Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Auf der falschen Seite der Mauer

Mit der Errichtung der Trennmauer hat Israel Tausende Palästinenser zu illegalen Arbeitern gemacht. Ein Besuch in Umm Al Fahm

Von Asma Agbarieh

Die Nacht breitet ihren sternenbesetzten Mantel über die Olivenhaine von Umm Al Fahm, einer arabischen Stadt in Israel. Unter den Bäumen schlafen 2000 Arbeiter aus der Westbank, die keine Erlaubnis haben, in Israel zu arbeiten. Die meisten sind aus Dschenin herübergekommen – nur wenige Meilen entfernt, aber auf der anderen Seite des Trennmauer. Das ist hier keine romantische Idylle, keine Bewegung »Zurück zur Natur«. Seit Monaten leben sie in den Olivenhainen. Wasserflaschen liegen herum, die als Duschen gedient haben, Konservendosen für Gemüse, Sardinen, Thunfisch, Käse.

Mit der Errichtung der Mauer im April 2002 hat die israelische Regierung diese Arbeiter zu illegalen Grenzgängern erklärt und einen uneingeschränkten Krieg gegen sie begonnen. Gleiches gilt für arabische Staatsbürger Israels, die ihnen helfen, ins Land zu kommen, ihnen Unterschlupf gewähren oder sie beschäftigen. Die Kampagne trägt den stolzen Namen: »Gezieltes Jäten«, dem Programm der »Gezielten Liquidation«, die gegen die Anführer der palästinensischen Milizen durchgeführt werden, nachempfunden. Tausende der illegalen Arbeiter wurden ins Damun-Gefängnis in Haifa gesperrt, das für seine unmenschlichen Bedingungen bekannt ist. Hunderte werden täglich zurück in ihre Dörfer deportiert, nachdem man sie gezwungen hat, Geldstrafen zu zahlen. Doch trotz Israels Entschlossenheit kehren sie immer wieder zurück.

Die Regierung behauptet, diese Arbeiter bildeten die Infrastruktur für das, was sie Terrorismus nennt. Einige von ihnen, sagt man, versorgen ihre Familien mit Informationen, wie den Telefonnummern der Taxifahrer, die sie befördern. Die Anführer der »Terroristen« bekommen diese Informationen und benutzen sie, um ihre Ziele zu erreichen.

Die Arbeiter, die ich in Umm Al Fahm getroffen habe, weisen diese Vorwürfe zurück. So sagt Nabil, 22 Jahre alt, aus dem nahegelegenen Dorf Anin: »Diese Anschuldigungen haben keine Basis. Die Araber aus Ostjerusalem und jeder Araber, der es schafft, nach Ostjerusalem zu kommen (was noch kein Problem ist, weil die Mauer um die Stadt noch lange nicht geschlossen ist – A.A.), kann ungehindert mit dem Taxi zu irgendeinem Ort in Israel fahren. Niemand braucht Auskünfte von uns, ehe er einen Anschlag macht. Der Zweck des Trennzauns und der Grund für unsere Verfolgung ist, daß unsere Familien verhungern sollen, damit wir unsere Führer unter Druck setzen, Israel zu geben, was es will.«

Das Leben eines »Illegalen«

Um die Arbeiter zu treffen, haben wir Jaffa im Morgengrauen verlassen. Aus ihren Verstecken in den Olivenhainen kommen sie zu einem Platz in Umm Al Fahm, dem Al Midan. Hier drängen sie sich in der Hoffnung auf Arbeit zusammen. Umm Al Fahm ist selbst eine Arbeiterstadt, sie liegt auf den Anhöhen, von denen aus man Wadi Ara und das untere Galiläa überblickt, nahe dem Nordwesten der Westbank. Seine Bewohner sind arabische Bürger Israels.

Vor sechs Uhr morgens mußten wir den Al-Midan-Platz erreichen, danach sind die Jobs für diesen Tag verteilt. Von den 2 000 Bewerbern finden höchstens 300 Arbeit bei jenen Arabern, die sich trauen, sie einzustellen. Der Rest wird sich still in die Olivenhaine zurückziehen. Sie können nicht einfach in Umm Al Fahm herumlaufen. Sie müssen der Grenzpolizei aus dem Weg gehen, und sie müssen Reibereien mit den Einwohnern dieser sehr religiösen Stadt vermeiden. Fremde erregen hier Verdacht. Also verbringen sie den Rest des Tages in den Hainen, starren in den Himmel, bis ein weiterer Tag vorüber ist. Dann geht es wieder auf den Platz.

