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Pershings bleierner Schatten

Die philippinische Hafenstadt Zamboanga war Frontstadt für Kolonisatoren, Rebellen und US-Militärs. Im September 2013 lieferten sich Regierungssoldaten und Moro-Rebellen Straßenkämpfe. Die damals Vertriebenen leben noch immer in Notunterkünften

Von Rainer Werning, Zamboanga und Basilan *

Zamboanga wirkt gelähmt, die Menschen sind wie unter Schock. Die Grünstreifen auf dem Weg vom Flughafen der philippinischen Hafenstadt entlang der einst prachtvollen Uferpromenade ins Stadtzentrum sind übersät mit Zelten. Unterkünfte für die Badjao sind das, Seenomaden, die Werbefachleute der Tourismusbranche gern folkloristisch als »Seezigeuner mit den erstaunlichsten Tauchtalenten« anpreisen. Hier sind sie auf Almosen angewiesen. Im Oktober und November 2013 verschlechterten zwei Naturkatastrophen die ohnehin prekäre Situation der Badjao dramatisch: Auf ein schweres Erdbeben auf der zentralphilippinischen Insel Bohol folgte nur einen Monat später der heftigste jemals gemessene Supertaifun. »Haiyan«, der dort »Yolanda« genannt wurde, verwüstete die Nachbarinseln Samar, Leyte und Cebus.

»Hey, Joe!« erschallt es auf dem zentralen Platz in »Zambo« aus etlichen Kehlen. Die Bezeichnung »Joe« hat Tradition. Spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich das als durchaus wohlgemeinter Willkommensgruß für »Americanos« eingebürgert. Damit sind nicht nur die Landsleute der ehemaligen Kolonialmacht USA gemeint, die die Inseln von 1898 bis 1946 beherrschten. Heute ist jeder Ausländer einfach ein »Joe«. »Ein Foto, ein Foto!« fordern die versammelten Kinder. Verstört starren sie mich an, als mein Begleiter Ahmed ihnen erklärt, daß ich weder über eine Kamera noch über ein Handy verfüge. Das ist den Kindern hier schier unbegreiflich – in einem Land, wo Verkehrsschilder davor warnen, die Straße nicht SMS-schreibend zu überqueren. Sie sitzen im Schatten eines Denkmals, das sie nicht mehr einordnen können. Dennoch ist hier einer der begehrtesten öffentlichen Plätze in der Stadt, um im engsten Freundeskreis gemeinsam fröhlich zu sein und feixend um die Wette zu simsen. Der Sieger erhält dann schon mal einen Burger mit Cola, der ebenfalls im Schatten des Monuments auf der Plaza Pershing verzehrt wird.

Seite an Seite mit den USA

Nirgendwo sonst auf den Philippinen befindet sich neben der Plaza Rizal, die landesweit an den Nationalhelden Dr. José Rizal erinnert, auch eine Plaza Pershing. Der US-Amerikaner John Joseph Pershing, als Kommandeur einer afroamerikanischen Truppe »Black Jack« genannt, war um die vorletzte Jahrhundertwende überall dort im Einsatz, wo »Uncle Sam« seine imperialen Kalküle verfolgte – in der Karibik ebenso wie in Fernost. Auf die Philippinen verschlug es den General um 1900, neun Jahre später war er Militärgouverneur der Moro-Provinz. Seine Verehrer in den USA himmelten den höchstdekorierten Militär ihres Landes geradezu an. Sein Biograph, der Militärhistoriker Frank E. Vandiver, verstieg sich sogar zu der Bemerkung, »Black Jack« rangiere nach Jesus als zweitgrößte Persönlichkeit.

Profane NATO-Strategen wußten offensichtlich auch um seine Durchschlagskraft. Immerhin wurden zu Beginn der 1980er Jahre in Westeuropa neben Marschflugkörpern auch »Pershing«-Raketen mit kurzer und mittlerer Reichweite und thermonuklearem Sprengkopf aufgefahren. So sollte die vermeintliche militärische Überlegenheit der Sowjetunion gebrochen werden. Für die muslimische Volksgruppe der Moros war Pershing bestenfalls ein Dragoner, in der Provinz Sulu gilt er noch heute als »Schlächter«.

