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Was bedeutet "komplette Autonomie"?

Die Kolonie Amerikanisch-Samoa präsentiert sich als politischer Zwitter

Von Hilmar König *

Amerikanisch-Samoa, ein kleines Inselterritorium auf halbem Weg zwischen Hawaii und Neuseeland, im Unterschied zum unabhängigen Westsamoa faktisch eine Kolonie der USA, strebt nach »kompletter Autonomie«. Bis Jahresende will eine Kommission, die das künftige Verhältnis überprüft, einen Bericht vorlegen.

Auf dem Schaltertisch des Postamtes in der Hauptstadt Pago Pago steht eine kleine USA-Flagge, deren Mastspitze ein Totenkopf aus Plastik »krönt«. Der Beamte bedauert: »Nein, eigene Briefmarken haben wir nicht. Nur amerikanische. Und wenn Sie etwas kaufen, bezahlen Sie in US-Dollar.

Erste Hinweise darauf, wie »selbstständig« die sieben, nur 199 Quadratkilometer messenden ostsamoanischen Eilande sind. Im Katalog der CIA werden sie als »nichtkorporatives und unorganisiertes Gebiet der USA, verwaltet vom Büro für Inselangelegenheiten des Innenministeriums« bezeichnet. Also kein Bundesstaat wie etwa Hawaii. Die UNO führt Amerikanisch-Samoa schlicht in der Kategorie der Kolonien. Bislang waren die 58 000 Insulaner mit diesem Status angeblich zufrieden. Immerhin finanziert Washington den größten Teil des Budgets des so genannten Außengebietes.

Doch seit einigen Monaten arbeitet eine Kommission unter Vizegouverneur Tufele Liamatua an einer »konstituierenden Konvention« über das künftige Verhältnis zu den USA. Sie soll bis zum 31. Dezember vorliegen und als Grundlage für eine Art Referendum im Frühjahr 2007 dienen.

Überraschend war die Meldung, dass Liamatua, der vom USA-Innenminister jederzeit und ohne viel Federlesen abgesetzt werden kann, kürzlich von einem Wunsch nach »kompletter Autonomie« sprach. Was er darunter versteht, sagte er nicht. Unabhängigkeit bleibt jedenfalls ausgeschlossen. Als im Oktober Vertreter Amerikanisch-Samoas beim Pazifik-Forum in Fidschi den Antrag auf assoziierte Mitgliedschaft stellten, erhob Washington sofort Einspruch. Offenbar befürchtete man, dass dies ein erster Schritt in Richtung außenpolitischer Entscheidungsfreiheit der Kolonie sein könnte.

Nicht nur die Außenpolitik, sondern auch Verteidigung, Gerichtsbarkeit und innere Sicherheit sind Angelegenheiten der USA. Das Territorium präsentiert sich als eigenwilliger politischer Zwitter, was zu zahlreichen Widersprüchen führt. Die Einwohner sind »US-Nationals«, aber keine Staatsbürger der Vereinigten Staaten. Sie wählen einen Abgeordneten für das Repräsentantenhaus in Washington, aber der ist nicht stimmberechtigt. Von den Präsidentschaftswahlen bleiben sie ausgeschlossen. Sie besitzen einen USA-Reisepass und dürfen in den Vereinigten Staaten arbeiten, wovon bei einer Arbeitslosenrate von 29,8 Prozent auch reger Gebrauch gemacht wird. Vor allem die Jugend setzt sich wegen ungenügender Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten ins »Mutterland« ab.

Die größten Arbeitgeber sind nicht die beiden Thunfisch-Fabriken in Pago Pago oder die schwach entwickelte Landwirtschaft, sondern die örtliche Regierung mit etwa 4000 Angestellten. Auf den Inseln existiert kein Bundesgericht der USA, aber es gilt deren Gerichtsbarkeit. Ausgenommen sind Land- und Eigentumsrechte, die mit samoanischen Traditionen harmonieren. Die Richter ernennt der Sekretär des USA-Innenministeriums. Amerikanisch-Samoa verfügt über eigene Einreise- und Zollbestimmungen, über ein Olympisches Komitee und eine Olympiamannschaft, jedoch nicht über Parteien und Gewerkschaften.

Im 1973 gebauten Fono, dem Inselparlament, sitzen 21 Abgeordnete, von denen 20 gewählt werden, und 18 Senatoren. Die ernennt der Matai, der Rat der Chefs der einheimischen Clans. Paddy Page von den »Samoa News« bekennt in einem Gespräch: »Die Leute lieben den Dollar, aber nicht die amerikanischen Werte, den American way of life. Sie schätzen ihre eigene Lebensart.«

Bis in die 60er Jahre hatte die unterentwickelte Kolonie den Ruf der »Schande Amerikas«. Erst ein aufrüttelnder Bericht im Magazin »Reader's Digest« und das Bemühen der Sowjetunion, im südpazifischen Raum Fuß zu fassen, veranlassten Präsident John F. Kennedy zu spürbarer Entwicklungshilfe. Seitdem stieg die durchschnittliche Lebenserwartung der fast vollständig christlichen Insulaner auf 76 Jahre, der Anteil der Schreib- und Lesekundigen auf 97 Prozent, die Kindersterblichkeit sank auf neun von 1000 Neugeborenen. Zur Infrastruktur gehören 185 km Straßen, der Naturhafen von Pago Pago und drei Flughäfen. Dennoch regt sich bei dem »politischen Zwitter« nun erstmals der Wunsch nach »kompletter Autonomie«.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Dezember 2006


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