlan wurde als Sicherheitschef von der CIA ausgebildet und erfreut sich noch immer bester Kontakte. Um auch in der Westbank stärker zu werden, trifft er sich mit den bewaffneten Einheiten der Fatah wie z.B. den Al-Aqsa-Brigaden.

(Interview: Paul Grasse)

* Helga Baumgarten lehrt seit 17 Jahren an der Universität Bir Zeit in der Westbank und ist Autorin des akutellen Buches "Hamas. Der politische Islam in Palästina" (Diederichs Verlag, München, 256 Seiten, 19,95 Euro)

* Aus: junge Welt, 30. Januar 2007

Aktuelle Meldungen der Agenturen

Die blutigsten innerpalästinensischen Kämpfe seit fast zwei Monaten haben im Gazastreifen weitere Menschen das Leben gekostet. Die Zahl der Toten seit Wiederaufflammen der Gefechte am Abend des 25. Jan. stieg am Wochenende auf 25, unter ihnen zwei Kinder im Alter von zwei und zwölf Jahren. Mindestens 76 Menschen wurden verletzt. Wegen der andauernden Gewalt setzten die regierende Hamas und die gemäßigtere Fatah von Präsident Mahmud Abbas ihre Gespräche über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit aus.

Kämpfer von Fatah und Hamas lieferten sich auch am 28. Jan. in Gaza weiter Feuergefechte. Eine Explosion erschütterte zudem das Haus eines Leibwächters des Fatah-Politikers Mohammed Dahlan. Verletzt wurde offenbar niemand. In der Stadt Gaza errichteten Sicherheitskräfte beider Seiten Straßensperren aus Beton. Die Sicherheitsvorkehrungen vor Wohnhäusern prominenter Politiker und Medienhäusern wurden verstärkt, zwei Universitäten geschlossen.

In einer Sondersitzung des Kabinetts rief Ministerpräsident Ismail Hanija die Kämpfer auf, ihre Waffen niederzulegen und forderte Abbas auf, seine Kämpfer von den Straßen abzuziehen. Auch ein Sprecher Abbas' rief am 27. Jan. zur Ruhe auf.
Abbas hat erklärt, sollte es in spätestens drei Wochen keine Erfolge bei den Gesprächen über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit geben, werde er seinen Plan vorantreiben, Neuwahlen abzuhalten. Die Hamas ist gegen Neuwahlen.

Unterhändler der Hamas und der Fatah bemühten sich unterdessen um die Freilassung von Geiseln. Am späten Abend des 27. Jan. wurden in Chan Junis sieben Hamas-Aktivisten und vier Fatah-Mitglieder freigelassen, es befanden sich aber noch weitere Anhänger der rivalisierenden Organisationen in der Gewalt des jeweiligen politischen Gegners. Am Sonntag kam es zu neuen Geiselnahmen, unter anderem in Nablus im Westjordanland.

Um die zunehmende Gewalt in den Autonomiegebieten in den Griff zu bekommen, setzte der palästinensische Generalstaatsanwalt Ahmed Mughanni nach eigenen Angaben eine Sondereinheit aus fünf Mitarbeitern ein. Zugleich warf er den Strafverfolgungsbehörden vor, ihre Aufgaben nicht zuverlässig zu erfüllen. So seien tausende Haftbefehle ignoriert worden, erklärte Mughanni.

Nach tagelangen blutigen Kämpfen haben sich die rivalisierenden Palästinenserbewegungen Fatah und Hamas auf eine Feuerpause geeinigt. Die Vereinbarung kam bei einem Krisentreffen zwischen Regierungschef Ismail Hanija von der Hamas und und einem Vertreter von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am Abend des 29. Jan. in Gaza zustande. Bei dem Krisentreffen in Gaza, an dem auch ägyptische Sicherheitsvertreter teilnahmen, einigten sich beide Seiten darauf, die Waffen schweigen zu lassen und alle entführten Mitglieder des gegnerischen Lagers freizulassen. Zudem stellten sie eine rasche Wiederaufnahme der Gespräche zwischen Hanija und Abbas über eine gemeinsame Regierung in Aussicht. Bei den Kämpfen waren seit dem 26. Jan. mindestens 33 Menschen getötet und hunderte weitere verletzt worden.
Mit Inkrafttreten der Feuerpause kehrte nach Berichten von Einwohnern Gazas tatsächlich zunächst Ruhe ein. Kurz zuvor habe es noch sporadische Schusswechsel sowie einen Granatenangriff auf das Hauptquartier der palästinensischen Sicherheitsbehörden gegeben.

Die israelische Luftwaffe nahm erstmals seit dem palästinensisch-israelischen Waffenstillstand im November ihre Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen wieder auf. Sie reagierte auf einen palästinensischen Selbstmordanschlag im Badeort Eilat, bei dem am 29. Jan. drei Israelis getötet worden waren. Während die Waffen zwischen den verfeindeten palästinensischen Lagern schwiegen, flog die israelische Luftwaffe in der Nacht zum 30. Jan. erstmals wieder Angriffe auf Ziele im Gazastreifen. Laut einer Armeesprecherin bombardierte sie in der Nacht einen von Palästinensern gegrabenen Tunnel in der Nähe des Übergangs Karni, der für Anschläge auf israelischem Gebiet genutzt werden sollte.
Israel war am 29. Jan. erstmals seit neun Monaten wieder Ziel eines palästinensischen Selbstmordanschlags geworden. Der Täter zündete seinen Sprengsatz in einer Bäckerei des Badeorts Eilat und riss drei Menschen mit sich in den Tod.

Quellen: AFP, dpa, AP, 27.-30. Januar 2007




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