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Gekommen, um zu bleiben!

Von Wolfgang Sréter *

Als erstes fällt die absolute Ruhe in Taybeh auf. Die Straßen sind um die Mittagszeit menschenleer. Nur ein paar Sammeltaxis fahren die Hauptstraße entlang. Irgendwann läutet eine Glocke. Taybeh ist eines der wenigen christlichen Dörfer, die es noch in den palästinensischen Gebieten gibt. Der Ort liegt etwa dreizehn Kilometer nördlich von Ramallah. Man weiß nicht, ob unter dieser Ruhe unerschütterliche Gelassenheit oder ohnmächtige Ergebenheit gegenüber dem Schicksal der Besatzung liegt. Der palästinensische Filmemacher Mohammed Alatar meint allerdings, unter dieser Ruhe liege eine äußerst gefährliche Mischung aus Verzweiflung und Wut über den fortgesetzten rechtswidrigen Landraub durch israelische Siedler in der Westbank.

In Taybeh, das bekannt ist für die einzige Brauerei im Westjordanland, trifft es nun zum wiederholten Mal Christen. Eine Kirche etwas außerhalb des Ortes, die mit ihrem eingezäunten Hof auch als Ausflugsziel der Gemeindemitglieder dient, wurde von orthodoxen Siedlern aus Ofra gewaltsam besetzt. Die weiß-blaue Flagge mit dem Davidstern flatterte als Zeichen der Eroberung über dem Gebäude. Die Bewohner von Taybeh konnten die Siedler zwar am selben Tag noch vertreiben, aber die militanten Eroberer haben in der Nähe ihr Lager aus Zelten aufgeschlagen und es ist zu befürchten, dass sie zurückkommen. Dies lehrt die inzwischen jahrzehntelange Erfahrung. Rund um das Gebäude wurden Flaschen mit Benzin gefunden. Die Vermutung, dass die Kirche angezündet werden sollte, liegt nahe. Als sich die Gemeinde schließlich in großer Zahl zum Gebet versammelte, zog die israelische Armee auf und setzte zur Vertreibung der Betenden Tränengas ein.

Der Erzbischof von Jerusalem, Fouad Twal, kam zu einem Solidaritätsbesuch und versprach an höherer Stelle zu intervenieren. Auf meine Frage an den Bürgermeister Nadim Barakat, ob das hilft, hebt dieser die Arme. Die israelische Armee stehe auf Seiten der Siedler und ermuntere sie damit zu immer neuen Aktionen. Dann zündet er sich eine weitere Zigarette an und schenkt Tee ein. „Wir sind von einem Ring aus vier israelischen Siedlungen eingeschlossen. Trotzdem hatten wir nie Angst um unsere Kirche, denn der Grund, auf dem sie steht, gehört dem Lateinischen Patriarchat in Jerusalem. Dies ist kein empty land.“

Empty land, so bezeichnet die israelische Regierung Land in der Westbank, von dem sie behauptet, es gehöre niemandem und stehe deshalb zur freien Verfügung. Die palästinensische Seite sieht das anders. Ihrer Meinung nach wurden alle Siedlungen mit inzwischen mehr als 500.000 Bewohnern, auf konfisziertem Land errichtet. Damit befindet sie sich nicht nur in Übereinstimmung mit der US-amerikanischen Regierung und der UNO, sondern auch in Übereinstimmung mit internationalem Recht, denn die vierte Genfer Konvention verbietet die Ansiedlung von Zivilbevölkerung der Besatzungsmacht auf besetztem Gebiet.

Diese Auffassung lehnt Doran Schneider entschieden ab. Für ihn ist die Besatzung nicht illegal, denn aufgrund der Bibel gehören Judäa und Samaria – also die besetzten Gebiete – seit Jahrtausenden den Juden. Er lebt seit zwanzig Jahren in Ma’ale Adumin, einer Stadt östlich von Jerusalem, die man mit mehr als 45.000 Einwohnern nicht mehr mit dem Begriff Siedlung bezeichnen kann. Für ihn gehören die Mauer und die Siedlungen zusammen. Die Mauer muss in die besetzten Gebiete hineinreichen, um die Siedlungen vor den Angriffen der Araber, wie er sich ausdrückt, zu schützen. Anlässlich eines Besuches begrüßt er ausdrücklich die neuen Bauvorhaben in Ma’ale Adumin, die im Stil mit ihrem hellen Sandstein und den Ziegeldächern allen anderen Siedlungen ähnlich sein werden.

Und auf seiner Homepage kann man lesen: „Wenn Israel auf die ständigen Verbote der Welt und der UNO – jüdische Siedlungen in Israel zu bauen – gehört hätte, dann wäre das Land heute noch so wüst und leer wie vor 65 Jahren.“ Seiner Meinung nach kultivieren und begrünen die Siedler das Land, das aber seit Jahrhunderten sehr wohl von Beduinen als Weideland genutzt oder in heute noch erkennbarer Terrassenbauweise mit Olivenbäumen bepflanzt wurde. Den Einwand, dass der massive Bau ganzer Städte die Landschaft heute eher versiegelt und zur Wasserknappheit beiträgt, lässt er nicht gelten.