Andere Besonderheiten der Innenstadt erinnern an die Jahrhunderte währende spanische Kolonialära von 1571 bis 1898. Nur in »Zambo« hat sich mit der Sprache Chavacano ein kreolisches Spanisch behauptet, worauf vor allem die Begüterten und auf Etikette bedachten Zamboangueños stolz sind. Die Präsenz von Soldaten erfüllte und erfüllt die Elite und die Geschäftswelt der Stadt, die sich offiziell »Asia’s Latin City« nennt, seit eh und je mit einem Hochgefühl. Schon im 17. Jahrhundert errichteten die Spanier hier die Zitadelle ihrer geistlichen und weltlichen Macht. Die prunkvoll herausgeputzte Real Fuerza de Nuestra Señora del Pilar de Zaragoza ließ sich als Kirche ebenso nutzen wie als Trutzburg. Heute kurz als Fort Pilar bekannt, beherbergt diese Festung eine Außenstelle des philippinischen Nationalmuseums. Ging es damals um die Bekämpfung von Piraten und Kriege gegen die Moros, stehen heute in der Hightechvariante des Forts, im Militärkomplex Camp Navarro, philippinische Soldaten Seite an Seite mit US-Spezialeinheiten in Gefechtsbereitschaft. Ihr Auftrag: Die Bekämpfung der als terroristisch eingestuften Abu-Sayyaf-Gruppe und muslimischer Widerstands­organisationen, die außerhalb der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF) operieren. Mit der MILF wurde nach langen Verhandlungen im Frühjahr ein Friedensabkommen geschlossen, das bis Mitte 2016 umgesetzt werden soll. Dann nämlich endet die Amtszeit von Präsident Benigno S. Aquino III.

Camp Navarro war während der Präsidentschaft von Ferdinand E. Marcos 1966 bis 1986 mit seinem dort ansässigen Südkommando das Zentrum und die Schaltzentrale der Kriegführung im Süden. Vor wenigen Jahren wurde es in Western Mindanao Command (Westmincom) umbenannt. Dieses wird jetzt aufgewertet. Rechtzeitig zum Besuch von US-Präsident Barack Obama wurde in Manila am 28. April zeremoniell die beidseitige militärische Zusammenarbeit gestärkt. Das neue »Abkommen über erweiterte Verteidigungskooperation« (AEDC) sieht unter anderem die Aufstockung der US-Truppen in Camp Navarro sowie die verstärkte Nutzung des Hafens und der Edwin Andrews Air Base der philippinischen Luftwaffe vor. Der große Rivale, die Volksrepublik China, soll in Schach gehalten und daran gehindert werden, die immer schärfer werdenden Auseinandersetzungen um Besitzansprüche von Inseln im Südchinesischen Meer zu seinen Gunsten zu entscheiden. Das Randmeer des Pazifischen Ozeans verzeichnet die Regierung in Manila auf eigenen Landkarten mittlerweile als »Westphilippinisches Meer«.

Krieg in der Stadt

»Offensichtlich sind die Militärs und die Regierung in Washington auf Feindbildprojektionen angewiesen«, sagt Juan Climaco Elago II, von Freunden kurz »Kim« genannt. »Westmincom – das ist wie ein Tabernakel, zu dem nur amerikanische Hohepriester Zugang haben. Das muß man sich vorstellen: Innerhalb dieses Komplexes gibt es einen Bereich, zu dem selbst philippinischen Generälen der Zutritt versperrt ist – extraterritoriale Immunität pur«, fügt er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. Der Aktivist ist von Haus aus Jurist und langjähriges Mitglied im Stadtrat von Zamboanga. Ich treffe ihn in seinem Büro, das sich im Stadtkern ganz in der Nähe des Rathauses und der Plaza Pershing befindet. »Und dann das – eigentlich schier unvorstellbar! Ausgerechnet in dieser Stadt mit dieser Tradition und diesem ausgedehnten Militärkomplex herrschte im September 2013 Krieg«, ereifert sich Kim. »Drei Wochen lang. Die Medien berichteten abwechselnd von einer Pattsituation oder einer Belagerung. Nein, das war Krieg, der direkt in der Stadt ausgefochten wurde! Ambulanzen konnten nicht ausrücken, weil überall Scharfschützen lauerten. Die Feuerwehr war machtlos; löschte sie einen Brand, waren andernorts drei, vier neue Brandherde entstanden. Das gesamte öffentliche Leben lag lahm. Von acht Uhr abends bis fünf Uhr in der Frühe herrschte Ausgangssperre.«

