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Leben im Archipelstaat

Das "Handbuch Philippinen" liefert einen spannenden Einblick in das Leben und die politischen Kämpfe im Land der 7000 Inseln

Von Rüdiger Göbel *

Der »Perle des Ostens« (Perlas na Silangan) widmet sich das von Rainer Werning und Niklas Reese herausgegebene gesellschaftspolitische Philippinen-Handbuch. Es ist gerade in nunmehr vierter, vollständig überarbeiteter und aktualisierter Auflage im verdienstvollen Horlemann-Verlag erschienen. Die Armut im Archipelstaat ist chronisch, die Wirtschaft stagniert. Menschenrechtsverletzungen sind auch fast 30 Jahre nach dem Ende der Marcos-Diktatur weiterhin an der Tagesordnung. »Wer heute durch die Philippinen reist, wird Menschen begegnen, die auf vielfältige Weise damit befaßt sind, ihr (Über-)Leben zu organisieren«, konstatieren Werning und Reese in ihrer Einleitung. Im Hochlandmassiv der Cordillera-Region leben Ethnien der Igorot noch in Subsistenzwirtschaft, basierend auf kommunalem Landbesitz. Im Großraum Manila wohnen etwa 25 Millionen Menschen, größtenteils auf engem Raum, es sei denn, sie gehören zur privilegierten Schicht derjenigen, die sich ein Haus in einem der abgeschirmten exklusiven Villages (gates communities) leisten können. In der Quezon-Provinz etwa 200 Kilometer südöstlich vom Moloch Manila gewinnen Kleinpächter und Landarbeiter bei umgerechnet einem bis eineinhalb Euro Tageslohn das begehrte Kopra. Auf der rohstoffreichen Insel Mindanao wird auf Großplantagen gewirtschaftet, neben Zitrusfrüchen werden Kautschuk und Baumwolle angepflanzt und Rinder gezüchtet. Während sich diese Ländereien mit jeweils weit über 10000 Hektar Grund und Boden in der Hand von Industriellen, Politikern oder multinationalen Konzernen befinden, fristen anderenorts Pachtbauern unter feudalen Bedingungen ihr Dasein. »All diese Facetten des (Über-)Lebens mehr als 65 Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit der Philippinen zu beleuchten, ist das Anliegen dieses gesellschaftspolitischen Handbuches«, schreiben die Herausgeber. Und das ist ihnen hervorragend gelungen. In 64 Beiträgen – aufgeteilt in die Rubriken »Leben«, »Leute«, »Land und Ökologie«, »Politik und Gesellschaft«, »Kultur«, »Religion« »Östlich-Westliches« – haben sie den Menschen der 7107 Inseln ein publizistisches Denkmal gesetzt. Am Ende jedes Kapitels finden sich wertvolle Literaturhinweise und Links, wenn auch in – für den Rezensenten – bedenklich kleiner Schrift.

Das »Handbuch Philippinen« schildert die politischen Kämpfe in einem Land des globalen Südens. Es liefert einen kompakten Einblick in Geschichte und Gegenwart, Land und Leute. Die Autoren, allesamt versierte Philippenenexperten, verdichten die Informationen zu zentralen gesellschaftspolitischen Problemfeldern wie Landwirtschaft, Arbeitsmigration und sozialer Sicherung, zu Bildung, Gesundheit und Geschlechterfragen (Gender), zu Wirtschaft, Politik und zur sogenannten Zivilgesellschaft – und nicht zuletzt über die vielfältigen Linkskräfte. Zur Erinnerung: Vor 40 Jahren, am 21. September 1972, verhängte Präsident Ferdinand E. Marcos das Kriegsrecht über den südostasiatischen Inselstaat. Er begründete dies unter anderem damit, »der kommunistischen Subversion« endgültig einen Riegel vorzuschieben. Als Marcos im Frühjahr 1986 stürzte, zählte die Neue Volksarmee (NPA), die Guerillaorganisation der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP), gemäß US-Militärstrategen mit zirka 30000 Kombattanten zur »weltweit schnellstwachsenden Guerilla«. Werning und Reese erzählen packend, was aus der maoistischen Linken nach einer »fatalen Verkettung von Überheblichkeit, Panik und strategischen Fehlurteilen« geworden ist (siehe dazu den Vorabdruck in jW vom 4. September 2012).

Gewöhnungsbedürftig ist die neumodisch politisch-korrekte Schreibweise, so ist in dem Handbuch anstelle von Filipinos und Filipinas geschlechtsneutral von »Filipin@s« die Rede. Dies sollte von Erwerb Lektüre freilich nicht abschrecken. Mithin, der knapp 500 Seiten umfassend Grundlagenband hat selbst Witze parat: »Was ist der Unterschied zwischen Korruption in den Philippinen und in den USA? In den USA gehen Leute ins Gefängnis, wenn sie der Korruption für schuldig befunden wurden. In den Philippinen gehen sie statt dessen in die USA.«

Niklas Reese/Rainer Werning (Hg.): Handbuch Philippinen - Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Horlemann-Verlag, Berlin 2012, 495 Seiten, 19,90 Euro * 4. aktualisierte und erweiterte Auflage

* Aus: junge welt, Samstag, 3. November 2012


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