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Kein bisschen leise

Über den philippinischen Schriftsteller Francisco Sionil José

Von Rainer Werning *

Mit nahezu brutaler Regelmäßigkeit erschüttern große Naturkatastrophen den südostasiatischen Inselstaat. Besonders hart traf es die Filipinos, als der Supertaifun »Haiyan« (im Lande selbst besser als »Yolanda« bekannt) Anfang November 2013 den mittleren Teil des Archipels verwüstete. Kein Wunder, dass der bekannteste zeitgenössische Autor der Philippinen, der 90jährige Francisco Sionil José, in dem 2014 auch in deutscher Übersetzung erschienenen Roman »Gagamba. Der Spinnenmann« ausgerechnet ein Erdbeben als Metapher nutzt. In einer solchen Erschütterung sieht er eine Chance, die gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Lande umzukrempeln und zu einem neuen Aufbruch zu gelangen. Der Roman wurde zuerst 1991 publiziert. Am 15. Juli 1990 hatte ein Erdbeben die Philippinen erschüttert, in der Hauptstadt Manila viele Häuser beschädigt und im Stadbezirk Ermita das Nobelrestaurant Camarin zum Einsturz gebracht. In zwölf Kapiteln porträtiert der Autor jeweils eine dem Restaurant verbundene Person, woher sie stammt, was sie im Innersten bewegt und weshalb ihr Weg ausgerechnet ins Camarin führt.

Mehrfach wurde »Manong Frankie« anlässlich seines 90. Geburtstages im Dezember 2014 gefragt, was das Geheimnis seines langen Lebens sei und was es mit der Baskenmütze auf sich habe. »Ganz einfach«, erwiderte er, »die Guten sterben früh und die Mütze schützt mich vor Lungenentzündung.« In Anlehnung an das Diktum »Alte Kameraden sterben nicht, sie schwinden nur langsam dahin« des einst mächtigen US-Generals Douglas MacArthur, erklärt Frankie sein hohes Alter: »Alte Schriftsteller sterben nie; sie werden zu Fußnoten.«

Die weitaus meiste Zeit seines Lebens verbrachte Frankie mit seiner Frau Tessie in der Padre Faura Street in Manilas altem Stadtbezirk Ermita. Dort entstand vor 50 Jahren, im März 1965, mit dem Solidaridad Book Shop samt Galerie die bestsortierte Buchhandlung in der Metropole. Bis heute ist es der Treffpunkt par excellence von Autoren, Intellektuellen sowie Kunst- und Kulturschaffenden. Alles, was im nationalen wie internationalen Literaturgeschehen Rang und Namen hat, ging hier ein und aus – von Norman Mailer über Günter Grass bis Mario Vargas Llosa. Um sich und seinen Ideen ein Forum zu verschaffen, gründete er das englischsprachige Journal Solidarity, in dem über (regional-)politische Themen hitzig debattiert, wirtschaftspolitische Entwürfe präsentiert, das Neueste im Kulturgeschehen publiziert und Alt- wie Jungautoren eine Plattform für Kurzgeschichten und Lyrik geboten wurde.

Geboren wurde F. Sionil José am 3. Dezember 1924 als Kind einer Landarbeiterfamilie in dem kleinen Dorf Rosales in der nordwestlich von Manila gelegenen Provinz Pangasinan. Seinen Weg zur Literatur fand er, wie er selbst immer wieder gern betont, dank der Bücher der katholischen Leihbibliothek und der einzigen Straßenlaterne im Dorf, unter der er viele Abendstunden lesend verbrachte, sofern Moskitos ihm nicht das Schmökern vermiesten.

Hautnah erlebte er schon früh Konflikte zwischen Großgrundbesitzern und Landarbeitern, den übermächtigen Einfluss der katholischen Kirche und die Bedeutung der eigenen Kultur. Gewalt, ausgeübt durch verbliebene spanische Hacienderos, US-Amerikaner als neue Kolonialherren, Mestizen und philippinischen Parvenüs, war omnipräsent. Hinzu kamen die Gewalterfahrungen während des Zweiten Weltkriegs, als die Japaner das Land besetzt hatten. Damals pendelte José häufig zwischen Manila und seinem Heimatort und versorgte seine Verwandten in der Hauptstadt mit Reis. Im Juni 1944 schrieb er sich als Medizinstudent an der altehrwürdigen, von Dominikanern gemanagten University of Santo Tomas in Manila ein.

