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Quo vadis Polen?

"Säuberungen" statt grundlegender Reformen im Inneren - Beteiligung am Raketenabwehrschild der USA?

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel über ein höchst brisantes militärisches Projekt in Polen und ein Interview, in dem es um bedrohliche Tendenzen in der polnischen Innenpolitik geht.


Warschaus Außenpolitik in Turbulenzen

Ärger wegen polnischer Lebensmittel und eines noch nicht existenten Raketenstützpunktes

Von Julian Bartosz, Wroclaw

Nach der Amtsübernahme der neuen Regierung unter Führung Kazimierz Marcinkiewiczs von der Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) geriet Polens Außenpolitik in Turbulenzen. Dazu trugen zwei Tatsachen bei, die zwar offiziell nichts miteinander zu tun haben, deren Zusammenhang allerdings schwer zu leugnen wäre.

Gleich nach dem Vertrauensvotum für das PiS-Minderheitskabinett begab sich Außenminister Stefan Meller nach Moskau, um sich dort als Botschafter zu verabschieden und als neuer Ressortchef mit seinem Kollegen Sergej Lawrow zu sprechen. Dabei wurde er mit der Ansage eines kleinen Wirtschaftskrieges konfrontiert: Moskau erließ zunächst ein Importverbot für Fleisch aus Polen, dem gleich darauf ein Einfuhrstopp für andere polnische Lebensmittel folgte. Angesichts exakter Belege gestand Meller ein, dass die russischen Maßnahmen nicht unbegründet waren, denn »einige polnische Exporteure erwiesen sich als Betrüger«. Sie hielten die vereinbarten veterinärmedizinischen und hygienischen Vorschriften nicht ein. Obwohl es sich um Ausnahmen im etwa 400 Millionen Dollar schweren Fleischgeschäft handelte, konnte Polens Außenminister die russischen Beanstandungen nicht von der Hand weisen. Zumal Law-row erklärte, das Embargo habe keinen politischen Charakter, sondern sei lediglich durch die genannten Verfehlungen bedingt. Zufrieden stimmte Meller dem Vorschlag zu, die beiden Landwirtschaftsminister mit der Angelegenheit zu befassen. Darüber hinaus solle der polnisch-russische Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit »alle Themen behandeln«, um ein Treffen der Regierungschefs beider Staaten vorzubereiten.

Zeitgleich mit den Kommentaren über diesen »kleinen Wirtschaftskrieg« (auch die Ostsee-Pipeline spielt dabei eine Rolle) spekulierten polnische Medien über eine äußerst prekäre Angelegenheit. Es handelt sich um die im PiS-Programm »Solidarisches Polen« angeschnittene Problematik der polnischen Beteiligung am Raketenabwehrschild der USA – konkret um die Errichtung eines Stützpunkts für diesen Schild auf polnischem Gebiet. Wie sich herausstellte, war dieses Projekt unter den letzten drei Regierungen (Jerzy Buzek, Leszek Miller, Marek Belka) Gegenstand vertraulicher Konsultationen mit den USA.

Staatspräsident Aleksander Kwasniewski (noch bis zum 23. Dezember im Amt) gab zu, dass es zu diesem Thema Überlegungen von Experten gegeben habe, doch irgendwelche Verpflichtungen sei man nicht eingegangen. Przemyslaw Grudzinski, ehemals stellvertretender Verteidigungsminister, später Botschafter in den USA, meinte in der »Gazeta Wyborcza«, die Stationierung eines Teils des Raketenschilds auf polnischem Territorium wäre für das Land vorteilhaft. Polen würde sich dadurch als einer der allernächsten Verbündeten der USA beweisen. »Natürlich wäre Russland nicht entzückt«, gab er zu. Moskau könnte sogar argumentieren, dass damit die Zusicherung von 1999 gebrochen werde, wonach keine NATO-Basen auf dem Gebiet der neuen NATO-Staaten errichtet werden sollten. Doch würde sich der Kreml damit abfinden, glaubt Grudzinski.

Jerzy Szmajdzinski, bisher Verteidigungsminister und nun Fraktionschef des Bündnisses der Demokratischen Linken (SLD), bezeichnete diese Äußerung als »völlig unverantwortlich«. Und Olaf Osica, Experte des Europa-Zentrums in Natolin bei Warschau, stellte in »Rzeczpospolita« fest, dass die Spekulationen über die Teilnahme Polens am USA-Raketenabwehrsystem unverständlich seien: »Die Sicherheitsinteressen der USA und Polens sind nämlich nicht identisch!«

Neues Deutschland, 17. November 2005


Quo vadis Polen?