Von Bruce Brill liegt „Die Lösung des großen Humanisten“ vor. Er wohnt in der Siedlung Kfar Eldad südöstlich von Bethlehem, bezeichnet sich selbst als Mideast Security Analyst und möchte alle Palästinenser in den Irak umsiedeln. Er beruft sich dabei auf das Vorhaben eines amerikanischen Staatssekretärs Herbert Hoover aus dem Jahr 1945. Seiner Meinung nach wäre dieser ausgezeichnete Plan auch heute noch durchführbar und zwar zum Wohle der Palästinenser und des Irak gleichermaßen. Dass es sich dabei um 2,7 Millionen Menschen allein im Westjordanland handelt, darunter etwa 680.000 Flüchtlinge, die schon einmal Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts vertrieben wurden und deren Dörfer heute auf keiner israelischen Landkarte mehr zu finden sind, schreckt ihn nicht. Am Ende des Besuches bekommt man seinen Vorschlag schriftlich, mit der Bitte, ernsthaft darüber nachzudenken und für seine Verbreitung zu sorgen.

Bob Lang dagegen ist für gute Nachbarschaft mit den Palästinensern, allerdings auch für ein hartes Durchgreifen der Armee, wenn es mit ihnen Probleme geben sollte. Er ist in New York geboren. Vor vierzig Jahren entschloss er sich in das Land seiner Vorväter zurückzukehren, wie er betont. Er lebt heute in der Siedlung Efrata und ist innerhalb der Gemeinde für Public Relations zuständig. Die Mehrheit der Bewohner arbeitet in Jerusalem, das dank der Schnellstraßen, die eigens für die Siedler gebaut wurden und von Palästinensern nicht befahren werden dürfen, in einer halben Stunde erreicht werden kann. Er führt Besucher gern auf die höchste Erhebung seiner Heimat und breitet die Arme aus. „Sie sehen von hier aus sechs Hügel. Fünf sind inzwischen mit Eigentumswohnungen bebaut. Auf dem sechsten stehen Caravans. Sie werden von den israelischen Behörden solange mit Strom und Wasser versorgt, bis auch dort Häuser stehen.“ Im Gegensatz zu Doron Schneider aus Ma’ale Adumin ist er mit der israelischen Regierung, was den Siedlungsbau betrifft, nicht zufrieden. „Zu zögerlich und zu viel Bürokratie“, meint er. Bob Lang ist für eine Einstaatenlösung, aber dieser Staat muss ein jüdischer sein und das Recht auf Rückkehr darf nur für Juden gelten. Auch für Juden, die in New York geboren sind, aber nicht für Palästinenser, die nach 1948 oder 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg das Land verlassen mussten.

Wenn es nach den radikalen Siedlern in Hebron, das im Süden von Efrat liegt, ginge, wäre die Stadt längst von Palästinensern gesäubert. Aus gewaltsam besetzten Häusern warfen sie so lange Steine, Flaschen, Matratzen und sogar Möbel, bis über dem Bazar ein massives Stahlgitter angebracht wurde. Es wurde Urin aus den Fenstern geschüttet. Ein Gitter hilft dagegen wenig. Der Besucher geht unter dem Müll an vielen Läden vorbei, die leer sind, weil die Besitzer die ewigen Angriffe nicht mehr aushalten konnten oder die israelische Armee, die von Wachtürmen den palästinensischen Teil der Innenstadt kontrolliert, die Läden geschlossen hat.

Internationale Beobachter bringen palästinensische Kinder in ihre Schulen und versuchen sie vor den Angriffen der Siedler zu beschützen, Straßensperren behindern die Bewegungsfreiheit für Palästinenser und damit die wirtschaftliche Entwicklung. Hebron war einmal der größte Umschlagplatz für Waren im Süden des Landes. Die landwirtschaftlichen Produkte kamen aus dem ganzen Westjordanland.

Taysir Amarna ist einer der Landwirte, die seit vielen Generationen ihr Land in Akkaba nördlich von Tulkarem bewirtschaften. Von seinem Hof aus kann der Bauer die neue Grenze sehen, durch die er 85% seiner Anbaufläche verloren hat. Nur an drei Tagen in der Woche kann er durch ein Tor im elektrischen Zaun gehen und auf seinen Feldern arbeiten, vorausgesetzt, er hat von der Besatzungsmacht zusätzlich einen Berechtigungsschein für sich selbst, seinen Traktor und die Pflanzen bekommen.

Er berichtet dem palästinensischen Mitarbeiter der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem, mit dem ich unterwegs bin, dass sein Land vier bis fünf Mal im Jahr brennt. Er sieht dann hilflos von seinem Haus aus zu, wie die Ernte vernichtet wird. „Warum brennt immer nur mein Land?“ fragt er, während er frisch gepressten Orangensaft anbietet. Er hat den Eindruck, dass er der nahegelegenen Siedlung Metser ein Dorn im Auge ist und vertrieben werden soll. Von den 15% des restlichen Landes könnten allerdings er und seine Familie tatsächlich nicht leben. Sie müssten das Land verlassen und damit jeglichen Anspruch auf ihr Eigentum aufgeben. Taysir Amarnas Angst ist nicht unbegründet, wie man dem Plan von Bruce Brill entnehmen kann.

