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Zur aktuellen Lage in den palästinensischen Gebieten und zum Stand der israelisch-palästinensischen Verhandlungen

Von Martin Schneller *


Auf Einladung der Friedrich Ebert Stiftung (FES) und der «Foreign Relations Commission» (FRC) der Fatah besuchte ich vom 01. bis 05. November 2010 Jerusalem, Ramallah und Nablus. Zweck der Reise war die Leitung eines Workshops für 25 Mitglieder der FRC zum Thema «Public Relations and Professional Communication». Der Workshop war eine von mehreren Fortbildungsmaßnahmen, die darauf abzielen, die palästinensische Sache in den Medien, bei internationalen Verhandlungen oder gegenüber dem internationalen Publikum effizienter als bisher zu vertreten.

Der Workshop bot darüber hinaus Gelegenheit zu Gesprächen über den Stand der israelischen Siedlungspolitik und über Entwicklungen bei Fatah und Hamas. Sie vermittelten einen Eindruck über die derzeitige Verhandlungsstrategie der palästinensischen Regierung, über die aktuelle Flüchtlingsproblematik sowie über die Auswirkungen der israelischen Besetzung auf die Wirtschaftslage in den besetzten Gebieten.


1) Aktuelle Entwicklungen in der Siedlungspolitik

(Briefing durch die Friedrich-Ebert-Stiftung am 02.11.2010 in Jerusalem. Die FES erstellt ihre Analysen auf der Grundlage von Informationen des «UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs», des «Israeli Committee against House Demolitions» (ICAHD), von «YESH DIN» («Es gibt ein Gesetz»), einer israelischen Menschenrechtsgruppe, welche betroffenen Bürgern aus den besetzten Gebieten rechtlichen Beistand gewährt sowie von PEACE NOW, einer weiteren israelischen NGO.)

Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: der «settlement freeze» hat praktisch keine Auswirkungen auf die Siedlungsexpansion gehabt. Deren jährliche Steigerungsrate wurde auch während des Siedlungsstops erreicht. Dass dies möglich wurde, liegt an den Ausnahmen, die der entsprechende Regierungserlass enthält: Die Einstellung des Siedlungsausbaus gilt nicht für Ost-Jerusalem; sie betrifft keine Bauvorhaben mit fertiggestelltem Fundament; ausgenommen sind außerdem Bauvorhaben für die «öffentliche Sicherheit», sonstige öffentliche Gebäude, Infrastrukturvorhaben sowie gewerbliche und industrielle Bauarbeiten und Ausnahmefälle mit besonderer Begründung.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt wird – bei Fortsetzung der Siedlungsexpansion – die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates nicht mehr erreichbar sein. Bei derzeit 300.000 Siedlern auf der Westbank halten manche Beobachter diesen Zeitpunkt für bereits gekommen. Übereinstimmung herrscht jedoch, dass er nicht mehr weit entfernt ist.

Auch während des «settlement freeze» war die Bautätigkeit in den besetzten Gebieten höher als innerhalb Israels. Besonders betroffen ist davon Ost-Jerusalem, das systematisch in den israelischen Stadtteil integriert wird. Ein Besuch im Bezirk Sheikh Jarrah in Ost-Jerusalem führte absurde Situationen vor Auge: Eine Familie wurde von israelischen Siedlern aus ihrem Haus vertrieben; die bisherigen Bewohner leben seither auf der anderen Straßenseite in einem Zelt. Der Rechtstitel für derartige Evakuierungen sind Urkunden aus der osmanischen Zeit, welche Besitzansprüche für die vor knapp hundert Jahren dort lebenden Juden nachweisen. Der Oberste Gerichtshof in Israel hat diese Urkunden als rechtskräftig bestätigt, so dass weiteren 80 palästinensischen Familien die Ausweisung aus ihren Häusern droht. Dieses Urteil ist insofern zweischneidig, als 400.000 palästinensische Flüchtlinge Besitzurkunden für Grundstücke im heutigen Israel besitzen, die aus der britischen Kolonialzeit stammen, deren Rechtskraft nicht geringer als die osmanischen Dokumente sein dürften.