»Die dreijährige japanische Okkupation «, sagt Frankie, »muss viel eingehender untersucht werden. Während dieser Zeit traten Charakterzüge zutage, die mitverantwortlich dafür sind, dass unsere Gesellschaft heute aus den Fugen geraten ist, unter Amnesie leidet und jegliche Spur von Patriotismus vermissen lässt. Während der Besatzung entwickelte sich eine Kultur des Egoismus, in der jeder sich selbst der Nächste und das bedingungslose Arrangement mit den Herrschenden an der Tagesordnung war. Doch es existierte auch eine Alternative, verkörpert in den Kämpfern der antijapanischen Befreiungsarmee Hukbalahap, deren Mitglieder und Sympathisanten, überwiegend Bauern, Rückgrat zeigten, den Japanern mutig trotzten und ihnen erbittert Widerstand leisteten. Diese Bauern zeigten, dass man kämpfen und siegen kann.«

Mit Beginn seines Studiums der Literatur in Manila im Jahr 1946 begleitete, kommentierte und verarbeitete Frankie als Journalist und Schriftsteller die Ereignisse seiner Zeit. Manila war nach Warschau die am meisten zerstörte Hauptstadt während des Krieges. Dort kamen allein im Februar 1945, in der Endphase heftiger Kampfhandlungen, über 100.000 Menschen, überwiegend Zivilisten, ums Leben. Er schrieb für in- wie ausländische Medien, spezialisierte sich auf Politik, Wirtschaft, Kulturgeschichte und lernte auch die Zitadellen politischer Macht in den Hauptstädten der Region von innen kennen. In den 1950er Jahren war er Mitbegründer der philippinischen Sektion des PEN, der internationalen Vereinigung von Schriftstellern, Essayisten und Theaterschaffenden.

»Nach dem Zweiten Weltkrieg waren wir das modernste, fortschrittlichste Land in Südostasien. Zahlreiche Studierende aus der Region besuchten unsere Hochschulen, um an ihnen ihren akademischen Abschluss zu machen. Als ich damals in die Nachbarländer reiste, schockierte mich allerorten die Rückständigkeit. Jakarta und Kuala Lumpur waren Dörfer. Das höchste Gebäude in Bangkok war gerade mal der (Tempel) Wat Arun. Seoul and Taipeh waren ruhig und wirkten verschlafen, von Pferden gezogene Karren und Fahrräder beherrschten das Straßenbild mit seinen niedrigen Ziegelhäusern – eine Hinterlassenschaft der Japaner. All diese Städte sind heute nicht mehr wiederzuerkennen. Natürlich hat auch Manila seine Wolkenkratzer. Doch dahinter liegen überall Slums – traurige Wegzeichen unseres Niedergangs.« Das sind Passagen aus einem Vortrag, den Frankie am 5. Mai 2005 an der kalifornischen Stanford University zum Thema »Literature as History« hielt. »Das Problem ist«, sagt er im persönlichen Gespräch, »dass unsere Elite zu amerikahörig ist und unsere Linken zu chinahörig waren. Man muss sich der eigenen Traditionen und Werte besinnen. Nur so schöpft man die Kraft, die notwendig ist, um wahre Fortschritte zu erzielen.«

Im Zentrum des Werks von José steht neben zahlreichen Kurzgeschichten und Essays der Rosales-Zyklus mit den Romanen »The Pretenders«, »Tree«, »My Brother«, »My Executioner«, »Mass« und »Po-on«, in denen er am Beispiel des Schicksals einer Familie ein Jahrhundert philippinischer Geschichte Revue passieren lässt – von 1872, als drei Priester wegen ihres Protests gegen die Kolonialmacht und Bigotterie der mächtigen römisch-katholischen Kirche von den Spaniern hingerichtet wurden, bis 1972, als Ferdinand E. Marcos das Kriegsrecht über die Inseln verhängte.

Als Frankie in den späten 1950er Jahren mit den Arbeiten an der Rosales-Saga begann, konnte er bereits auf zwei Jahrzehnte erfolgreichen schriftstellerischen Schaffens zurückblicken. Von daher ist es verständlich, dass er selbstbewusst an das große philippinische Nationalepos »Noli me tangere« (1887) des im Lande als Nationalhelden verehrten Dr. José Rizal anknüpft. Wie in Rizals Roman beginnt die Handlung mit der tiefen Beleidigung eines Filipinos durch einen spanischen Priester. Doch anders als bei Rizal erschlägt der Gedemütigte den Priester, gleichzeitig ein Symbol des verzweifelten Widerstands gegen die übermächtige Kolonialmacht. Im Verlauf der Romane zeigt José, wie die Spanier durch die Amerikaner, die Japaner und schließlich durch die Machtelite im eigenen Land abgelöst werden. »Mass« (1982) erschien in Deutsch unter dem Titel »Szenen aus Manila« (1990) und schildert vor dem Hintergrund des pulsierenden Lebens im Zentrum der Hauptstadt die zweifelhafte Rolle der Intellektuellen im Befreiungskampf.

