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Weitere Geiseln frei gelassen

Auch der Deutsche Werner Wallert unter ihnen

Über die Freilassung weiterer Geiseln, darunter des Göttingers Werner Wallert (dessen Frau schon ein paar Wochen zuvor frei gelassen worden war), berichten am 28. August die Zeitungen. Peter Blechschmidt schreibt für die Süddeutsche Zeitung u.a.:

Sechs Wochen nach seiner Ehefrau Renate ist am Sonntag auch der Göttinger Studienrat Werner Wallert von den Abu-Sayyaf-Rebellen auf der philippinischen Insel Jolo freigelassen worden. Zusammen mit Wallert übergaben die Geiselnehmer zwei Französinnen, eine Libanesin und eine Südafrikanerin den philippinischen Regierungsvertretern. ... Als Gegenleistung für die Freilassung stellt Libyen rund 25 Millionen Dollar zur Verfügung, die als Entwicklungshilfe deklariert werden.

... In der Gewalt der muslimischen Geiselnehmer zurückbleiben, musste Wallerts Sohn Marc (27). Außerdem halten die Kidnapper Strydoms Ehemann Callie, zwei Finnen und zwei französische Fernsehleute sowie mehrere Filippinos fest. Der philippinische Chef-Unterhändler Robert Aventajado kündigte am Sonntagabend (Ortszeit, 27.08.) an, Callie Strydom solle schon am Montag frei kommen. Für die übrigen Geiseln soll laut einer Ankündigung der Abu Sayyaf die Gefangenschaft binnen zwei Wochen enden. Bis auf Burgot gehören die am Sonntag Freigelassenen zu der Gruppe von 21 Menschen, die am Ostersonntag von der malaysischen Ferieninsel Sipadan verschleppt worden waren.

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Die Freigelassenen äußerten sich erleichtert, aber auch besorgt über das Schicksal der Zurückgebliebenen. Werner Wallert sagte: "Sie erwarten nicht von mir, dass ich glücklich bin, wenn mein Sohn noch dort ist". Augenzeugen der Freilassung berichteten, Werner und Marc Wallert hätten sich gegenseitig bedrängt, das Dschungelcamp zu verlassen. Schließlich habe der Anführer der Geiselnehmer, Ghalib Andang alias "Kommandeur Roboter" entschieden, dass der Ältere gehen solle. Renate Wallert war schon am 17. Juli freigekommen. Die Geiseln haben stark abgenommen, waren aber allem Anschein nach in guter körperlicher Verfassung. Die psychischen Folgen des Geiseldramas werden allerdings nach Ansicht von Fachleuten noch lange nachwirken.

Die Bundesregierung und die Regierungen der anderen betroffenen Staaten zeigten sich erleichtert. Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte, er hoffe, dass sich die Freigelassenen "jetzt von den erlittenen Strapazen erholen und die bedrückenden Erlebnisse verarbeiten können". Seine Sorge gelte den noch immer festgehaltenen Geiseln. "Ich habe die Hoffnung, dass auch sie nun ohne weitere Verzögerung freikommen und dass die philippinische Regierung und der libysche Vermittler, die maßgeblich zu den Verhandlungen beigetragen haben, ihre Arbeit erfolgreich fortsetzen." ...

Pro Kopf eine halbe Million Dollar - Zusätzlich 25 Mio. für "Entwicklungshilfe"

Wie Schröder dankte auch Außenminister Joschka Fischer den Libyern. Nach Informationen aus philippinischen Kreisen zahlen die Libyer für jede Geisel eine Million Dollar Lösegeld. Darüber hinaus wollen sie bis zur Gesamthöhe von 25 Millionen Dollar Entwicklungshilfeprojekte finanzieren. Libyens Staatschef Muammar al Gaddafi erhofft sich von seinem Engagement eine Wiederannäherung an die internationale Staatengemeinschaft. Vor allem die USA beschuldigen Libyen nach wie vor, es unterstütze den internationalen Terrorismus.