Viele kommen aus Anin, das man von Escandar, einem Hügel in Umm Al Fahm, aus sehen kann. Zehn Minuten sind es zu Fuß. »In den guten alten Tagen haben wir uns in Anin eine Zigarette angesteckt und bei der Ankunft in Umm Al Fahm ausgedrückt«, sagt Majed, 20 Jahre alt. Das war vor der Mauer. Heute dauert die Reise zehn Stunden. Von Anin aus reist ein Arbeiter durch den ganzen Norden der Westbank und schmuggelt sich nach Jerusalem hinein, von wo aus er ein Sammeltaxi zurück nach Umm Al Fahm nehmen kann. Die Reise kostet ihn zwischen 140 und 200 Schekel (etwa fünf Schekel ein Euro). Nach seiner Ankunft steht er auf dem Hügel Escandar wie Mose auf Nebo, schaut auf sein Dorf, so nah, so weit – und »wird grün vor Neid«, sagt der 40jährige Ahmed.

»Das ist die Naqba (Katastrophe) der Arbeiter«, fügt Muhammad, 32, Vater von sechs Kindern, hinzu. »Der Arbeiter wird zum hilflosen Flüchtling. Bleibt er in seinem Dorf, muß er um eine Brotkante kämpfen. Es gibt dort schlicht keine Arbeit, und wenn es mal welche gibt, verdient er 20 Schekel am Tag. Nimmt er aber das Risiko auf sich und kommt her, dann muß er mit Skorpionen und Schlangen kämpfen und der nächtlichen Kälte trotzen, und jeden Tag die Armee, die Gefahren auf der Arbeit, die sengende Sonne und der Hunger.«

Und der Tod. Vor zwei Monaten ist ein 18jähriger Arbeiter auf einer Baustelle beim Versuch, der Grenzpolizei zu entkommen, vom Gerüst gefallen. Seine Familie in einem Dorf nahe Dschenin hatte er seit drei Monaten nicht gesehen. Als er zurückkam, war er tot. Keiner der Arbeiter wußte, wie er hieß. Ein anderer ist in den Olivenhainen an einem Schlangenbiß gestorben.

Zu uns gesellte sich auch Muhammad Nasser, 30, der einige Verse des libanesischen Dichters Elia Abu Madi rezitierte:

»Die Zeit hat dreißig Jahres meines Lebens mit endloser Suche erfüllt.
Als ich mich auf der Suche nach einem Auskommen gen Westen wandte, wandte sich das Leben gen Osten; ich schwöre, versuchte ich, mich nach Osten zu wenden, kehrte es sich nach Westen.
Wir schlafen in Hütten, außer von Schrei-Eulen von allem verlassen, hier weinen wir.
Wände und Dächer zerfallen, wir sehen den Stern aufgehen und sinken.
Hart sind unsere Leben, aber weit entfernt von Demütigung, und daher schmecken sie dem edlen Geist süß.
Wenn Schmerz an meiner Seele zehrt, sage ich ihr, Geduld! Mit Geduld wirst Du erlangen, was Du suchst.«


Die Arbeiter nicken. Alle sind sich einig, daß Geduld die einzige Möglichkeit ist, wenn sie ihre Kinder ernähren wollen. Als erster sagt das Muhammad, sechsfacher Familienvater. Einige seiner Freunde und er wurden vor fünf Monaten von der Grenzpolizei angegriffen: »Sie schlugen uns und stahlen unser Geld, und dann haben sie uns deportiert. Mir haben sie 1 700 Schekel gestohlen, meinen Lohn für 20 Tage Arbeit. Wir haben Beschwerden eingereicht, aber es ist nichts geschehen. An dem Tag kehrte ich vollkommen gedemütigt in mein Dorf zurück. Wie hätte sich ein anderer Mann an meiner Stelle gefühlt, wenn er gedemütigt zu seinen Kindern zurückkehrt und sein Sohn sagen muß: »Daddy ist ohne Geld zurückgekommen. Wie würde sich sein Sohn fühlen? Das ist die größte aller Demütigungen.«

Muhammad Nasser, der Poesie-Liebhaber, hat 18 Jahre in Israel gearbeitet. »Die meisten Arbeitgeber in Umm Al Fahm zahlen ihren Arbeitern Lohn, zwischen 50 und 150 Schekeln täglich, und behandeln uns mit Respekt. Aber es gibt andere, die die Tatsache, daß wir illegal hier sind, ausnutzen, um uns auszubeuten. Mein Bruder hat eine Zeit lang für einen von denen gearbeitet, jeden Tag von sieben Uhr morgens bis elf Uhr nachts. Jede Nacht kam er in den Hain zurück und schlief auf dem Rücken, schnarchend wie ein geschlachtetes Kalb. Und nach alldem hat ihm der Kerl keinen einzigen Schekel gezahlt.«

