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Ausverkauf am Amazonas

Unter Perus Indigenen wächst der Widerstand gegen die Ausbeutungspläne der Regierung. Ein Besuch in Iquitos, Metropole am großen Strom

Von Timo Berger *

Weiße, bauschige Wolken, die kaum einen Klafter über unseren Köpfen hängen: Man bekommt in Iquitos, der peruanischen Metropole am Amazonas mit seiner halben ­Million Einwohner, schnell den – trügerischen – Eindruck, dem Himmel näher zu sein. Wir stehen am Puerto Masusa, dem Amazonashafen von Iquitos. Trotz der erdrückenden Mittagshitze herrscht hier reges Treiben. Denn es gibt keine Lastkräne, die die dicht nebeneinander liegenden Schiffe entladen würden. Alles wird noch in Handarbeit erledigt.

Es ist Mitte Mai. Jorge, der mich mit seinem motorisierten Rikscha-Taxi hierhergebracht hat, führt mich durch den Hafen. Das größte Schiff, das hier anlegen kann, sagt Jorge, fährt gerade ein: Drei, vier Decks beladen mit Milchpulverkartons, Plastikrohren, Konservenkisten. Wir gehen an Bord – gegen den Strom der Arbeiter, die mit geschulterten Paketen über Holzstege das Festland balancierend erreichen.

Von der Brücke aus sieht man über das Heck des Schiffes den tiefblauen Río Itaya, dahinter einen beigegrauen Strom: der sedimentreiche Amazonas. Lebensader, alles verbindender Verkehrsweg, denke ich. Das Flußwasser befindet sich auf einem historischen Höchststand, sagt Jorge. Sonst spielten wir in dieser Zeit auf den Plätzen der Unterstadt Belén schon Fußball. Doch die stehen immer noch unter Wasser.

In diesem Jahr ist nicht nur der Amazonas, wasserreichster Strom der Erde, über die Ufer getreten; auch spitzt sich der Konflikt um die Nutzung der natürlichen Ressourcen der ganzen Region immer weiter zu. Die Indigenen haben einen unbefristeten Generalstreik ausgerufen, die peruanische Regierung ließ daraufhin in mehreren Provinzen den Ausnahmezustand verhängen. Es geht um die Frage, ob sich ein neoliberales Wirtschaftsmodell über die Rechte einer alteingesessenen Bevölkerung hinwegsetzen darf.

Wie sind kapitalistische Vorstellungen von Grundbesitz und die privatwirtschaftliche Ausbeutung von Erdöl, Edelhölzern und Boden durch multinationale Konzerne den Völkern des Amazonas vermittelbar, die die natürlichen Ressourcen des Waldes nachhaltig nutzen? Peru verfügt über 70 Millionen Hektar in der Amazonasregion. Fast dreiviertel davon wurden für Öl- und Gasprojekte, Holzeinschlagslizenzen und Plantagen parzelliert. Von den insgesamt 64 Ausbeutungsgebieten, die in Peru »Lote« (Landstücke) genannt werden, sind alle bis auf acht seit 2004 angelegt worden. Ein Hinweis, daß die neoliberale Regierung Alan García wie keine andere vor ihr den Amazonas und seine Ressourcen erschließen möchte. Fragt sich, in wessen Interesse. Und: Wie könnte eine Entwicklungsstrategie aussehen, die Ökologie und Menschenrechten genüge tut?

Die Stimme des Urwaldes

Ein Strick ist über den Río Napo gespannt. Nahe des Ufers überwachen Indigene in Kähnen mit Außenbordern die Sperre. Anfang April sind Tausende von ihnen in der Region Loreto in den Ausstand getreten. Der Rio Napo ist ein Amazonaszufluß und Zufahrtsweg zum »Lote 67«, also dem Landstück, wo 280 Millionen Barrel Erdöl gefunden wurden. Schon in der Vergangenheit hatten Indigene Straßen blockiert und Pumpstationen besetzt, waren runde Tische eingerichtet und Kommissionen gegründet worden, um die Forderungen der Amazonasbewohner anzuhören. Doch die Zentralregierung habe deren Berichte nie gelesen, klagen die Vertreter der Indigenen. Nur wenn sie sich wehren, würden sie überhaupt beachtet.

