Die versteckte Wirklichkeit
Ein Bericht aus einer palästinensischen Stadt von Ghada Naser
Prof. Dr. Sumaya Farhat-Naser, palästinensische Gastrednerin beim letzten Friedenspolitischen Ratschlag, schickte uns den nachfolgenden, sehr persönlichen Bericht ihrer Tochter Ghada Naser. Darin beschreibt sie einen Tag im Leben einer Familie in einer palästinensischen Stadt. Es ist ein erschütternder Bericht, der deutlich macht, warum dem israelischen Militär daran gelegen ist, dass keine (westlichen) Jornalisten aus den militärisch okkupierten Zonen berichten.
Die versteckte Wirklichkeit
Bericht aus Birzeit vom 2. April 2002
Fast jede palästinensische Familie hat eine kleine Tasche mit
Wertgegenständen, Pässen, Geburtsschein und Zeugnissen über akademische
Abschlüsse, Schmuck und ein paar Familienbilder bereit liegen. Jede
Person
in Palästina lebt in Alarmbereitschaft und fürchtet sich vor dem
Sterben,
vor schwerer Verletzung oder davor, kaltblütig aus dem Hause, aus Stadt
oder
Land vertrieben zu werden, entweder, weil eine Panzergranate das Haus
zerstört, oder weil bewaffnete israelische Soldaten und ihre bösartigen
Bluthunde sie/ihn mit Gewalt verschleppen. Bei vollem Verständnis für
das
Pseudo-Leben als Flüchtling, ich persönlich wäre lieber tot als für
immer
ein unerwünschter Flüchtling ohne Existenz, ohne Arbeit,
Bewegungsfreiheit,
ohne wirkliches Leben.
Wir verbringen unsere Tage damit, etwas vom Schicksal unserer Lieben zu
erfahren und springen aufgeschreckt von einem Fenster zum anderen, wenn
wir
da und dort Explosionen hören. Wir robben auf dem Boden, um uns im
hintersten Winkel des Hauses zu verstecken, wenn die Panzer draußen
wieder
ziellos herumzuschießen anfangen. Rauch und Feuer verfinstern unsere
Sicht
und das Geballer der Gewehrschüsse hallt Tag und Nacht wider in den
leeren
Straßen. An Schlafen ist bei den Erwachsenen und bei den Kindern nicht
zu
denken.
Seit dem (Kar)Freitag, 29. März 2002, leben alle Bewohner von Ramallah
und
Al-Bireh und den umgebenden Städten und Dörfern in einer
unerträglichen
Atmosphäre der Angst, wie sie niemals vorher erlebt wurde. Mehr als 200
israelische Panzer finden in jeder Sekunde neue Wege, um jeden Funken
menschlichen Lebens in den Orten zu zerstören. Straßen werden mit
Baggern
aufgerissen, Gebäude angezündet, Supermärkte geplündert und
niedergewalzt,
Banken ausgeraubt und zerstört, Bäume ausgerissen, Wohnungen besetzt und
die
Jugend wird eingekerkert, erschossen, getötet.
Du brauchst nur ein palästinensischer Mann zu sein, egal ob Zivilist
oder
Uniformierter, um sofort von Israelis gefesselt oder in Handschellen
geschlossen zu werden. Frauen und Kinder sind Ziele zweiter Ordnung,
aber
ständig in Gefahr, getötet zu werden. Hunderte palästinensische
Jugendliche
und ältere Männer zwischen 16 und 50 Jahren wurden auf öffentlichen
Plätzen
zusammengetrieben. Stunden- und tagelang mussten sie in der Kälte und im
Regen stehen, ehe sie in israelische Militärgefängnisse oder lager
transportiert wurden. Den Männern werden sofort die Augen verbunden,
mit
einem Plastikdraht bindet man ihnen die Hände auf den Rücken, was sehr
schmerzhaft ist, und absichtlich wird die Fessel von den israelischen
Soldaten so eng zusammengezogen; dass die Hände in den meisten Fällen
bluten
Nach Augenzeugenberichten werden die Männer brutal gefoltert, unter
Tränengas gesetzt,
gezwungen, ihre Kleider abzulegen, und von den Bluthunden der
israelischen
Soldaten angefallen und gebissen. Die meisten dieser Männer sind
unschuldige
palästinensische Zivilisten, Nachbarn, die zufällig in einem Gebäude
oder
an einer Straße wohnen, die die israelischen Besatzungskräfte auswählen,
um
sie zu besetzen und zu zerstören. Jedermann könnte das Ziel ihrer
Angriffe
werden. Ich habe mehrmals Männer sagen hören, sie wünschten, Kinder
unter 16
oder ältere Menschen über 50 zu sein, um dadurch der Demütigung, den
Schmerzen, vermutlichen Verletzungen oder dem Tod zu entkommen.