Am Al-Midan-Platz ist ein Café, in dem die Einheimischen ab sechs Uhr morgens warten. Auch sie haben einmal auf dem Bau gearbeitet. Khaled Suleiman, 62, aus Umm Al Fahm sagt: »Was haben diese Arbeiter verbrochen? Alles was sie wollen, ist ein Auskommen und Freiheit.« Sein Nachbar Mas’ud Hussein, 42, fügt hinzu: »Ich fühle Schmerz und Mitleid mit ihnen. Wir sitzen alle im selben Loch.«

Arbeit statt Schule

Bei der Gruppe steht Muhsein, ein kleiner Mann aus Anin. Er arbeitet seit anderthalb Jahren in Israel. Er wäre in der achten Klasse, aber seit dem Tod seines Vaters muß er seine Mutter und seine zwölf Geschwister ernähren. Muhsein arbeitet als Putzhilfe, er nimmt alles, was er kriegen kann; am Tag verdient er zwischen 50 und 60 Schekel. Nach der Arbeit schläft er im Olivenhain oder neben der Tür der Moschee.

Einer seiner Kollegen, Sa’id, hat Muhsein adoptiert. Er selbst ist 18. Wir fragen Muhsein, was er nach der Arbeit macht. »Nichts.« »Sa’id, warum kaufst Du ihm keinen Fußball?« »Genau das brauchen wir, damit die Armee kommt und uns anschreit: ›Ihr habt auch noch die Nerven, hier zu spielen?‹«

Als sich das Gelächter gelegt hat, fährt Sa’id fort: »Ich habe auch nie Ball gespielt. Wenn Ihr mir einen geben würdet, wüßte ich gar nicht, wie man ihn tritt. Ich arbeite in Israel seit ich zehn war. Alle meine Brüder waren gut in der Schule, nur ich nicht, darum haben meine Eltern mich arbeiten geschickt.«

Sa’ids Familie hatte ein gutgehendes Geschäft besessen, sie hatte Raumausstattungsartikel nach Israel exportiert. In der jetzigen Intifada ist die Quelle ihres Lebensunterhalts versiegt, der Vater ist daraufhin zusammengebrochen. Für die 16 Familienmitglieder ist Sa’id zum einzigen Brotverdiener geworden. »Trotz all der Unannehmlichkeiten«, sagt er, »bin ich stolz, wenn meine Brüder und Schwestern gute Noten nach Hause bringen. Sie betrachten mich mit sehr viel Respekt, weil ich der älteste bin, und ich habe die Rolle ihres Vaters.«

Vier Jahre Intifada

Die Lösung des Problems illegaler Arbeit wäre einfach: Gebt diesen Arbeitern Erlaubnisse und laßt sie legal nach Israel einreisen. Aber das wäre nicht mit Israels Politik in Einklang zu bringen, Nabil beschreibt diese so: »Das Problem ist, daß unsere Forderungen, wie das Rückkehrrecht und Jerusalem, für Israel schwer zu schlucken sind. Nabil faßt vier Jahre Intifada zusammen: »Ehe sie begann, haben wir das Rückkehrrecht gefordert. Heute fordern wir Israels Rückzug aus unseren Dörfern und die Beendigung der Abriegelung; das Rückkehrrecht und Jerusalem haben wir vergessen. Die Intifada hat die Uhr in vielerlei Hinsicht zurückgedreht.«

Diese Arbeiter stammen aus dem »Kampfgebiet« Dschenin, das von vielen als bedeutendstes Zentrum des palästinensischen Widerstands betrachtet wird. Als wir Nabil nach den Formen fragten, die der Widerstand annimmt, formulierte er seine Antwort vorsichtig: »Das geht mich nichts an, und ich kann euch dazu nichts sagen. Ich bin Arbeiter, und ich liebe Palästina. Der Widerstand hat seine eigenen Ansichten und Forderungen, das ist sein Recht. Doch das kann ich euch sagen: Bislang haben wir noch kein gutes Resultat der Intifada gesehen.«

Ein Ausblick

Trotz dieses ernüchternden Bildes haben wir nicht ein einziges Wort der Verzweiflung gehört. Maher, 20, meinte nur: »Sie versuchen, unsere Hoffnung auszutrocknen, aber ich werde sie nicht aufgeben.« Wir fragten, warum nicht. »Weil das nicht meine Art ist.« Majed, ebenfalls 20 Jahre alt, sagte: »Solange Israel irgendwo einen Spalt offen läßt, werden wir uns zur Arbeit schmuggeln, selbst wenn wir über Hebron reisen müssen.« Andere Jugendliche schließen sich an: »Die Mauer hält uns nicht vom Arbeiten ab!« An dieser Stelle bringt Nabil eine Brise Realismus ins Gespräch: »Das stimmt nicht. Gleich da drüben liegt unser Dorf Anin, und wir können nicht hin.«

* Aus: junge Welt, 27./28. November 2004 (reportage)


Zurück zur Palästina-Seite

Zur Israel-Seite

Zurück zur Homepage