Israel setzt einerseits die weitere Kolonisierung der Westbank unvermindert fort. Darüber hinaus hält der israelische Staat weiterhin an dem De-facto Baustopp für Palästinenser auf 60 Prozent ihres Territoriums fest. Dieser Baustopp geht auf das Osloer Interim Agreement von 1995 zurück, das bekannterweise das palästinensische Territorium – mit Ausnahme Ost-Jerusalems – in A-, B- und C-Gebiete mit unterschiedlichen Sicherheits- und Verwaltungsbestimmungen aufteilt. Die A- und B-Gebiete umfassen städtische und ländliche Ballungszentren, die der vollen oder teilweisen palästinensischen Verwaltung unterstellt wurden.

Das verbleibende C-Gebiet – nahezu 60 Prozent der Westbank – bleibt bis heute unter der ausschließlichen Kontrolle der israelischen Besatzung, einschließlich Landverwaltung und Planung. Die Vereinbarung von 1995 war nur als Übergangsmaßnahme vor dem Transfer an die Palästinenser gedacht. Sie ist unverändert in Kraft, weil die Übertragung der Verwaltungshoheit nie stattfand.

Die Folge ist, dass alle palästinensischen Bauvorhaben in diesem Gebiet auch heute der Genehmigung durch die israelischen Behörden unterliegen. Diese werden selten erteilt, im Durchschnitt etwa ein Dutzend pro Jahr.

Dem stehen die jährlich rund 1000 Baugenehmigungen gegenüber, welche israelischen Siedlern in dem C-Gebiet in den vergangenen Jahren erteilt wurden. Die Zuständigkeit der Palästinenischen Autonomiebehörde (PA) für palästinensische Planungs- und Bauvorhaben bleibt damit auf 40 Prozent ihres Territoriums beschränkt.

Dieser zentrale Punkt scheint bei den Verhandlungen bisher nicht angesprochen zu werden. Die Aufhebung des Baustopps für Palästinenser im C-Gebiet und eine entsprechende Veringerung der Genehmigungen für israelische Siedler wären ein deutliches Zeichen, dass Israel es mit der Beendigung der Besatzung ernst meint. Dem Friedensprozess würde ein solcher Schritt einen substantiellen Impuls verleihen.

Derzeit gibt es in der Westbank insgesamt 550 Bewegungshindernisse, darunter 69 permanent und 20 zeitweise bemannte Checkpoints, 104 Straßensperren zur Kontrolle und 61 Roadblocks zur Verhinderung des Fahrzeugverkehrs sowie 152 Erdwälle und 21 Gräben mit dem gleichen Zweck.

Die Sperranlage an sich, zu deren Errichtung jeder souveräne Staat auf seinem Territorium das Recht hat, ist – wie bekannt – nicht das eigentliche Problem, sondern ihr Verlauf. Bei Fertigstellung wird die Anlage nach derzeitiger Planung zu 85 Prozent auf palästinensischem Territorium verlaufen. Dadurch werden 125.000 Menschen von drei Seiten und 35.000 Menschen komplett eingeschlossen.

Zum Gesamtbild der Siedlungstätigkeit gehört auch die beunruhigende Zunahme gewalttätiger Übergriffe der Siedler. Sie ist im vergangenen Jahr um 117 Prozent gestiegen. Gewaltakte der Siedler werden in der Regel nicht geahndet, über 90 Prozent der registrierten Übergriffe bleiben seitens der israelischen Behörden ohne rechtliche Folgen. Bei einem Besuch in Nablus nahmen wir an einem Gespräch im dortigen Büro des «International Committee of the Red Cross» (ICRC) teil. Einer der Mitglieder des Büros, Alfredo Martins, registriert die Übergriffe der Siedler in der Umgebung von Nablus und leitet sie an die israelischen Behörden weiter. Wir wurden Zeugen einer Sitzung, bei der eine lokale Jugendorganisation einen Brief übergab, der einen nächtlichen Überfall auf eine palästinensische Schule dokumentierte, die von Siedlern in Brand gesteckt wurde.

2) Innenpolitische Entwicklungen in den besetzten Gebieten und im Gaza Streifen

(Briefing in der FES am 02.11.2010 in Jerusalem und Veröffentlichungen der FES: siehe insbesondere Michael Bröning und Henrik Meyer: Neugeburt in Bethlehem. Die Fatah nach dem 6. Generalkongress, Kurzberichte aus der Arbeit der FES im Nahen Osten.)

