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Palästina: Chancen für eine wirtschaftliche Entwicklung?

Wider die Weltbank-Strategie - Eine Kontroverse

Am 19. November 2002 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel von Claus P. Astrup und Sébastien C. Dessus über "Wege aus der Armut in Palästina". Darin wird den Palästinensern eine Entwicklungsstrategie empfohlen, die auf Überlegungen und Konzepten der Weltbank beruht und im Wesentlichen einen stark exportorientierten Ansatz verfolgt. Die beiden Autoren arbeiten auch für die Weltbank: Claus P. Astrup beaufsichtigt die Aktionen der Weltbank im Westjordanland und in Gaza; Sebastien C. Dessus, ein führender Ökonom der Weltbank, ist zur Zeit mit der Überwachung der palästinensischen und libanesischen Wirtschaft betraut.
Mit deren Auffassung setzt sich in einer Entgegnung Reiner Bernstein kritisch auseinander. Ob Bernsteins Artikel ebenfalls in der SZ zum Abdruck kommen wird, entzieht sich Augenblick unserer Kenntnis. Wir wollen unseren Besuchern die Argumentation auf keinen Fall vorenthalten, da Bernstein die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten realistischerweise sehr stark mit der politischen Frage der Souveränität und Gleichberechtigung Palästinas verbunden sieht.

Zum besseren Verständnis der Argumentation von Bernstein dokumentieren wir zunächst ein paar Auszüge aus dem SZ-Artikel:

... Hauptsächlich wegen ihrer trostlosen Geschichte seit 1948 verfolgten die Palästinenser im Westjordanland und in Gaza eine Entwicklungsstrategie, nach der sie eher Arbeitskräfte als Güter exportiert haben. Im Juni 2000, drei Monate vor Beginn der gegenwärtigen Intifada, arbeiteten 21 Prozent aller Palästinenser in Israel, vor allem als Hilfsarbeiter im Baugewerbe. Die Nettoeinkommen aus dem Ausland waren um mehr als 22 Prozent höher als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Autonomiegebiete. Kein Land der Welt ist in vergleichbarer Weise von Geldüberweisungen von außen abhängig.
Die blutrünstige Politik, die seit September 2000 vorgeherrscht hat, ließ die extreme Anfälligkeit dieser Entwicklungsstrategie erkennen. Es ist also dringend erforderlich, die wirtschaftlichen Grundlagen im Gebiet der Palästinenser neu zu durchdenken. Israels Arbeitsmarkt ist nun den Palästinensern verschlossen und wird sich wahrscheinlich so bald nicht wieder für sie öffnen, um es vorsichtig auszudrücken.
...
Natürlich ist die erbärmliche Funktionsweise der palästinensischen Wirtschaft nicht nur das Ergebnis der drastischen Verminderung der Anzahl der in Israel beschäftigten Palästinenser. Noch schädlicher wirken sich die verhängten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Güter und Menschen im Westjordanland und in Gaza aus. Der in den letzten Monaten aufgezwungene Belagerungszustand in fast allen großen palästinensischen Städten sperrt die Menschen in ihre Wohnungen ein. Damit ist die Wirtschaft praktisch zum Erliegen gekommen.
Zudem müssen Lastwagen, die Güter zwischen palästinensischen Städten und Dörfern transportieren, vor dem Eintritt in eine Stadt jedes Mal komplett entladen und neu beladen werden, um es dem israelischen Militär zu ermöglichen, die Lieferung zu untersuchen. Das verteuert die Geschäftstätigkeit ungemein und trägt zu einer allmählichen und heimlichen Aufsplitterung des Westjordanlandes bei.
... Auf längere Sicht könnte es möglich sein, die vorhandenen Mittel in exportorientierte Geschäftsfelder umzuorientieren. Da die geringeren Beschäftigungsmöglichkeiten in Israel und der Rückgang der Geldüberweisungen die Löhne gesenkt haben, steigt die Konkurrenzfähigkeit im Export. Wird mehr Gewicht auf den Export gelegt, könnte das selbst schon das Wachstumspotential der palästinensischen Wirtschaft anheben, indem es anspornt zu Innovationen, zu Investitionen und dazu, den Schlendrian zu reduzieren.
Die Weltbank hat kürzlich zwei Entwicklungsstrategien miteinander verglichen. Die erste basiert auf der Grundlage des Güterexports, die zweite vertraut weiterhin auf die Möglichkeit, Arbeitskräfte zu exportieren. ...
In dem einen Szenario ging man davon aus, dass sich der israelische Arbeitsmarkt zunehmend wieder öffnen werde. In einem anderen wurde angenommen, dass er bis 2010 verschlossen bleiben wird. Beim Vergleich der Ergebnisse dieser beiden Simulationen zeigte sich, dass das starke Abfließen palästinensischer Arbeitskräfte nach Israel die Exportkapazität der palästinensischen Wirtschaft beeinträchtigt, weil es die Löhne nach oben drückt und die Konkurrenzfähigkeit untergräbt.
Die Simulationen ließen ebenfalls erkennen, dass ein fortgesetztes Vertrauen auf die Ausfuhr von Arbeitskräften zu einem niedrigeren Wachstumspotential der palästinensischen Wirtschaft führen wird, als eine Konzentration auf den Güterexport. Doch das Einkommensniveau wird bei der zuletzt genannten Strategie im Westjordanland und in Gaza viel niedriger sein als in einer Situation, bei der sich der israelische Arbeitsmarkt allmählich wieder für palästinensische Arbeitskräfte öffnen würde. Zudem muss kurzfristig mit riesigen Fürsorgekosten für die palästinensische Gesellschaft gerechnet werden, wenn der Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt versperrt bleibt.
...
... Doch dass die palästinensischen Arbeitskräfte an ihre Arbeitsplätze in Israel zurückkehren können, ist keineswegs gewiss. Dies macht die Übernahme einer Gewerbepolitik, die den Handel mit dem Rest der Welt erleichtert, sogar noch wichtiger.
Ohne eine solche globale Handelsmöglichkeit könnten das Westjordanland und Gaza vor der Tatsache stehen, weder Güter noch Arbeitskräfte zu exportieren. Und das würde noch schlimmere und tragischere Folgen für das palästinensische Volk haben.