Die Rolle der Libyer

Dass ausgerechnet die Libyer mit einem als Entwicklungshilfe deklarierten Lösegeld von 25 Millionen Dollar die entscheidende Rolle im Geiseldrama von Jolo spielen, hat viele überrascht und die Vereinigten Staaten verärgert. Philippinische Regierungsvertreter haben nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie der Vermittlungsmission Libyens ausgesprochen misstrauisch gegenüber stehen - auch wenn Präsident Estradas Chef-Unterhändler am Sonntag auf dem Flugfeld von Zamboanga freudige Übereinstimmung mit dem Libyer Azzarouk demonstriert. Azzarouk, ein ehemaliger Botschafter seines Landes in Manila, genießt das Vertrauen der muslimischen Organisationen, die im Süden der zweitgrößten Philippinen-Insel Mindanao für mehr Unabhängigkeit von der christlichen Zentralregierung kämpfen. Azzarouk war maßgeblich daran beteiligt, dass 1996 ein Friedensabkommen zwischen der Moro National Liberation Front (MNLF) und Manila zu Stande kam. Azzarouk hat - im Gegensatz zu Aventajado - Zugang zum "Roboter" und dessen Kumpanen. Er wirkt immer wieder auf die philippinische Regierung ein, nicht das Militär gegen die Rebellen von der Leine zu lassen, bevor alle Geiseln befreit sind, und Azzarouk hat offenbar auch erreicht, dass die philippinische Regierung von ihrer Alles-oder-Nichts-Haltung abgerückt ist, mit der sie auf der geschlossenen Freilassung aller Geiseln beharrte.

Die bisherigen Erfolge in den Bemühungen um die Auslösung der Geiseln hatten viele Väter. Ständig erschienen neue Unterhändler auf der Bildfläche, von denen die meisten nur ein Stück vom Lösegeld-Kuchen abbekommen wollten. Diesmal nun will es der "Pate" gerichtet haben. Der "Pate" ist über Nacht aus dem Nichts aufgetaucht - mit einer sauber ausgedruckten Presse-Mitteilung über die bevorstehende Entlassung von westlichen Geiseln. Zwar versprach er nur die Freigabe der vier Frauen, doch im Wesentlichen hat er Recht behalten. "Die Freilassung wurde möglich durch die Initiative eines Mitglieds der MNLF-Jugend mit dem Codenamen ,Der Pate'", heißt es in der Erklärung, die am Sonntag in Zamboanga verbreitet wurde.

Wer führte die Regie bei den Rebellen?

Der Pate ist eine neue Figur in dem an Darstellern reichen Geiseldrama. Und sein Auftritt wirft einmal mehr die Frage auf, wer tatsächlich die Regie führt in diesem Stück, in dem politische Motive und pure Geldgier so schnell wechseln wie die stechende Sonne und tropische Regengüsse. Immer wieder mussten sich die Geiseln, ihre Angehörigen und die journalistischen Zaungäste des Geschehens fragen, ob es wirklich der Rebellenführer Ghalib Andang mit dem gar nicht in den Dschungel passenden Kriegsnamen "Kommandeur Roboter" war, der hier die Fäden zog.

Azzarouk deutete schon vor zwei Wochen an, dass der "Roboter" keineswegs das alleinige Sagen habe. Und auch Regierungsbeamte raunten in der vergangenen Woche, Andang warte auf Weisung von den "hohen Tieren". Der "Pate" bestätigte nun am Sonntag die Existenz einer "Jemaah", also einer Art Rat, in der die wirklichen Entscheidungen der Abu-Sayyaf-Bewegung fielen. Und diese Jemaah habe nun entschieden, dass man aus Respekt vor Gaddafi und dessen Hilfe für die philippinischen Muslime dem Geiseldrama ein Ende machen wolle. Die Methoden des "Roboters" und seines Kumpans Mujib Susukan schadeten der Integrität der Bewegung und könnten nicht länger toleriert werden. Die verbliebenen Geiseln würden freigelassen, sobald die Libyer unter Beweis gestellt hätten, dass sie ihre Zusagen auf "Entwicklungshilfe" einhalten würden.

Wie zur Bestätigung kündigte Aventajado am Sonntagabend an, schon am Montag werde auch Callie Strydom freigelassen. Diesmal scheint wirklich alles anders zu sein.

Die obigen Passagen stammen aus zwei Artikeln von Peter Blechschmidt aus der SZ, 28.08.2000.
Ein weiterer Artikel befasste sich mit der Rolle Gaddafis.