Der 6. Generalkongress der Fatah vom 04. – 10. August 2009 stellt ein wichtiges Datum für die Weiterentwicklung der Fatah von einer Widerstandsbewegung zu einer politischen Partei dar. Der derzeitige Präsident, Machmud Abbas, ging gestärkt aus dem Kongress hervor. Vor allem aber gab es einen fast revolutionären Wechsel in der gesamten politischen Führung. Im Zentralkomitee der Fatah wurden von den 18 Mitgliedern insgesamt 14 von Jüngeren besetzt. Die alte Garde tritt ab und macht einer neuen, pragmatischeren Generation Platz, welche den Verzicht auf Gewalt, die Anerkennung des israelischen Staates und die Bereitschaft zu einer Verhandlungslösung das Konflikts deutlicher als je zuvor festschreibt.

Aber auch bei der Hamas sind Veränderungen in Richtung Pragmatismus und Akzeptanz der bestehenden Realitäten unübersehbar. In keiner aktuellen Erklärung der Partei finden sich Hinweise auf die Charta von 1988 (siehe unten). Im Wahlprogramm der Hamas von 2005 stehen vielmehr bildungspolitische Fragen, Verwaltungsreform und Bürgerrechte im Vordergrund. Das Recht auf bewaffneten Widerstand, das sich ebenfalls im Parteiprogramm findet, tritt demgegenüber eindeutig in den Hintergrund.

Die normative Kraft des Faktischen wirkt somit auch bei der Hamas – sichtbar an dem Umschwenken von der Rhetorik einer Zerstörung Israels und der Errichtung eines palästinensischen Staates vom Mittelmeer bis zum Jordan (Charta von 1988) hin zur De-facto Befürwortung der 2-Staaten-Lösung. Jihadistische Gruppen innerhalb und außerhalb der Hamas haben diesen Kurswechsel heftig kritisiert und schrecken auch vor gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht zurück. Diese Kritik dürfte ein Grund sein, weshalb von der Hamas auch in naher Zukunft keine formale Akzeptanz des Existenzrechts Israels zu erwarten ist. Diese wird erst das Ergebnis erfolgreicher Friedensverhandlungen sein. Sie als Voraussetzung für Gespräche mit der islamistischen Partei zu fordern, ist unrealistisch. In der Wahrnehmung der Hamas ist die Politik der Nicht- Anerkennung eine Trumpfkarte, die man nicht vorzeitig auszuspielen bereit ist.

Wenn auch mit erheblichem Zeitunterschied, spielen sich somit bei Fatah wie bei Hamas Entwicklungen zu mehr Pragmatismus und moderateren Positionen ab. Es ist an der Zeit, diese Veränderungen in Europa und Amerika stärker als bisher wahrzunehmen und die notwendigen Politikkorrekturen durchzuführen. (siehe zu diesen Veränderungen Michael Bröning und Henrik Meyer: Zwischen Konfrontation und Evolution : Parteien in Palästina, in ApuZ 9/2010).

3) Zum gegenwärtigen Stand der israelisch-palästinensischen Verhandlungen

(Gespräch mit Dr. Abdullah Frangi, dem ehemaligen palästinensischen Vertreter in Deutschland und jetzigem außenpolitischen Berater von Präsident Abbas am 02.11.2010 in der Muqata’a, dem Regierungssitz der PA in Ramallah.)

Die Unterhaltung drehte sich um die einseitige Ausrufung eines palästinensischen Staates binnen Jahresfrist und um die Frage, ob die Palästinenser den Verhandlungstisch verlassen sollten, wenn sich Israel nicht zu einem neuen Siedlungsmoratorium verpflichtet.

Frangi sprach sich eindeutig gegen eine einseitige Erklärung aus, die im übrigen bereits vor Jahren erfolgt sei. Vordringlich sei vielmehr eine multilaterale Initiative in den Vereinten Nationen mit dem Ziel, die Mehrheit in der Generalversammlung für die Anerkennung eines palästinensischen Staates zu gewinnen. Frangi meinte, daß die Europäer in Übereinstimmung mit dem Tenor ihrer bisherigen Erklärungen eine solche Initiative unterstützen würden, und gab der Hoffnung Ausdruck, dass sich auch die deutsche Bundesregierung einem europäischen Konsens nicht verschließen würde. Dieser könne wiederum positive Auswirkungen auf die Meinungsbildung in den USA entfalten.

