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Konstruktion der Nation

Vor 50 Jahren wurde die PLO in Jerusalem gegründet

Von Knut Mellenthin *

Die PLO (Palestine Liberation Organisation) wird 50. Da die Palästinensische Befreiungsorganisation im Verlauf eines Kongresses gegründet wurde, der vom 28. Mai bis zum 2. Juni 1964 dauerte, variieren die Angaben über ihren Geburtstag. Mit der kämpferischen Organisation der 1970er und 1980er Jahre oder mit dem heutigen Verwaltungsapparat in der von Israel seit nunmehr bald 47 Jahren besetzten Westbank hatte die 1964 ins Leben gerufene PLO allerdings kaum etwas gemeinsam. Die Gründung erfolgte auf Initiative mehrerer arabischer Regime. Sie sollte hauptsächlich dazu dienen, die Palästinenser unter Kontrolle zu halten und sie gleichzeitig politisch zu instrumentalisieren.

Die formale Entscheidung zur Gründung der PLO fiel auf der ersten Gipfelkonferenz der Arabischen Liga (AL), die vom 13. bis 19. Januar 1964 in Kairo stattfand. Sie war durch Gespräche zwischen einigen Staatsoberhäuptern und anderen Politikern in den vorangegangen Monaten vorbereitet worden. Da die AL schon 1945 gegründet worden war, mutet es seltsam an, daß es erst 19 Jahre später erstmals zu einer Gipfelkonferenz kam. Offenbar hatten die Gegensätze zwischen den Führern der Mitgliedsstaaten – sieben bei der Gründung der AL, 13 im Jahre 1964 – ein solches Treffen bis dahin verhindert.

Zu der Konferenz im Januar 1964 hatte Ägyptens damals 46jähriger Präsident Gamal Abdel Nasser eingeladen. Er propagierte den Zusammenschluß aller Araber zu einem gemeinsamen Staat, ging dabei jedoch sehr offen und aufdringlich von einer Führungsrolle Ägyptens auf allen Ebenen aus. Die 1958 proklamierte Vereinigung mit Syrien war von der Regierung in Damaskus im September 1961 aufgekündigt worden. Im Dezember desselben Jahres war auch der Jemen – damals auf den Nordteil des heutigen Staates beschränkt –, der sich der »Vereinigten Arabischen Republik« (VAR) in konföderativer Form angeschlossen hatte, abgesprungen. Trotzig nannte sich Ägypten aber zur Zeit des ersten AL-Gipfels immer noch VAR.

Offizielles Hauptthema des Treffens im Januar 1964 war ein einstimmig angenommener Plan, Israel durch die Ableitung zweier Zuflüsse des Jordan in Syrien und im Libanon zu schädigen. Praktisch erwies sich diese Absicht als nicht durchführbar, unter anderem, weil Israel mit Luftangriffen auf syrische Ziele reagierte und weil der Plan auch Jordanien getroffen hätte. Zur Verstärkung des Kampfes gegen Israel, wie es hieß, beauftragten die in Kairo versammelten Staatsoberhäupter den 57jährigen Ahmad Schukairi, die Gründung einer Palästinenserorganisation in die Wege zu leiten.

Schukairi, ein im Südlibanon geborener Palästinenser, ist ein gutes Beispiel für die Situation dieser sich damals erst herausbildenden Nation, die zugleich Teil der arabischen Welt war. Der als Rechtsanwalt ausgebildete Schukairi hatte 1949–1950 der syrischen UN-Mission angehört und später das saudische Königreich bei den Vereinten Nationen vertreten. Seit September 1963 war er – von niemandem gewählter, sondern von den arabischen Staaten ernannter – Repräsentant der Palästinenser in der AL. Nach dem Beschluß der Gipfelkonferenz bestand Schukairis Aufgabe in den nächsten Monaten darin, die über viele Staaten verstreut lebenden palästinensischen Gemeinschaften zu besuchen, die geplante Organisationsgründung zu erläutern und zu diskutieren, und schließlich auch, bei der Auswahl der Delegierten mitzuwirken.

Die Zahl der Teilnehmer, die am 28. Mai 1964 als Palästinensischer Nationalrat zur Gründung der PLO zusammenkamen, ist unterschiedlich überliefert. 422 sollen es nach manchen Quellen gewesen sein, zwischen 390 und 400 nach anderen Angaben. Der Tagungsort lag in der Osthälfte Jerusalems, die damals noch zu Jordanien gehörte und erst drei Jahre später, im Junikrieg 1967, von Israel besetzt wurde. Der jordanische König Hussein fungierte als Gastgeber und Schirmherr der Konferenz. Schukairi wurde, kaum überraschend, zum Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Befreiungsorganisation gewählt, dessen übrige 15 Mitglieder er selbst aussuchen durfte.

