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Permanente Provokation im Nahen Osten

Von Khalil Toama (Palästinenser mit israelischem Paß, Deutsch-Palästinensische Gesellschaft e. V.)

Seit Ende September dieses Jahres gibt es in den palästinensischen Gebieten Westbank und Gazastreifen blutige Auseinandersetzungen: Die Palästinenser leisten Widerstand gegen die Israelische Besatzungsmacht, eine neue Intifada. Doch auf die Steinwürfe von palästinensischen Jugendlichen antworten die israelischen Streitkräfte mit massivem Einsatz von Kampfhubschraubern und Panzern. Nach etwa sieben Wochen sind auf der palästinensischen Seite über 180 Tote und 5000 Verletzte zu beklagen, auf der israelischen Seite hingegen etwa 30. Ein Drittel der Toten sind Kinder.

Fast alle Beobachter sind sich einig, dass der "Spaziergang" des israelischen Superfalken Ariel Sharon, auf der für gläubige Moslems heiligen Stätte, Haram Al-Scharif, auch Tempelberg genannt, der Auslöser für die palästinensischen Proteste war. Vergessen wird, dass der israelische Ministerpräsident Ehud Barak zwei Tage zuvor erklärt hat, dass die Altstadt Jerusalems inklusive aller Heiligen Stätten "ewig in israelischer Hand bleiben werden" und keine Verhandlungsmasse darstellen. Offen bleibt, ob es stimmt, was "böse Zungen aus der Region" meinen, Sharon wolle durch diesen Schachzug den Konflikt von der nationalen auf die religiöse Ebene heben. Dahinter steckt die These, dass sich Israel bei einem religiösen Konflikt zwischen "Judentum" und "Islam" der Unterstützung durch den Westen sicherer sein kann. Dass dieser Gewaltausbruch trotz eines siebenjährigen Friedensprozesses und gemeinsamen Abkommen erfolgt bedarf einer näheren Betrachtung.

Zur Entwicklung des Friedensprozesses

Als die Organisation zur Befreiung Palästinas (PLO) beschlossen hatte, die Rechte des palästinensischen Volkes in und um Palästina nicht mehr durch den bewaffneten Kampf sondern durch Verhandlungen mit Israel durchzusetzen erschien vielen Menschen dieser Weg vielversprechend. Schließlich wurde er nicht nur von der "zivilisierten" Völkergemeinschaft favorisiert, sondern auch von den übrigen arabischen "Bruder-Staaten". Erst bei Beginn der Verhandlungen zwischen Israel und den arabischen Staaten in Madrid, und dann während der Gespräche zwischen Israel und den Palästinensern in Oslo wurde klar, dass Israel nicht bereit war, über bestimmte Themen, die es als tabu betrachtete, zu verhandeln. Unter der Drohung, die Gespräche würden sonst platzen und mit ihnen das lang ersehnte Ziel, der Friede, sind diese "heiklen" Themen mit Zustimmung der Palästinenser aufgeschoben worden. Dabei geht es jedoch um das Herz des Konflikts: Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge und Wiedergutmachung, Wasserverteilung, staatliche Souveränität, israelisch - jüdische Siedlungen, (Ost)Jerusalem und die Frage von anerkannten Grenzen.

Doch trotz dieser Zugeständnisse seitens der PLO ist bisher wenig geschehen: Seit dem ersten Abkommen (Oslo I) sind mehr als sieben Jahre vergangen. Vor anderthalb Jahren hätten sich die Israelis vertragsgemäß aus dem Großteil der von ihnen besetzten Gebieten zurückziehen müssen, was schließlich die Abschlußrunde der Verhandlungen über die "Tabus" zur Folge gehabt hätte. Statt dessen hat sich jedoch die Zahl der Siedler in den besetzten Gebieten verdoppelt (inzwischen leben dort 200.000 Siedler), die Palästinensische Nationale Autorität (PNA) regiert nur in einem Bruchteil der Gebiete (12%), israelische Siedlungen und die Stadt (West)Jerusalem werden ständig erweitert, Wasser wird zu Ungunsten der Einheimischen verteilt (ein Siedler bekommt zwischen 6 bis 10 mal mehr Wasser als ein Palästinenser) und die palästinensischen Orte werden durch Umgehungsstraßen zerstückelt, die die israelischen Siedlungen verbinden sollen. Die Arbeitslosigkeit beträgt 60% in Gaza und 40% in der Westbank. Vor dem Osloer Abkommen betrug das jährliche pro Kopf Einkommen der Palästinenser etwa 5.200 DM, heute knapp 2.000 DM weniger. Von den vertraglich versprochenen vier "sicheren" Verbindungsstrecken zwischen Gazastreifen und Westbank ist nur eine errichtet worden. Die Verbindung mit der Außenwelt, die über den Flughafen in Gaza garantiert werden sollte, hängt nach wie vor vom guten Willen Israels ab. Israel entscheidet allein darüber, wer fliegen darf, wann, von wo aus und wohin gereist werden darf. Damit blieb die von den Palästinensern erhoffte Souveränität ein frommer Wunsch.