Die Entwicklungsgeschichte Pepes, der Hauptfigur des Romans, bewegt sich im Grenzbereich zwischen Schelmenroman und einem realitätsnahen Porträt der philippinischen Gesellschaft. Der Autor verarbeitet dabei Erlebnisse aus dem täglichen Leben rund um seinen Buchladen, der lange Zeit inmitten eines Rotlichtviertels lag. Für ihn ist Ermita der Seismograph für den Ausverkauf der philippinischen Kultur, Politik und Wirtschaft. Intellektuelle Analysen reichen nicht aus, um die Gesellschaft zu verändern, deswegen schließt sich Pepe letztlich dem Widerstand an. Dieses Grundmuster durchzieht alle seine Romane bis hin zu »Ben Singkol« (2002), in dem er sich ausführlich mit der japanischen Besatzungszeit befasst.

Dank mehrerer Stipendien verbrachte Frankie längere Zeit im Ausland, insbesondere in den USA und in Japan. Er erhielt für sein literarisches Werk die Ehrendoktorwürde der University of the Philippines sowie nationale und internationale Preise – darunter den Ramon Magsaysay Award for Journalism, Literature, and Creative Communication Arts (1980), die höchste Auszeichnung ihrer Art in Asien; den National Artist Award for Literature (2001) und den Pablo Neruda Centennial Award (2004). Seine Werke wurden in knapp 30 Sprachen übersetzt. Die letzte Ehrung wurde ihm anlässlich seines 90. Geburtatags zuteil. Gilles Garachon, Frankreichs Botschafter in Manila, überreichte ihm den Ordre des Arts et des Lettres (Orden der Künste und der Literatur). Verliehen wird dieser an »Personen, die sich durch ihr Schaffen im künstlerischen oder literarischen Bereich oder durch ihren Beitrag zur Ausstrahlung der Künste und der Literatur in Frankreich und in der Welt ausgezeichnet haben.«

Bis heute greift Frankie durch Vorträge und seine Kolumne »Hindsight« (Im Rückblick) in der Tageszeitung The Philippine Star mit Verve auch in tagespolitische Debatten ein. Grassierende Korruption, hirnlose und raffgierige Politiker, mediokre Gestalten in Verwaltung und Bürokratie erregen ungebrochen seinen Zorn. Wäre er nicht ein so »klappriges Gestell«, sagt er verschmitzt, würde es ihn in den Untergrund treiben. Den amtierenden Präsidenten und Spross eines Großgrundbesitzerclans, »Noynoy« Aquino, mahnte er bereits vor dessen Amtsantritt am 23. Mai 2010 in einem Offenen Brief mit den Schlussworten: »Ich bin 85 Jahre alt und zutiefst verzweifelt darüber, wie drei Generationen unserer politischen Führer versagt haben! Bevor ich sterbe, lassen Sie mich bitte dieses unglückliche Land als einen Ort erleben, der nicht länger mehr einer Müllhalde gleicht. Sie können der lange erwartete Messias sein, aber nur dann, wenn Sie kühn und weise genug sind, jenes Versprechen einzulösen, das zu verwirklichen Ihrem Vater verwehrt blieb.«

Womöglich wird Frankie auch die politische Ära Aquinos überleben, die Ende Juni 2016 endet. Den Griffel wird er jedenfalls nicht beiseite legen. Als sei es ein Fingerzeig des Herrn, animierte die Philippinenvisite von Papst Franziskus Mitte Januar den Buddha mit der Baskenmütze, noch einmal jenes Thema aufzugreifen, das ihm ebenfalls sehr am Herzen liegt und über das wir uns über all die Jahre hinweg zig Male austauschten. »Was wir zuletzt anlässlich des Papstbesuchs erlebten«, schrieb er am 18. Januar in seiner Philippine Star-Kolumne, »war nicht Religiosität, sondern Aberglauben. Wären wir wirklich religiös, befände sich unser Land nicht in solch erbärmlichem Zustand und wir wären ein Volk von aufrechten und moralischen Menschen. Man stelle sich vor, die massive Manifestation von Pietät während der Papstvisite hätte sich, anstatt Wunder herbeizuflehen, in einer Weise Bahn gebrochen, dass sich Millionen von Gläubigen zu den Glitzerfassaden von Makati (dem Wirtschafts- und Finanzzentrum Manilas – R. W.), zum Malacañang-Palast und Kongressgebäude aufgemacht hätten, um den Mächtigen ihre wirkliche Macht zu demonstrieren! Vom Rathaus in Manila ganz zu schweigen, dessen Personal es bis heute nicht einmal schafft, die City sauber und sicher zu halten. Dann könnten sie erkennen, dass sie letztlich selbst dafür verantwortlich sind, durch die Wahl machthungriger Gauner, nur weil diese populär sind, in Apathie zu verharren und durch beredte Prediger hypnotisiert und in ihrem Aberglauben bestärkt zu werden.«

Gagamba. Der Spinnenmann. Horlemann Verlag, Berlin 2014, 200 Seiten, 17,90 Euro; ISBN-10: 3895023477; ISBN-13: 978-3895023477

* Aus: junge Welt (Literaturbeilage zur Leipziger Messe), 12. Februar 2015


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