Die Nahostpolitik Präsident Obamas habe Präsident Abbas noch keineswegs abgeschrieben. Der Machtverlust des Präsidenten nach den «midterm elections» und die schwindende Aussicht auf eine zweite Amtszeit können nach Ansicht Frangis sogar dazu beitragen, dass sich Obama aus ureigenster Überzeugung wieder verstärkt einer Lösung des Konflikts zuwenden würde. In einer solchen Situation dürfe man keine Blockaden errichten. Man müsse unbeirrt an der palästinensischen Verhandlungsbereitschaft festhalten und diese nicht zur Geisel der israelischen Siedlungspolitik machen. Auch in der israelischen Öffentlichkeit wachse das Unbehagen an der Politik Netanyahus, der nach Ansicht Frangis weder den Willen noch die Kraft besitze, einen wirklichen Siedlungsstopp durchzusetzen. Neue Koalitionen seien keineswegs auszuschließen. Die Aufrecherhaltung des amerikanischen und europäischen Drucks gegen die Siedlungspolitik sei auch in diesem Zusammenhang von ausschlaggebender Bedeutung.

Überlegungen in der Fatah (Nabil Shaath) zu einer Selbstauflösung der PA bei Scheitern der Verhandlungen, mit der die volle Verantwortung für die Sicherheit, Versorgung und Verwaltung der besetzten Gebiete auf Israel übertragen würde, lehnte Frangi entschieden ab. Die Folgen eines solchen Schrittes seien unkalkulierbar; alles, was an institutionellem Aufbau in den vergangenen zwei Jahren erreicht worden sei, könne dadurch zunichte gemacht werden.

Keineswegs auszuschließen seien infolge einer solchen «Ein-Staat- Lösung» die ungebremste weitere Kolonisierung der Westbank und eine Stärkung der radikalen Kräfte in Israel, deren Ziel unverändert die Integration der besetzten Gebiete in das israelische Staatsgebiet sei. Leider könne man nicht darauf vertrauen, dass die internationale Gemeinschaft Israel zur Einstellung solcher Aktivitäten zwingen werde, von der arabischen Welt ganz zu schweigen.

Auf die Frage, ob bei den konkreten Vorschlägen, welche die palästinensische Seite den Israelis zu Beginn der derzeitigen Verhandlungsrunde übergaben, Grundgedanken der Genfer Initiative eine Rolle gespielt hätten, bejahte Frangi. Ihr Tenor sei in vielen Vorschlägen wiederzufinden, andere Problembereiche wie die detaillierten Ausführungen zur Flüchtlingsfrage seien derzeit jedoch verfrüht. Die Genfer Initiative habe am Ende eines Verhandlungsprozesses gestanden, in dessen Verlauf ein hohes Maß an Vertrauen zwischen israaelischen und palästinensischen Verhandlungsführern erreicht worden sei. Mit der Regierung Netanyahu stehe man heute wieder am Anfang.

4) Zur Flüchtlingsproblematik

(Gespräch im Flüchlingslager Balata bei Nablus am 01.11.2010 mit dem Koordinator für Internationale Beziehungen, Mahmoud Subuh.)

Das Lager wurde nach dem ersten israelisch-palästinensischen Krieg 1949 auf einer Fläche von einem Quadratkilometer für 5000 Flüchtlinge errichtet. Heute leben auf der gleichen Fläche 25.000 Menschen. Bei 40 Prozent Arbeitslosigkeit in Balata aufgrund des begrenzten Arbeitsmarkts haben nur wenige Flüchtlinge den Sprung aus dem Lager geschafft.

Derzeit kürzt das UN-Flüchtlingswerk (UNWRA) als zuständige Organisation der Vereinten Nationen Gehälter, Zuwendungen für Hospitäler und Schulen sowie Nahrungsmittelhilfe drastisch. Hinter den Budgetproblemen der Vereinten Nationen vermutete der Gesprächspartner auch politischen Druck, der in dem Versuch bestehe, die Sichtbarkeit des Flüchtlingsproblems in der internationalen Gemeinschaft zu verringern. Die fortdauernde Unterstützung durch die Vereinten Nationen akzentuiere die Existenz dieser ungelösten Frage in prominenter Weise.

Ein Rundgang durch die engen Gassen des Lagers führte die unerträglichen Bedingungen vor Augen, unter denen Generationen von Flüchtlingen seit mehr als 60 Jahren leben. Unser Gesprächspartner machte eindringlich auf die Gefahren aufmerksam, die ein Scheitern der derzeitigen Verhandlungen heraufbeschwören könnten: eine erneute Explosion aus Enttäuschung und Verzweiflung geborener Gewalt, deren Gewinner heute die radikalen Kräfte innerhalb der Hamas, aber auch Al-Qaeda, und deren Verlierer der moderate und pragmatische Flügel unter den Palästinensern sein werde.