In der Nacht vom 8. auf den 9. September 2013 war es zwischen Polizisten und Mitgliedern der Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF) zu einem Handgemenge gekommen. Die Lage eskalierte, als einige MNLF-Leute von Sicherheitskräften wegen Waffenbesitzes festgenommen wurden. Die MNLF hatte angekündigt, am 9. September friedlich Richtung Rathaus zu marschieren und dort ihre Flagge zu hissen – aus Protest dagegen, daß sie von den laufenden Friedensgesprächen zwischen der Regierung und der rivalisierenden MILF ausgeschlossen sind. Doch die beabsichtigte Demonstration wurde rasch zu einem Aufmarsch zweier bewaffneter Lager. Regierungstruppen auf der einen Seite, die den Befehl erhielten, den MNLF-Marsch zu stoppen. Auf der anderen Seite bewaffnete MNLF-Kämpfer, die von den Nachbarinseln Jolo und Basilan aus mit Schnellbooten in Zamboangas küstennahen Stadtvierteln Mariki, Rio Hondo, Santa Barbara und Santa Catalina gelandet waren. Bis zum 28. September herrschte Kriegszustand, auch weil die Regierung auf eine militärische Lösung des Problems drängte. Präsident Aquino, der Mitte September mehrere Tage selbst in Zamboanga weilte, spielte dort den Krieger, während er sich in Manila aufgrund der Verhandlungen mit der MILF als Friedensapostel gab.

Notunterkünfte im Schlamm

Ershad J. Tawasil, ein agiler, stämmig gebauter Mann Anfang dreißig, leitet das Büro des Mindanao Human Rights Action Centers (MinHRAC) in Zamboanga City und ist auch für die vorgelagerte Insel Basilan zuständig. MinHRAC ist eine der Organisationen, die sich für die Belange der Flüchtlinge einsetzen. Sein Job hält ihn ständig auf Trab. Er verspürt eine große Verantwortung, zumal er und seine Familie schon das zweite Mal ihr Hab und Gut verloren haben. Das erste Mal auf der Insel Jolo und dann im September 2013 ihr Haus in Rio Hondo. »Die Leute, die dort lebten, sind überwiegend städtische Arme und Muslime, die vor Jahren vor den Kriegswirren auf Jolo und Basilan in Zamboanga Sicherheit suchten«, erklärt Ershad. Verbittert fügt er hinzu: »Den Stadtoberen waren diese Menschen immer ein Dorn im Auge; sie sahen in ihnen nur Squatters, arme Schlucker ohne Land und Besitztitel.« Er selbst und seine Familie hätten noch Glück gehabt. Sie gehörten zu dem kleinen Kreis derjenigen, die Mitte der 1970er Jahre vom damaligen Präsidenten Marcos das Recht auf ein Stück Land in Rio Hondo verbrieft bekommen hatten.

Gemeinsam besuchen wir mehrere der über 30 größeren und kleineren Evakuierungszentren, die über die ganze Stadt verstreut sind. Im vergangenen September wurden nicht nur 200 Menschen getötet – die Regierung spricht von 25 Opfern unter den eigenen Sicherheitskräften – und Hunderte verletzt. Es wurden auch annähernd 11000 Häuser zerstört und etwa 40 Hektar Land in einen Schutthaufen verwandelt. Mindestens 130000 Menschen (einige Quellen sprechen von 158000) sind im Zuge der Kampfhandlungen obdachlos geworden. Und das bei einer Gesamtbevölkerung, die laut dem letzten Zensus aus dem Jahr 2010 807000 Einwohner zählt.