Zu den Tätigkeiten des Kongresses gehörte die Beschlußfassung über die Palästinensische Nationalcharta, die die Widersprüche zwischen dem von Nasser propagierten Panarabismus einerseits und der Konstituierung der Palästinenser als selbstständige Nation andererseits ausbalancieren sollte. Die damit verbundenen Probleme wurden schon im Artikel 1 der Charta deutlich: »Palästina ist ein arabisches Heimatland, das durch starke arabisch-nationale Verbindungen mit den übrigen arabischen Ländern verbunden ist, mit denen zusammen es das größere arabische Heimatland bildet.«

Von einem eigenen palästinensischen Staat ist in der Charta nicht explizit die Rede, auch wenn Artikel 16 in diese Richtung weist. Dort heißt es, daß die Palästinenser in die Lage gebracht werden sollen, »Frieden und Sicherheit in ihrem Territorium herzustellen« und »ihre nationale Souveränität und Freiheit auszuüben«.

Was dies angeht, besteht jedoch in der Charta ein offensichtlicher Widerspruch: Artikel 2 definiert das Gebiet Palästinas gemäß seinen Grenzen zur Zeit des Mandats, das dem britischen Königreich durch den Völkerbund erteilt worden war, und erklärt, daß es »eine unteilbare territoriale Einheit« darstelle. Im Gegensatz dazu wurde in Artikel 24 festgestellt: »Diese Organisation – die PLO – übt keinerlei territoriale Souveränität über die Westbank im Königreich Jordanien, über den Gaza-Streifen oder über das Himmah-Gebiet (südlich des See Genezareth) aus.« Die drei genannten Territorien waren aber eindeutig Teil des britischen Mandatsgebiets gewesen. Die Westbank hatte Jordanien nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948-49 annektiert, Gaza stand bis zur Besetzung durch Israel 1967 unter ägyptischer Militärverwaltung, und Himmah wurde von Syrien kontrolliert.

Später im Jahr 1964 kündigte die PLO den Aufbau einer Palästinensischen Befreiungsarmee (PLA) als ihren bewaffneten Arm an. Diese Einheiten, insgesamt nur wenige tausend Mann stark, unterstanden aber jeweils dem Kommando der Staaten, in denen sie stationiert waren, und spielten im Kampf gegen Israel keine Rolle. Von den zahlenmäßig stark zunehmenden, militärisch zwar sinnlosen, aber in der arabischen Öffentlichkeit gefeierten Stoßtrupp-Unternehmen der 1959 gegründeten Fatah und anderer außerhalb der PLO stehenden Organisationen pflegte Schukairi sich zu distanzieren. Sie führten aber dazu, daß in den palästinensischen Flüchtlingslagern die Popularität der sogenannten »Fedajin« wuchs.

Diese Tendenz wurde durch den militärischen Zusammenbruch der arabischen Armeen im Junikrieg 1967 noch verstärkt und beschleunigt. Im Dezember 1967 trat Schukairi, der als einer der Schuldigen an der Niederlage galt, zurück. Sein Nachfolger Jahja Hammuda amtierte nur kurz. Am 4. Februar 1969 wählte der Palästinensische Nationalrat in Kairo den damals 39jährigen Jassir Arafat zum neuen PLO-Vorsitzenden. Er blieb es 35 Jahre lang, bis zu seinem Tod am 11. November 2004, dessen Ursachen immer noch nicht abschließend untersucht sind.

* Aus: junge Welt, Samstag, 31. Mai 2014

Quelle. Aus der Palästinensischen Nationalcharta von 1964

Artikel 5: Die palästinensische persönliche Identität ist eine dauerhafte und authentische Eigenschaft, die nicht verloren geht. Sie wird vom Vater auf die Söhne übertragen.

Artikel 6: Palästinenser sind diejenigen arabischen Bürger, die bis 1947 normalerweise in Palästina lebten – gleich, ob sie dort blieben oder vertrieben wurden. Jedes Kind eines palästinensisch-arabischen Vaters, das nach diesem Datum geboren wurde, ist Palästinenser.

Artikel 7: Juden palästinensischen Ursprungs gelten als Palästinenser, wenn sie friedlich und loyal in Palästina leben wollen. (…)

Artikel 11: Das palästinensische Volk glaubt fest an die arabische Einheit. Um bei der Verwirklichung dieses Ziels mitzuwirken, muß es in diesem Stadium des Kampfes seine palästinensische Identität bewahren. Es muß das Bewußtsein seiner Existenz verstärken und alle Versuche abwehren, seine Identität zu schwächen oder zu zerstören.

Artikel 12: Die arabische Einheit und die Befreiung Palästinas sind einander ergänzende Ziele. Das eine bereitet jeweils das Erreichen des anderen vor. Die arabische Einheit führt zur Befreiung Palästinas, und die Befreiung Palästinas führt zur arabischen Einheit. (…)

Artikel 13: Das Schicksal der arabischen Nation und sogar das Wesen der arabischen Existenz sind eng mit der Palästinafrage verbunden. Aus diesem festen Band ergibt sich das Streben und der Kampf der arabischen Nation, Palästina zu befreien. Das Volk Palästinas übernimmt dabei eine Avantgarderolle.




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