Die Gefahr einer neuen Eskalation besteht für die besetzten Gebiete insgesamt. Die derzeit mit Hilfe der USA und der EU ausgebildeten palästinensischen Sicherheitskräfte sind die besten, die es je gegeben hat. Bei einem Ausbruch erneuter gewaltsamer Auseinandersetzung wird man jedoch daran zweifeln müssen, ob ihr Professionalismus und ihre Disziplin aufrecht erhalten werden können. Berichten zufolge sieht auch der israelische Geheimdienst dieses Risiko, wenn reale Fortschritte zu einem palästinensischen Staat ausbleiben.

Für eine Lösung des Problems hielt der Gesprächspartner die Anerkennung der Mitverantwortung Israels für die Entstehung der Flüchtlingsfrage für unerlässlich. Hier handele es sich schlicht um die Feststellung einer historischen Tatsache. Nach einem solchen entscheidenden Schritt werde man über vieles verhandeln können einschließlich der in der Genfer Initiative angesprochenen Optionen – Rückkehrrecht in den neuen palästinensischen Staat, Integration in die bisherigen Aufnahmeländer, Entschädigung oder Rückkehr einer begrenzten Zahl durch mit Israel ausgehandelte Quoten. Für die überwiegende Mehrzahl der Flüchtlinge stehe, wie in zahllosen Meinungsumfragen bestätigt, nicht die physische Rückkehr nach Israel im Vordergrund, sondern der Wunsch nach einem normalen Leben nach 60 Jahren unter hoffnungslosen Bedingungen.

5) Zur Wirtschaftslage (Gespräch mit Prof. Dr. Abdelfattah Abu Shokor, Dean, Faculty of Economics, Universität Nablus am 01.11.2010.)

Zunächst ein Wort zur Universität Nablus: 1977 gegründet, derzeit 22.000 Studenten, davon 52 Prozent Frauen. Der Lehrkörper besteht ausschließlich aus palästinensischen Dozenten; kein Austausch mit europäischen oder amerikanischen Universitäten, weil ausländische Lehrkräfte eine israelische ID benötigen, die in der Regel nicht erteilt wird.

Prof. Shokor beziffert die Arbeitslosigkeit in den besetzten Gebieten auf über 25 Prozent. Sie beträgt bei jüngeren Arbeitssuchenden und Frauen über 30 Prozent, in Flüchtlingslagern ca 50 Prozent. Die Absorptionsfähigkeit des Arbeitsmarktes sei begrenzt. Arbeiteten bis 2000, das heißt vor Ausbruch der Zweiten Intifada, noch 40 Prozent der Beschäftigten in Israel, seien es heute nur noch 13 Prozent (10 Prozent in Israel, 3 Prozent in den israelischen Siedlungen). Außerdem habe die Nachfrage aus den Golfstaaten erheblich nachgelassen.

Eine eigenständige palästinensische Wirtschaftspolitik gibt es gemäß den Ausführungen des Gesprächspartners nicht. Israel kontrolliert alle Wirtschaftszweige. So benötigt jede Bank auf der Westbank eine israelische Lizenz, Exporte und Importe gehen durch den israelischen Zoll oder über israelisches Staatsgebiet und können jederzeit beschränkt werden. Die palästinensische Wirtschaft hat trotz beachtlicher Wachstumsraten das Niveau von 1999 aufgrund der im Laufe der Zweiten Intifada zerstörten Infrastruktur noch nicht wieder erreicht.

Das Wachstum ist regional sehr unterschiedlich und konzentriert sich gegenwärtig vor allem auf Ramallah und Umgebung. Ein Großteil aus- und inländischer Investitionen geht in dieses Wirtschaftszentrum der Westbank, dessen Dynamik auch durch die Präsenz diplomatischer Vertretungen («Verbindungsbüros») sowie zahlreicher internationaler Organisationen und NGO’s gefördert wird. Auch der Abbau einiger checkpoints und Erleichterungen an weiter bestehenden hat zur Belebung der Wirtschaft beigetragen. Deutlich wurde dies auch in Nablus. Noch bis vor zwei Jahren von der Außenwelt abgeschnitten, hat sich die Lage durch Zugangserleichterungen gebessert.

