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Brisante Lage im Gazastreifen

Auch die palästinensische Regierung hat Interesse an der Rückkehr der entführen israelischen Jugendlichen

Von Oliver Eberhardt *

Israels Luftwaffe hat am Wochenende erneut Ziele im Gazastreifen bombardiert. Palästinas Regierung protestiert – und ist dennoch froh über den Militäreinsatz gegen die Militanten.

Es sind eigentümliche Szenen, die in diesen Tagen im Gazastreifen zu beobachten sind: Zuerst greifen aus der Luft israelische Kampflugzeuge an. Und dann, kurz darauf, rücken bewaffnete Einheiten der palästinensischen Polizei an und besetzen die angegriffenen Stellungen. Wohlgemerkt jene Einheiten, die erst vor einigen Wochen aus der Hamas-Polizei und Sicherheitskräften der palästinensischen Regierung in Ramallah gebildet worden sind. Mindestens ein Dutzend mal ist das so geschehen, und jedes Mal waren es, nach Aussage beider Seiten, Einrichtungen der Essedin-al-Kassam-Brigaden und des Islamischen Dschihad, die angegriffen wurden.

Diese beiden miteinander verfeindeten Kampfgruppen haben eines gemeinsam: Sie hören nicht auf die palästinensische Regierung, und auch nicht auf die Hamas, und das, obwohl die Kassam-Brigaden offiziell den militärischen Flügel der Organisation darstellen, die den Gazastreifen bis vor Kurzem allein regierte. Immer wieder hatten sich die beiden Gruppen seit dem letzten Gaza-Krieg im Herbst 2012 Gefechte mit Sicherheitskräften der Hamas geliefert, die in die Grenzregion verlegt worden waren, um Raketenbeschuss auf Israel zu verhindern. Man wolle keine neue Eskalation mit Israel, sagen Funktionäre der Hamas, und drücken Sorge darüber aus, dass man nicht wisse, was mit den drei Jugendlichen passiert sei, die seit zweieinhalb Wochen im Westjordanland vermisst werden.

Ist das glaubhaft? Dafür spricht, dass auch Vertreter des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth und des israelischen Militärs eingestehen, dass man nach wie vor im Dunkeln tappt. Bei einer von langer Hand geplanten Aktion müsste aber irgend jemand Bescheid wissen, irgend jemand etwas gesehen oder gehört haben.

Offiziell verurteilt die neue palästinensische Regierung die israelischen Militäreinsätze, bezeichnet die Hamas Präsident Mahmud Abbas als »israelische Marionette« (Ex-Gaza-Regierungschef Ismail Hanijeh). Doch auf beiden Seiten wird zugleich die Befürchtung geäußert, dass sich die vielen Kampfgruppen, die sich im Schatten der zweiten Intifada in den palästinensischen Gebieten gebildet haben, auch gegen einen selbst richten könnten. »Unsere Regierung befindet sich in einer sehr schwierigen Situation«, sagt der palästinensische Journalist Walid Khalili: »Sie will international anerkannt werden, kann aber der israelischen Regierung nicht zu nahe stehen.«

Denn es sind nicht nur die israelischen Militäreinsätze, die in der palästinensischen Öffentlichkeit für Wut sorgen. Am Montag wird die Knesset zudem auch über ein Gesetz abstimmen, mit dem die Zwangsernährung von hungerstreikenden palästinensischen Gefangenen in Verwaltungshaft erlaubt werden soll. Dabei handelt es sich um eine Art Sicherungsverwahrung, bei der Gefangene ohne Urteil bis zu sechs Monate festgehalten werden können. Hungerstreiks sind ein oft angewandtes Mittel, mit dem diese Palästinenser ihren Forderungen Ausdruck verleihen: Erst vergangenen Woche war nach 63 Tagen ein solcher Streik mit einer Einigung zu Ende gegangen. Das neue Gesetz solle künftig verhindern, dass Israel unter Druck gesetzt werden könne, sagt Jitzhak Aharonowitsch, Minister für innere Sicherheit. Nur – selbst wenn das Gesetz angenommen werden sollte, dürfte es dennoch kaum angewandt werden: Die israelische Ärztekammer hat approbierten Ärzten bereits verboten, bei einer Zwangsernährung mitzuwirken. Kritiker sehen darin eine Folter-Methode.

* Aus: neues deutschland, Montag, 30. Juni 2014


"Die israelische Regierung hat jedes Maß verloren"

Drei Jugendliche wurden entführt, die Hamas soll schuld sein. Palästinenser leiden unter Vergeltung. Ein Gespräch mit Katja Hermann *

Katja Hermann ist seit Ende 2012 Leiterin des Regionalbüros Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Sitz in Ramallah/Westbank.