Die Pumpstationen im Jordantal sehen aus wie Festungen. Zäune die die Israel National Water Co. Mekorot errichtet hat, sind mindestens drei Meter hoch. Außerdem hat die israelische Armee von ihren Beobachtungsposten aus ein wachsames Auge auf jeden Besucher, der sich im Tal bewegt. Es gibt in diesem Teil der besetzten Gebiete, wie Mekorot auf der Homepage behauptet, Herausforderungen die Sicherheit betreffend. Den Beduinen im Tal, die teilweise seit vielen hundert Jahren hier ihre Viehzucht betreiben ist es bei Strafe verboten, das Wasser zu benützen. Dementsprechend stehen Tankwagen bei den Zeltdörfern, auch wenn neben der Straße ein munterer Bach sprudelt. Das Wasser ist für die vielen Siedler, die hier Plantagen betreiben. Wer in Deutschland Datteln aus Israel kauft kann davon ausgehen, dass sie aus dem Jordantal kommen.

Die Beduinen werden mehr und mehr die trockenen und unfruchtbaren Hänge des Jordantales hinauf getrieben. Außerdem müssen sie zum Teil in Bereichen leben, in denen die israelische Armee Übungen mit scharfer Munition durchführt. Es steht ihnen allerdings frei, ihre Weidegründe zu verlassen.

Nicht immer werden die Übergriffe der Siedler tatenlos hingenommen. Das Dorf Jayyous südlich von Jenin hat 2008 gegen die neue Grenzziehung vor einem israelischen Gericht geklagt. 2009 haben die Kläger nach einem langen und kostspieligen Prozess ihr Recht erstritten. Seither warten sie darauf, zumindest einen Teil des verlorenen Landes zurück zu bekommen. Es werden leider nur 240 Hektar und eine Quelle sein, während 530 Hektar und drei Quellen auf israelischer Seite verbleiben.

Als Anfang des Jahres mit den Vorbereitungsarbeiten zur Grenzverlegung begonnen wurde, tauchten plötzlich Siedler mit ihren Caravans auf. Obwohl es sich um einen sogenannten illegalen Außenposten handelt, wurden sie von israelischen Stellen eine Woche später mit Strom und Wasser versorgt. Eine private Wachfirma sichert die Wagenburg nun rund um die Uhr. Der im letzten Herbst neu gewählte Bürgermeister Ghassan Khaishi sieht die Entwicklung mit Sorge. Er vermutet, dass die Siedler facts on the ground schaffen wollen, denn noch jeder Caravan sei irgendwann durch Häuser ersetzt worden. Er weist darauf hin, dass Naftali Bennetts Partei „Jüdisches Heim“ inzwischen das israelische Wohnungsbauministerium zugesprochen bekommen hat, das auch für den Siedlungsbau zuständig ist. Der Parteivorsitzende hatte sich im letzten Wahlkampf ausdrücklich für die Ausdehnung bestehender und die Genehmigung neuer Siedlungen ausgesprochen.

Außerdem erschwert die neue Situation die Arbeit auf den Feldern. Rund um jede Siedlung gibt es eine Special Security Area von etwa 500 m. Das Betreten dieser Sicherheitszone ohne Erlaubnis wird mit einer Strafe von bis zu 200 000 NIS (ca. 42.000 €) oder drei Jahren Gefängnis geahndet. Nach Protesten der Bewohner von Jayyous gegen die neuen Siedler wurden in einer Strafaktion der israelischen Armee in einer nächtlichen Razzia sechzehn Jugendliche verhaftet. Zum großen Teil Studenten, die kurz vor ihrem Examen standen. Der Bürgermeister weiß, was die Jungen erwartet. Er wurde selbst bereits fünf Mal verhaftet und hat insgesamt vier Jahre seines Lebens in israelischen Gefängnissen verbracht. Die Bauern aus Jayyous leiden unter der israelischen Armee genauso, wie die Gläubigen in Taybeh oder die Händler in Hebron.

Betrachtet man heute eine Karte des Westjordanlandes, so stellt man fest, dass die Siedlungspolitik der verschiedenen israelischen Regierungen seit 1967 zu einem enormen Landverlust für die Palästinenser und zu einer geographischen Zersplitterung beigetragen hat. Die Palästinenser leben im eigenen Land in Enklaven, mit Mauern, elektrischen Zäunen und Straßensperren. Es gibt kein zusammenhängendes Staatsgebiet mehr, das eine Zwei-Staaten-Lösung möglich machen würde.

* Wolfgang Sréter lebt als freier Autor in München.
2011 erschien seine bebilderte Reportage:
Straßensperren und Granatäpfel. Eindrücke aus einem besetzten Land. Texte und Fotos. Pahl-Rugenstein Verlag 2011, 56 S., farbige u. s/w Fotos; ISBN 978-3-89144-435-1



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