Wie viele Tage kann ein Mensch ohne einen Tropfen Wasser und ein Stück
Brot
überleben? Die meisten palästinensischen Familien haben immer
Nahrungsmittel
gehortet, Fleisch und Brot für die Tage der Ausgangsperre und erwarteter
israelischer Invasionen eingefroren. Aber, wie viel Nahrungsmittel man
auch
horten mag, früher oder später werden sie zu Ende gehen. Viele Familien
betteln in diesen Tagen um ein Stück Brot. Israelische Streitkräfte
haben
mit Fleiß Kraftwerke niedergewalzt oder bombardiert, Stromkabel und alle
Wasserleitungen abgeschnitten. Rund 50.000 Zivilisten in Palästina sind
seit einigen Tagen ohne Nahrung, ohne Wasser und ohne Strom und das wird
noch länger dauern. Rettungsfahrzeuge dürfen Kranke, Verletzte oder Tote
nicht in die Spitäler bringen oder hungrige Familien und Kinder mit
Nahrung
versorgen. Rettungsdienste und Ärzte sind Lebensretter; weltweit sind
sie
diejenigen, die auch im Krieg im Einsatz stehen.. Nicht so in Palästina!
Viele Rettungswagen wurden von den israelischen Besatzungstruppen durch
Granaten zerstört, Ärzte und Krankenschwestern wurden getötet.
Zahlreiche
Menschen liegen auf den Straßen oder in privaten Gebäuden; sie sind tot
oder
verbluten, weil es verboten ist, ihnen Hilfe zu bringen.
Seit Tagen leben die Menschen in Ramallah und Al-Bireh unter solchen
Bedingungen; bald sind andere palästinensische Städte und Bezirke an
der
Reihe: Bethlehem, Beit Jala, Tulkarem, Qalqeelia, Jenin, Nablus; Ziel
der
Besetzer ist es, alle palästinensischen Dörfer, Städte und
Flüchtlingslager
zu erreichen. Unser Leben ist unerträglich geworden. Wenn es früher
einige
wenige palästinensische Jugendliche gegeben hat, die zu Gewaltakten
gegen
die Israelis bereit waren, so steigt ihre Anzahl gerade jetzt enorm.
Dennoch, die Mehrheit der palästinensischen Nation würde nie die
israelische
Zivilbevölkerung angreifen, aber sie betrachtet es als voll legitim,
israelische militärische Ziele und Siedler anzugreifen, die ihr Land in
der
Westbank und im Gazastreifen besetzt halten. Wir empfinden es als unser
Recht, unser Land und unser Leben zu verteidigen und Widerstand gegen
die
illegale Besetzung zu leisten. Ein wachsender Teil der Palästinenser
haben
keine Zukunftsperspektiven mehr; sie erleben in jeder Sekunde ihre
Lebens
die Demütigungen und die tiefen Verletzungen durch die israelische
Besetzung; sie haben nichts zu verlieren. Wenn es Israels Absicht ist,
"den
Terrorismus auszureißen", wobei sie ständig nach dem Vorbild USA
schielen,
warum dann Kinder ermorden, Zivilisten belagern und ihnen Wasser und
Nahrung
verweigern? Und vergessen wir für einen Augenblick menschliches Leben:
Warum werden Bäume ausgerissen, Straßen mit Baggern aufgepflügt,
Geschäfte
geplündert und Banken ausgeraubt? Ist das materielle Leben Palästinas
eine
Bedrohung ? Ist seine Existenz an sich Terror ?
Die Invasion und Besetzung einer überwiegend zivilen Nation durch
israelisches Militär ist Gewalt und in sich selbst ein nicht zu
rechtfertigender Terrorakt. Was will Israel ? Wenn es jemals den Frieden
gesucht haben sollte, ist es jetzt weit davon entfernt. Wenn es seine
Existenz sichern wollte, schafft es sich heute im Gegenteil mehr Feinde,
die
seine Existenz ablehnen. Gewalt und Terror werden mit gleichen Mitteln
beantwortet. Egal, wie lange Israel beabsichtigt, palästinensisches Land
zu
besetzen, egal, wie viele Palästinenser getötet, verletzt, eingekerkert
oder
ins Exil gejagt werden, für die jeweiligen Völker dieser Region wird es
so
nie einen Moment des Friedens geben. Der einzige Weg, die
palästinensische
Nation zum Schweigen zu bringen ist, jeden einzelnen Menschen dieser
Nation
zu töten, sei es ein Baby, ein Kind, ein Mann, eine Frau, ein Greis, in
Palästina oder im Exil. Wie soll es jetzt weitergehen nach den
Vorstellungen
Israels nach allem, was passiert ist ? Eines ist sicher: Sie wollen
das
Land ohne die Leute! Gott weiß, wie sie das erreichen wollen...
Ghada Naser
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