Seit knapp drei Wochen werden drei junge israelische Siedler aus dem Gebiet zwischen Hebron und Bethlehem im Westjordanland vermißt. Die israelische Regierung beschuldigte von Anfang an die palästinensische Organisation Hamas, sie entführt zu haben, was diese wiederum abstreitet. Welche Strategie steckt hinter dem Vorgehen Israels?

Niemand weiß, was mit den Jugendlichen geschehen ist, bislang gibt es meines Wissens weder ein Bekennerschreiben noch einen Kontakt zu Entführern. Ob die Hamas damit zu tun hat, ist erst einmal Spekulation – fest steht aber, daß Israels Regierung ihr Verschwinden dazu ausnutzt, die Lage in den palästinensischen Gebieten zu destabilisieren. Sie will die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die neu eingesetzte Übergangsregierung und den ohnehin fragilen Versöhnungsprozeß zwischen der Fatah im Westjordanland und Hamas in Gaza torpedieren.

Die israelische Regierung hat geradezu panisch auf die Versöhnung zwischen Fatah und Hamas reagiert. Als dann am 12. Juni die drei Jugendlichen verschwanden, machte Israel umgehend die Hamas verantwortlich. Die Armee holte zu einem Rundumschlag aus, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Es gab Durchsuchungen von Häusern, Verhaftungen, Erschießungen. Opfer waren auch Leute, die keine Verbindung zur Hamas hatten. Israel hat jedes Maß verloren.

Israel hat bereits mehr als 400 Palästinenser verhaftet, einige wurden getötet, viele verletzt. Wie reagiert die palästinensische Autonomiebehörde darauf?

Die PA ist in einer schwierigen Lage – und sie dahin zu bringen, war wohl eines der Ziele dieser Militäraktion. Auf der einen Seite kritisiert sie das Vorgehen der israelischen Armee scharf. Andererseits steht sie unter Druck – sollte sich nämlich herausstellen, daß die Hamas tatsächlich hinter dem Verschwinden der Jugendlichen steckt, wäre das eine große Belastung nicht nur für die Übergangsregierung, sondern auch für den gesamten Versöhnungsprozeß. Wahrscheinlich wäre es auch dessen Ende. Es wäre übrigens falsch, die PA für eine autonome Institution zu halten, sie ist in vielerlei Hinsicht von Israel abhängig.

Welche Bedeutung hat diese Abhängigkeit für die Bevölkerung?

Für die Palästinenser bedeutet das, daß ihre Regierung sie nicht nur nicht schützt, sondern teilweise das Vorgehen Israels auch noch flankiert. Vor einer Woche ist die israelische Armee erstmals seit Ende der 2. Intifada wieder ins Stadtzentrum von Ramallah eingedrungen, einer Stadt, die laut Oslo-Abkommen seit 1994 unter palästinensischer Hoheit steht. Ramallah ist die Quasihauptstadt, dort gibt es die Regierung, internationale Organisationen, eine halbwegs florierende Geschäftswelt und schicke Hotels und Restaurants. Ramallah vermittelt eine Vision von Normalität.

Es ist wieder einmal klargeworden, daß diese Normalität eine Illusion ist: Auf dem Platz vor der palästinensischen Polizeistation im Stadtzentrum kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und steinewerfenden Palästinensern. Einer wurde erschossen, Dutzende verletzt. Als das Militär abzog, entlud sich die Wut der Palästinenser gegen die eigene Polizei, das Kommissariat wurde mit Steinen beworfen, Einsatzwagen wurden zerstört.

Die Gefangenenhilfe Addameer gibt an, daß zum Stichtag 1. Mai 5271 palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen einsaßen. Davon 192 in sogenannter Verwaltungshaft, ohne Anklage und Prozeß. Acht von ihnen sind Mitglieder des palästinensischen Parlaments. Womit rechtfertigt Israel deren Gefangennahme?

Hausdurchsuchungen und Verhaftungen werden in der Regel mit »Sicherheitsbedenken« begründet. Leute werden festgenommen, weil sie eventuell eine Gefahr darstellen könnten, wirkliche Begründungen gibt es nicht.

Israel setzt immer wieder Drohnen ein, um unliebsame Palästinenser gezielt zu töten. Dazu gibt es eine Studie, die der Politologe Dr. Atef Abu Saif aus Gaza in Deutschland vorstellen will. Worum geht es in dem Papier?

Es geht darum, daß Israel in Gaza seinen eigenen »Krieg gegen den Terror« führt – und wie anderswo auch sind hier die meisten Opfer Zivilisten. Wir halten es für wichtig, eine kritische Öffentlichkeit zur Situation im Gazastreifen herzustellen. Die Situation ist nicht hinnehmbar, die Abriegelungspolitik sowie der Drohnenbeschuß müssen beendet werden.

Interview: Lena Ghazaleh

** Aus: junge Welt, Montag, 30. Juni 2014


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