Karol Modzelewski* über gefährliche Tendenzen in seiner Heimat

Interview

ND: Haben Sie sich je diese Entwicklung vorstellen können, die Polen seit den 90ern genommen hat?

Modzelewski: Nein, und ich wollte damals und will heute ein anderes Polen. Ich habe in der Volksrepublik Polen nicht dafür im Gefängnis gesessen, damit mein Land zum Kapitalismus zurückkehrt.

Wie kam es zur Inhaftierung?

1964/65 habe ich gemeinsam mit Jacek Kuron einen »Offenen Brief an die Mitglieder der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei« in Umlauf gebracht, in dem wir den Zustand des Landes und der Partei einer kritischen Analyse unterwarfen. Der letzte Satz darin hieß: »Dafür werden wir drei Jahre bekommen.«

Sie haben es geahnt?

Wir haben es vermutet, und genau so ist es gekommen. Ich habe drei Jahre gesessen. Im Dezember 1981, als der Ausnahmezustand erklärt wurde, hat man mich erneut interniert, wieder drei Jahre.

Sie unterstützten die Solidarnosc.

Ich war Berater und Sprecher der alten Solidarnosc. Und ich habe all die Mühsal und Anfeindungen damals nicht auf mich genommen, damit heute Reiche noch reicher und Arme noch ärmer werden. Aber genau das geschieht jetzt bei uns.

Sie haben in der Wendezeit eine eigene Partei gegründet ....

Gemeinsam mit Ryszard Bugaj und Aleksander Malachowski die Unia Pracy (Union der Arbeit), die bis jetzt im Sejm vertreten war.

Fühlten Sie, der Wissenschaftler, sich zum Politiker berufen?

Dass ich damals Senator geworden bin, war ein Versehen meinerseits. Ich bin zwar ein Mann öffentlicher Debatten und beteilige mich an solchen nach wie vor. Aber ich bin kein Mann »von Amts wegen«. Leider führen Linke und Rechte heute bei uns nur noch Scheingefechte. Und jeder ist mit sich selbst beschäftigt, anstatt das Grundproblem der strukturellen Arbeitslosigkeit zu lösen.

Sie glauben an eine Lösung?

Die Demokratie fault zwar vor sich hin, aber ich ziehe immer noch eine faulende Demokratie einem erstarkenden Polizeistaat vor.

Droht denn diese Gefahr?

Die Gebrüder Kaczynski haben eine »Revolution« angekündigt, die auf »Säuberung«, nicht aber auf grundlegende Veränderung wirtschaftlicher und politischer Strukturen hinausläuft. Und wenn die Erwartungen der Millionen Frustrierten enttäuscht werden, ist ein Ruck nach rechts denkbar, der diverse Faschismen hervorbringt.
Präsident Lech Kaczynski wird bereits mehr Macht in den Händen haben als seine Vorgänger. Er wird u.a. Vorsitzender des Nationalen Justizrats sein und kann drei Personen in dieses Gremium beordern. Die parlamentarische Mehrheit, deren Führer Zwillingsbruder Jaroslaw ist, kann ebenfalls drei Richter in den Rat entsenden. Statt unabhängiger Richter hat man sodann handverlesene abhängige Personen. Die Dreifaltigkeit von Legislative, Exekutive, Jurisdiktion wäre zerstört. Darauf läuft es bei dieser Rolle rückwärts hinaus.

In Polen gibt es ähnlich der Gauck-Birthler-Behörde das IPN. Welche Rolle spielt es?

Von dieser Behörde unter Professor Leon Kieres wird erwartet, dass sie immer neue und immer mehr Materialien des vormaligen Staatssicherheitsdienstes für aktuelle politische Kämpfe liefert. Emotionen werden geschürt und gelenkt. Wissenschaft im Dienst der Macht.

* Karol Modzelewski, Professor für Geschichte an der Warschauer Uni (Jg. 1937). Er hat der "Solidarnosc" seiner Zeit ihren Namen gegeben.

Neues Deutschland, 17. November 2005 (Die Fragen stellte Gerd Kaiser)



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