Das Gros der Flüchtlinge lebt noch immer in Notunterkünften, die von Regengüssen im Nu in Schlammlöcher verwandelt werden. Der Joaquin Enriquez Sports Complex, das größte Evakuierungszentrum, dient derzeit etwa 10000 Menschen als Zufluchtsort. Das Denguefieber hat bereits über 100 Menschen, meist Kinder, dahingerafft. Die sanitären Anlagen sind miserabel. Es stinkt buchstäblich zum Himmel. Die Tribünen des Stadions dienen Familien als Schlafstätten. Wo immer wir hinkommen, scharen sich Menschentrauben um uns. Immer wieder dieselben bohrenden Fragen: »Warum jagten die Soldaten uns aus den Häusern, um nach MNLF-Kämpfern zu suchen? Warum gingen, als wir schon weg waren, unsere Häuser in Flammen auf?« Eine Frau, die sich als Maria vorstellt, wiederholt inständig und mehrfach die Frage: »Wieso sind gerade die Viertel zerstört, die größtenteils von Moslems bewohnt waren?« Die Regierung behauptet, es seien MNLF-Kämpfer gewesen, die das alles verursacht hätten. Glauben schenkt ihnen hier niemand.

Manipulierte Rebellen?

Die Stadtverwaltung hat bereits Anfang Oktober 2013 anläßlich ihrer ersten ordentlichen Sitzung nach dem Militäreinsatz die Einsetzung einer staatlichen Untersuchungskommission beantragt. Daraus ist bis dato nichts geworden. Und daraus wird wohl auch nichts. Denn hartnäckig halten sich die Gerüchte, daß die Schießereien einigen Politikern in Manila vorzüglich ins Kalkül paßten, da sie seit Sommer 2013 in den gewaltigsten Korruptionsskandal verwickelt sind, den das Land in der letzten Zeit erlebte. Es geht um mindestens zehn Milliarden Pesos (ca. 170 Millionen Euro) an staatlichen Hilfsgeldern, die in den Privattaschen von Senatoren und Kongreßabgeordneten verschwunden sein sollen. Im Zentrum des Skandals steht mit dem 90jährigen Senator Juan Ponce Enrile ein äußerst einflußreicher Mann. Enrile war nicht nur Marcos’ Verteidigungsminister und Kriegsrechtsverwalter. Als überaus vermögender Jurist und bis vor kurzem noch Senatspräsident verfügt er zudem über beste Verbindungen zu mächtigen Geschäftsleuten und hochrangigen Militärs. Seine für markige Worte bekannte Kollegin, Senatorin Miriam Defensor-Santiago, macht keinen Hehl daraus, daß Enrile in ihren Augen der Drahtzieher des Desasters in Zamboanga ist. Tatsächlich deuten Indizien in diese Richtung: Den MNLF-Kämpfern, die brandneue Uniformen trugen, wurden pro Nase 20000 Pesos versprochen – 10000 vor und nochmals 10000 nach ihrem »Einsatz«. Und schließlich sind Enrile und die MNLF-Führung unter Nur Misuari, wenngleich aus völlig unterschiedlichen Motiven, knallharte Gegner des Friedensabkommens zwischen der Regierung und der MILF.

Die seit Sommer 2013 amtierende Bürgermeisterin Zamboangas, Maria Isabelle Climaco-Salazar, hat jenen Flüchtlingen eine Rückkehr in ihre Viertel in Aussicht gestellt, die über entsprechende Landtitel verfügen. Nur: Wer hat die noch? Was auf den nördlichen Visaya-Inseln nach dem Supertaifun Gestalt annimmt, wird bald wohl auch in Zamboanga eintreten. Ein Troß gewiefter Geschäftsleute und Investoren, assistiert von hochdotierten Juristen und ausgestattet mit den »richtigen Papieren«, verkündet vollmundig einen Wiederaufbau – besser und schöner als zuvor –, um sogleich Blaupausen zu präsentieren, wo und in welcher Ausstattung neue Eigentumswohnungen, Einkaufszentren, Vergnügungsparks und so weiter entstehen sollen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 26. Juli 2014


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