Auch Lösegeld bringt Dividende

Libyens Staatschef Gaddafi will auf dem Umweg über Jolo zurück ins weltpolitische Geschäft / Von Rudolph Chimelli

Auf vergilbten Bildern, wie sie noch in den Cafés am Rand der Altstadt von Tripolis hängen, ist Muammar al Gaddafi ein siegreich lächelnder junger Offizier, der gerade den greisen König Idris gestürzt hat und die Arabische Welt einigen möchte. Von seinen neuen Porträts blickt der libysche Revolutionsführer ernst und staatsmännisch. Er hat immer noch Ambitionen: die Vereinigten Staaten von Afrika oder wenigstens die Gemeinschaft der Sahara- und Sahel-Staaten. Aber zunächst will er respektabel werden. Und mit der Befreiung der Geiseln von Jolo will Gaddafi den Vorwurf widerlegen, er sei ein Protektor des Terrorismus.

Die Geiselnehmer wollten zunächst eine Million Dollar für jeden der Gefangenen. Gaddafis Abgesandter, Rajab Azzarouk, hatte angeblich den Auftrag, die Kopfquote auf 750 000 Dollar herunterzuhandeln. Dass die Entführer daraufhin zwölf Millionen Dollar aufschlugen und die Befreiung um mehr als eine Woche verzögerten, war demütigend für den Revolutionsführer. Aber ein Scheitern der Mission konnte und wollte er sich nicht leisten. Sowieso spielen solche Beträge bei einem Preis von 30 Dollar pro Barrel für das Erdölland Libyen eine untergeordnete Rolle. Auch die erhöhte Summe wäre für Gaddafi noch ein billiges Eintrittsgeld in die internationale Gemeinschaft.

Frankreichs Außenministerium hat am Sonntag die Befreiung von fünf Geiseln als ein "erstes Ergebnis der Anstrengungen der philippinischen Behörden und aller, die dazu beitrugen, besonders die libyschen Behörden" gelobt. Ob der libysche Sonderbotschafter und die Heimatländer der Geiseln der philippinischen Regierung auch Konzessionen abgehandelt haben, die über das Lösegeld hinaus gehen, ob Bürgschaften für das sichere Entkommen der Terroristen gegeben wurden, ist nicht bekannt.

Den großen Empfang, den Gaddafi den Befreiten bereiten wollte, wird es voraussichtlich nicht mehr geben. Die Diplomaten und Journalisten, die in der libyschen Hauptstadt lange warteten, sind abgereist. Ob sie ein zweites Mal in Scharen anreisen, ist zweifelhaft. Rote Teppiche, die zu lange in der grellen Sonne liegen, verbleichen. Doch der diplomatische Erfolg bleibt erreichbar. Libyen möchte als Vollmitglied an der Konferenz der EU-Länder mit den südlichen Mittelmeerstaaten teilnehmen, die im November in Marseille stattfindet. Im vorigen Jahr in Stuttgart waren die Libyer noch Beobachter.

Selbst die Normalisierung der Beziehungen zu den USA scheint nicht mehr unmöglich. Noch hält Washington an Sanktionen fest, welche die UN bereits ausgesetzt haben: Amerikaner dürfen nicht nach Libyen reisen, nichts außer Lebensmitteln dorthin exportieren, nicht investieren. Libyen würde gern 25 Airbusse kaufen. Doch die Europäer dürfen wegen amerikanischer Bestandteile die Flugzeuge nicht liefern. Das Leasing über Drittländer kommt die Libyer teurer zu stehen. Die Geiselbefreiung ist nicht die erste Leistung, die Gaddafi zur Verbesserung seines Rufes erbringt. Mehr als einen innerafrikanischen Konflikt hat er mit finanziellen Pflastern geschlichtet. Zwei Attentate auf die Luftfahrt werden den Libyern angelastet: Im Fall der über Lockerbie explodierten amerikanischen Maschine überstellte Libyen zwei Verdächtige an die Niederlande. Wegen der Explosion eines französischen Flugzeugs über der Sahara wurden sechs Verdächtige, darunter ein Schwager Gaddafis, von einem Pariser Gericht in Abwesenheit verurteilt. Tripolis erkennt ihre Schuld nicht an, überwies aber 210 Millionen Francs (rund 65 Millionen Mark) für die Hinterbliebenen der Opfer.

Niemand hat je in Tripolis von der freundlichen Stiftung gehört, deren Präsident Gaddafis Sohn Saif-ul-Islam ist und die das Geld für die Befreiung der Geiseln aufbrachte. Keiner kennt eine Adresse oder Telefonnummer. Sie ist offensichtlich ad hoc gegründet worden. Dem Alleinherrscher Gaddafi bereitet so etwas keine Schwierigkeiten. Er ist erst 58 Jahre alt und schon seit 31 Jahren an der Macht. Selbst Stalin brachte es nur auf 29 Jahre.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 28.08.2000

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