»Wir fordern von der Regierung, daß sie sechs Dekrete zurücknimmt, die den größten Teil des Amazonasgebietes für ausländische Investoren öffnen«, erklärt Walter Mussolini. Der 23jährige stammt aus dem Volk der Awajún und ist Präsident des Komitees, das die indigenen Proteste in Loreto koordiniert. Die jüngsten Ereignisse, die Militarisierung des Konfliktes, machen ihm Sorgen: »In der Zone von Rio Napo befinden sich derzeit 23 Kanonenboote, an der Pumpstation Nummer fünf sind 400 Polizisten, an der Pumpstation sechs etwa 1200.«

Mussolini beklagt, daß die Indigenen am Erdölboom im Amazonas nicht teilhaben. Es mache ihn wütend, wenn er sein Dorf besuche – Atahualpa heißt es, liegt sieben Tage flußaufwärts – und dort die extreme Armut sehen müsse. »Nicht mal eine Tablette Aspirin bekommen wir vom peruanischen Staat.« Es fehle an Bildung, an Zugang zur Gesundheitsversorgung. »In diesem Sinne schäme ich mich, Peruaner zu sein«, so der Mann. Auch er ist nach Iquitos gekommen, um seine eigenen Chancen zu verbessern: Nur hier kann er Pharmazie und Biochemie studieren. Ihm schwebt ein anderes Peru vor: »Ich will, daß dieses Land plurikulturell wird, ein Land, in dem die Indigenen nicht mehr diskriminiert werden.« Dazu gehöre auch, daß die ausländischen Investitionen in Absprache mit den Amazonasanwohnern getätigt werden. Und daß deren Gemeinschaften profitieren.

»Der Wald gehört allen Peruanern und nicht allein einer Gruppe«, hatte dagegen jüngst der peruanische Präsident Alan García vor laufender Kamera erklärt. »400000 Indigene haben nicht das Recht, den 28 Millionen Peruanern den Zugang zu ihrem Land im Amazonasgebiet zu verbieten«, so seine Argumentation, in deren Folge das »Lote 67« zum »nationalen Interesse« erklärt wurde. Schätzungen zufolge würde Peru bei maximaler Ausbeutung der dortigen Ölfelder im Jahr 2013 von einem Einfuhr- zu einem Ausfuhrland des gefragten Rohstoffes werden. 2,5 Milliarden US-Dollar könnten gespart werden – Geld, das Peru jährlich für Importe des »schwarzen Goldes« ausgibt.

Die Konzession für Exploration und Ausbeutung des Gebietes sind an die französische Unternehmensgruppe Perenco vergeben. »Wir werden mehr als zwei Milliarden US-Dollar in die Entwicklung dieses Landstücks stecken«, versprach der Chef der Perenco Gruppe, François Perrodo, nach einem Treffen mit dem Präsidenten im Regierungspalast zu Lima am 24. April. Allein 2009 sollen 180 Millionen US-Dollar für die Bohrung von 14 Förderschächten investiert werden.

Peru hat damit gegen die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verstoßen, das eine Anhörung vorschreibt, meint nun Walter Mussolini. Außerdem habe Perenco ausgerechnet Förderprojekte in einem Gebiet geplant, in dem mindestens zwei der in entlegenen Urwaldregionen vermuteten 15 noch nicht kontaktierten indigenen Völker Perus leben. Diese Gruppen sind besonders verletzbar durch die Wasser- und Bodenverschmutzung, die mit der Erdölförderung einhergeht – außerdem verfügen sie über keine Abwehrkräfte gegen die von Arbeitern möglicherweise eingeschleppten Krankheiten. Bis heute leugnet die Regierung in Lima deren Existenz – und steht damit im Gegensatz zur Haltung der Nachbarländer Ecuador und Brasilien.

Eiscreme aus England

Zusammen mit Víctor, einem jungen Studenten aus Iquitos, spaziere ich die Uferpromenade entlang. Er zeigt mir die herrschaftlichen Häuser im spanischen Kolonialstil aus den Zeiten des Kautschukbooms. Die Fassaden sind verziert mit Kacheln aus Sevilla. Am zentralen Plaza de Armas steht ein sonderbares Haus, ganz aus Eisenteilen. Es wurde von Gustave Eiffel entworfen, erzählt Víctor. Ein Bolivianer kaufte es in Paris und wollte es nach Bolivien bringen lassen. Irgendwie ist es in Iquitos hängengeblieben: Nach der mühseligen Verschiffung flußaufwärts fand sich niemand, um es weiter bis nach Bolivien zu befördern.