Die Illusion von Gleichberechtigung

Israel ist, dank der massiven Unterstützung aus dem Westen, die stärkste Nation im Nahen Osten. Hinzu kommt, dass beide Parteien asymmetrisch betrachtet werden, besonders was historische Anrechte, Aspirationen und Notwendigkeiten zum Leben und Überleben anbelangt.

Israel betreibt seit 33 Jahren eine Politik von einseitigen Schritten, die mit Zustimmung der USA erfolgen und im krassen Widerspruch zum Völkerrecht stehen. Jeder Versuch, diese Politik zu verurteilen und darauf die angemessene völkerrechtliche Antwort zu geben, scheitert am Vetorecht der USA, oft begleitet von den Gegenstimmen oder Enthaltungen der europäischen Staaten. So ist der Friedensprozess mittlerweile zu einer Veranstaltung verkommen, bei der Israel mit Rückendeckung der amerikanischen "Vermittler" seine Vorstellungen zu diktieren versucht. Und auch die Bundesregierung agiert in diese Richtung. So hat Bundeskanzler Gerhard Schröder bei seiner Nahost-Reise alle Parteien vor einseitigen Schritten gewarnt - ein Appell, der in erster Linie an die Palästinenser gerichtet war.

Es wird oft vergessen, dass die Palästinenser ihre territorialen Ansprüche auf 22% vom palästinensischen Boden reduziert haben, indem sie die UNO-Resolution 242 akzeptiert haben. Die israelische Regierung verhandelt um eben diese 22% und wird dabei von den USA unterstützt. Dabei wird der Eindruck vermittelt, dass jedes Prozent, das Israel von "Restpalästina" nicht beansprucht, eine großzügige Geste darstellt. In der Folge ist nunmehr die palästinensische Seite an der Reihe und muss eine entsprechende Gegenleistung erbringen.

Perspektiven?

In der unipolaren Welt mit den USA als einzig verbleibende Supermacht können die Palästinenser von den Amerikanern keine neutrale Vermittlungstätigkeit erwarten. Der Grund ist u. a. auch inneramerikanisch zu sehen, eine proisraelische Lobby nimmt erheblich Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik. Zu hoffen bleibt, dass die Länder, die an einem dauerhaften und gerechten Frieden im Nahen Osten interessiert sind, auf eine strengere Einhaltung der UN-Resolutionen drängen, damit das Völkerrecht nicht weiter an Glaubwürdigkeit verliert. Die Schlacht um die palästinensischen Gebiete muß aufhören. Das Leben und Wohlwollen der unter Besatzung lebenden Palästinenser bedarf, bis zur endgültigen Lösung des Konflikts, dem Schutz durch Internationale Truppen und Beobachter.

Um für die Region einen dauerhaften Frieden zu erreichen müssen Ungleichheiten abgebaut und Vormachtstellungen aufgehoben werden. Eine Friedenslösung ist nur möglich, wenn Vertrauen und Gerechtigkeit aufgebaut werden und hierzu müssen gleichberechtigte und gleichgewichtige Partner miteinander verhandeln.

Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass die Zeit drängt, denn schließlich wollen wir eine friedliche Lösung des Konfliktes. Oder?
Aus: Friedenspolitische Korrespondenz, Nr.3/2000, S. 6-7

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