Fazit des Gesprächs: Solange die israelische Kontrolle der palästinensischen Wirtschaft fortbesteht, dürfte es keine ökonomische Stabilität geben. Damit aber fehlt eine der Voraussetzungen für erhöhte Investitionstätigkeit und für den Abbau der Arbeitslosigkeit.

6) Schlußfolgerungen

Als vorherrschender Eindruck ergibt sich, dass von der gegenwärtigen israelischen Regierung keine Fortschritte zu einer Lösung zu erwarten sind. Eine strategisches Konzept zum Ausgleich der legitimen Interessen beider Konfliktpartner ist nicht zu erkennen. Die Regierung Netanyahu versucht stattdessen, mit taktischen Schritten Zeit zu gewinnen. Dahinter scheinen in erster Linie innenpolitische Beweggründe zu liegen, das heißt der Machterhalt der gegenwärtigen Koalition. Die Hoffnung auf Zeitgewinn durch taktische Schritte setzt außerdem die bisherigen Politik fort, durch Schaffung von «facts on the ground» die schleichende Annexion der Westbank vorwärtszutreiben. Angesichts des Machtverlustes der Demokraten bei den jüngsten Wahlen in den USA dürfte in Israel auch die Hoffnung auf eine «one-term-presidency» Obamas gestiegen sein und damit die Hoffnung auf einen nächsten Präsidenten, der Israel gegenüber geneigter ist.

Auf palästinensischer Seite setzt man, zumindest was die Regierung Abbas betrifft, eindeutig auf Verhandlungen und gewaltfreien Widerstand. Bei der Hamas liegen die Dinge komplizierter. Jedoch trifft auch hier der ständige Hinweis auf die Charta von 1988 nicht mehr die Realität im Jahre 2010 und ignoriert die vielfältigen Signale des gemäßigten Flügels der islamistischen Partei. Ein langfristiger Waffenstillstand, welcher de-facto die Zwei-Staaten-Lösung impliziert, wurde bereits in der Vergangenheit mehrfach angeboten. Der Einfluss der moderaten Kräfte, welche gegenwärtig in unterschiedlichem Maße die Ausrichtung der palästinensischen Politik bestimmen, dürften durch einen Rückschlag bei den gegenwärtigen Verhandlungen erneut marginalisiert werden.

Um eine dann zu erwartende Eskalation des Konflikts zu vermeiden, ist die aktive Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für den «historischen Kompromiss» – das heißt die Teilung in zwei Staaten unerläßlich – nicht nur rhetorisch, sondern durch konkreten politischen Nachdruck. Israel verdankt seine Entstehung dem Teilungsbeschluß der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1947. Es geht gegenwärtig darum, die andere Hälfte des Beschlusses durch die Gründung eines palästinensischen Staates zu verwirklichen. Wenn es eine Lehre aus der israelisch-palästinensischen Auseinandersetzung gibt, dann diese:Auf sich gestellt, werden Israelis und Palästinenser, vor allem aufgrund der Asymmetrie der zwischen ihnen herrschenden Machtverhältnisse, zu keinem Ausgleich ihrer legitimen Interessen gelangen. Ohne das Engagement der internationalen Gemeinschaft ist die Herstellung eines »level playing field» undenkbar.

Auch die europäische Nahostpolitik ist aufgefordert, hierzu ihren Beitrag zu leisten. Als oberste Priorität der deutschen Außenpolitik wird immer wieder die Friedenspolitik genannt. Konkret auf den Konflikt angewandt, dürfte es den Bemühungen um den Frieden im Nahen Osten und damit der besonderen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels eher entsprechen, sich bei einer künftigen Abstimmung in den Vereinten Nationen für die Anerkennung des palästinensischen Staates und damit für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts auszusprechen, statt sich in unproduktiver Solidarität mit der jeweiligen Regierung in Israel dem überfälligen historischen Kompromis zu verschliessen.

* Dr. Martin Schneller war zuletzt Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Jordanien. Am 03. Dezember 2010 hat der Chefdiplomat der Palästinensischen Autonomiebehörde Saeb Erarat aufgrund der fortgesetzten Bautätigkeit Israels in Ost-Jerusalem den Friedensprozess für gescheitert erklärt. Dass diese Entscheidung in der palästinensischen Führung nicht unumstritten ist, belegt Schnellers Bericht aus Ramallah.

Quelle: Website von Reiner Bernstein; www.reiner-bernstein.de



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