Geschichten wiederholen sich: Der Mensch scheitert immer wieder an der unbändigen Natur. Die Straße nach Nauta, die einzige, die von Iquitos in den Amazonas führt, ist aufgrund der ständigen starken Regenfälle häufig unpassierbar. Die Natur holt sich zurück, was ihr abgetrotzt wurde. Andererseits, erzählt Víctor, verwechseln die Leute hier oft Fortschritt mit mehr Beton. Bei den Wahlen stimmen sie für den Kandidaten, der ihnen den meisten Asphalt verspricht. Er zeigt mir eine Straße, in der vor kurzem noch Alleebäume kühlen Schatten spendeten. Der Bürgermeister ließ sie abholzen und durch junge Palmen ersetzen – er fand das »zeitgemäßer«. Ein Nachbar hat ein Transparent aus seinem Fenster gehängt: »Vielen Dank, Herr Bürgermeister, für Ihren Beitrag zur Klimakatastrophe.«

Der 17jährige Víctor veröffentlichte die Geschichte auf seinem Blog »Goodmen«. Wenn er zum Schreiben komme – er verfügt über keinen Computer zu Haus –, einmal die Woche meist, berichtet er von Umwelt und Indigenen. Und von einem Thema, das ihn als Teenager besonders beschäftigt, »weil ich das alles zum ersten Mal erlebe«: die Liebe.

Wir kommen zur Radiostation »La voz de la selva«. Die wichtigsten Meldungen des Morgens: Menschen fliehen vor der Flut in den tiefer gelegenen Außenbezirken von Iquitos, die Mobilisierung der Indigenen geht weiter. »Die Stimme des Urwalds« ist der alternative katholische Sender von Iquitos. Da sie auch auf Kurzwelle ausgestrahlt wird, wie ihr Direktor Oraldo Reateguí erklärt, sei sie in der ganzen Region zu empfangen.

Das Radio ist im Amazonas immer noch ein wichtiges Kommunikationsmedium. Zwischen sechs und acht Uhr morgens können Hörer anrufen und ihre Mitteilungen auf Sendung geben – Grüße an Verwandte, die selbst über kein Telefon verfügen, wie dies immer noch für viele der kleineren Dörfer gilt – aber auch Nachrichten über Geschehnisse vor Ort. »Für uns ist«, sagt Reateguí, »die Hörerpartizipation gerade auch bei den Nachrichten Teil einer Strategie, unser Medium demokratischer zu gestalten.«

Loreto, die flächenmäßig größte Region Perus, ist vom Rest des Landes weitgehend abgeschnitten. »Wir leben in großer Isolation«, sagt der Radiomacher. Das liegt zum einen an der schwierigen Topographie der Region. Die tropischen Niederschläge machen den Straßenbau schwer. So sind die Flüsse für die Mehrzahl seiner Bewohner die einzig erschwinglichen Verkehrswege. Menschen reisen manchmal tagelang in Booten, um zum nächsten Marktort zu gelangen oder Verwandte zu besuchen, zur nächsten Krankenstation, Schule oder Universität.

Doch nicht allein die geographische Dimension isoliert Iquitos. Verantwortlich ist auch das Bild, das sich Küsten- und Hochlandbewohner vom Amazonas machen. »In der Vorstellung der Peruaner kommt der Amazonas nur als rückständiger Raum vor. Man spricht von ihm, weil es wilde und gefährliche Tiere gibt – oder Indios«, erklärt Reateguí. Der ehemalige peruanische Präsident Fernando Belaúnde bezeichnete den Amazonas einst als den »Vorratsschrank des Landes«. Alle Reichtümer sind im Wald. Doch für die meisten Peruaner, beklagt Reateguí, gebe es im Wald keine Menschen, keine sozialen Probleme, keine Entwicklungsbestrebungen.