Auszüge aus: Süddeutsche Zeitung, 19.11.2002


Kein Wandel durch Handel - eine Entgegnung

Von Reiner Bernstein

Roman Herzog hat vor einigen Jahren, als die Konjunkturentwicklung zu Sorgen Anlass bot, den deutschen Unternehmern geraten, mehr als bisher in politischen Kategorien und Begriffen zu denken statt sich allein auf die ökonomische Vernunft zu verlassen. Ob diese Anregung in der Zwischenzeit auf fruchtbaren Boden gefallen ist, mag dahingestellt bleiben. Zu vermuten wäre allerdings, dass Politik und Ökonomie längst eine Ehe in internationalen Institutionen mit milliardenschweren Haushalten eingegangen sind.

Dass Rechnungen wie diese ohne den Vergabewirt gemacht worden sind, lässt ein Beitrag aus dem Hause der Weltbank erkennen, der Wege aus der Armut in Palästina weisen soll . Geht man davon aus, dass die Überschrift in der Verantwortung der Redaktion liegt, die den Terminus "Palästina" als staatspolitische Vokabel verwendet, obwohl ihm bestenfalls ein geopolitisches Format zukommt, so legen es die beiden Autoren Astrup und Dessus auf den Beweis an, dass eine renovierte palästinensische "Entwicklungsstrategie" auf dem Arbeitsmarkt sowie im Bereich von Handwerk und Gewerbe zum wirtschaftlichen Vorteil der Westbank und des Gazastreifens ausschlagen werde.

Eine solches Kalkül stellt jedoch die Realität auf den Kopf, weil es Ursachen und Wirkungen verwechselt. Der Wortlaut der Prinzipienerklärung von Oslo legte es trotz aller gegenteiligen Beteuerungen nicht auf einen palästinensischen Staat an. In grober Überschätzung der ihr zugesprochenen psychologischen Dynamik, die Israel bei den bevorstehenden Verhandlungen zum Einlenken zwingen werde, kam die palästinensische Abhängigkeit über einen labilen Autonomiestatus nicht hinaus und blieb weit unterhalb der nationalen Souveränitätsebene. Denn die israelische Regierung mit Rabin und Peres an der Spitze scheute vor dem Quantensprung eines mehr oder minder vollständigen Rückzugs aus den besetzten Gebieten zurück, weil sie zu Recht befürchtete, eine solche Entscheidung innenpolitisch nicht zu überleben. Als Rabin sich schließlich durchrang, zumindest Teile der Westbank aufzugeben, bezahlte er diese Entscheidung fünf Wochen später mit dem Tod.

Zu Missverständnissen gibt nicht minder die Kennzeichnung des Pariser Protokolls zwischen beiden Seiten vom April 1974 Anlass. Wenn die Autoren von einer "Zollunion" sprechen, dann setzen sie eine Tradition fort, die der frühere Weltbank-Präsident Stanley Fischer auf die Erwartung der künftigen Integration beider Wirtschaften gründete. Tatsächlich jedoch hat sich an den asymmetrischen Marktbeziehungen von damals nichts geändert, diese sind vielmehr in der Zwischenzeit außer Kontrolle geraten. In den siebziger Jahren hatte ein Team von israelischen und palästinensischen Wirtschaftsfachleuten vor dem Risiko eines "Wirtschaftsimperialismus" gewarnt und wollten es neben Israel auch auf Jordanien verteilen, das sich um die Rückgewinnung der 1967 verlorenen Westbank bemühte. Heute trägt die Bevormundung einseitige israelische Züge. Dass Arafat von einer Mitverantwortung für diese Entwicklung nicht freizusprechen ist, liegt auf der Hand: Die Konzentration aller politischen Energien auf die Staatsgründung vernachlässigte den Aufbau einer von bilateralen Krisen unabhängigen Wirtschaftsordnung, so dass Zehntausende Wanderarbeiter gezwungen waren, das Brot ihrer Familien in Israel zu suchen. Dass diese Steuerung ihres Lebens nicht ihrem politischen Willen entsprach, dürfte sich unter den Bedingungen der Besatzung ihrer Städte, Dörfer und Felder von selbst verstehen.

Ganz offensichtlich wird in Kreisen der Weltbank nach wie vor übersehen, wie stark die wirtschaftliche Entwicklung der palästinensischen Gebiete von ihrem politischen Status abhängt. Mag für andere Weltgegenden der Satz "Handel durch Wandel" gelten, so verhält es sich hier genau umgekehrt: Die politische Souveränität der Palästinenser bildet die notwendige Prämisse für die Stimulierung von einheimischen Wachstumspotenzialen. Ansonsten bleibt es dabei, dass die Verweigerung der politischen Ebenbürtigkeit mit der Sperrung von Flug- und Seehäfen für den palästinensischen Export und mit der Zerstörung der wirtschaftlichen Infrastruktur in den besetzten Gebieten einhergeht. Die Mahnung Roman Herzogs hat offensichtlich New York noch nicht erreicht.

Der Autor hat sich zu diesem Thema ausführlich unter der Überschrift "Kein Wandel durch Handel" in seinem Buch "Der verborgene Frieden. Politik und Religion im Nahen Osten" (Berlin 2000) geäußert.


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