Umgekehrt existiere vom Amazonas aus gesehen der Rest Perus nicht, meint Reateguí. Bis vor achtzig Jahren habe Iquitos näher an Paris gelegen, näher dem Atlantik als dem Pazifik – »weil es keinen Weg gab, der es mit der peruanischen Küste verband. Dagegen fuhren ständig Schiffe den Amazonas hinunter Richtung Europa. Hier aß man, wie die Leute sich immer erzählen, Eiscreme aus England.«

Zedernholz

Víctor will mir seine Mitstreiter vom Red Ambiental Loretano vorstellen, dem Umweltnetzwerk Loreto. Wir fahren Richtung Flughafen. Es wird grüner. Ein Landhaus mit einem großen Garten. Hier treffen sich engagierte Menschen aus Iquitos und Umgebung, unter ihnen der Priester Paul McAuley. Vor allem zwei Themen beschäftigen die Umweltschützer: Der illegale Holzraub und die Kontamination der Flüsse durch das Abwasser der Ölförderanlagen. »In den vergangenen fünf Jahren kam es zu einem explosionsartigen Anstieg der Holzproduktion in der Region Loreto. Auf irrationale Weise werden edle Hölzer aus dem Wald geraubt«, beklagt McAuley.

Experten schätzen, daß 95 Prozent des Holzes, das aus Loreto zur Weiterverarbeitung vor allem nach Mexiko exportiert wird, illegal sei. Doch es gibt keine Kontrolle, die nationale Waldbehörde habe zuwenig Beamten. Und manche von denen, so McAuley, seien korrupt und arbeiteten mit der Holzmafia zusammen, indem sie eine falsche Herkunft auf den Ausfuhrpapieren bestätigten.

Im Jahr 2004 vergab die Regierung Holzeinschlagskonzessionen nicht nur zu einem symbolischen Preis, sondern auch ohne zuvor die vorgeschrieben Umweltgutachten einzuholen. Die Aktivisten vom Netzwerk klagten und bekamen zwei Jahre später vor dem Obersten Gericht Perus recht. Doch geändert hat sich nichts. Die Firmen halten an ihrer Praxis fest, die lokalen Behörden gehen gegen den Holzraub nicht vor.

McAuley wendet sich nicht grundsätzlich gegen eine forstwirtschaftliche Nutzung des Waldes. Nur müßten die Bewohner davon profitieren. Es könne nicht sein, daß in Gebieten, in denen die Mehrheit der Menschen in extremer Armut lebt, Zederholz geschlagen wird, und die Bewohner sehen nichts von dem Geld dafür. »Wir sind für einen fairen Direkthandel. Das könnte den indigenen Gemeinschaften ein Einkommen sichern. Umgekehrt verpflichten diese sich, den Wald zu schützen und für Wiederaufforstung zu sorgen.« Eine Vision von nachhaltiger Waldnutzung, die mit der traditionellen Weltsicht indigener Völker in Einklang steht, wie McAuley erklärt: »Wenn ein Holzfäller vor einem Baum steht, kalkuliert er sofort den Wert. Ein Indigener dagegen sieht die Früchte, die Samen, den Schatten, die Tatsache, daß der Baum Wasser zurückhält und Baumaterial für seine Hütte spendet.«

Nachtrag

Die Ereignisse nach meiner Abreise übertrafen alle Befürchtungen. Die Situation eskalierte: Im Juni setzte die bewaffnete Staatsgewalt den verhängten Ausnahmezustand mit aller Gewalt durch: Nach indigenen Angaben wurden bei der Räumung der Blockade der Überlandstraße Fernando Belaúnde 103 Indigene getötet. Als sie von den Vorfällen erfuhren, töteten Awajún-Indigene zwölf der 38 Polizisten, die sich als Geiseln an der besetzten Pumpstation 6 von Petroperu in ihrer Gewalt befanden. Peru stürzte in eine tiefe innenpolitische Krise, die bis heute anhält – Ende offen: Zwar wurden zwei Dekrete, die die Ausbeutung der Bodenschätze des Gebiets freigab, zurückgezogen. Trotzdem gehen die Erschließungsarbeiten in dem Gebiet weiter.

* Aus: junge Welt, 25. Juli 2009


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