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Präsidentenwahl in Polen noch unentschieden

Drittplatzierter Kandidat der Linken sieht sich plötzlich von zwei Seiten umworben

Von Julian Bartosz, Wroclaw *

Polen stehen nach der ersten Runde seiner Präsidentschaftswahlen elf weitere Tage harten Wahlkampfes bevor. Sejmmarschall Bronislaw Komorowski, der Kandidat der regierenden Bürgerplattform (PO), verpasste die absolute Mehrheit um rund 9 Prozentpunkte und muss sich seinem Widersacher, dem Chef der oppositionellen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslaw Kaczynski, am 4. Juli zur Stichwahl stellen.

Das amtliche Ergebnis der ersten sonntäglichen Wahlrunde wollte die Staatliche Wahlkommission erst am Montagabend veröffentlichen. Deren Sprecher meinte jedoch, es würde sich kaum von dem am Morgen verkündeten unterscheiden, das aus der Auszählung der Stimmen aus 94 Prozent der über 25 000 Wahllokale resultierte. Demnach kam PO-Kandidat Komorowski mit 41,2 Prozent nur auf 4,5 Prozentpunkte Vorsprung vor Jaroslaw Kaczynski (36,7 Prozent). Vor der Wahl hatten einige Meinungsforscher für Komorowski ein Ergebnis von »50 plus« vorausgesagt, auf jeden Fall aber einen größeren Vorsprung vor dem Zwillingsbruder des am 10. April durch einen Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Präsidenten Lech Kaczynski. »Ich danke und bitte um mehr«, sagte der 58-Jährige Spitzenreiter denn auch mit Blick auf die Stichwahl.

Bei einer Wahlbeteiligung von 54,8 Prozent bedeuten diese Ergebnisse, dass für den PO-Kandidaten 6,4 Millionen und für den den PiS-Chef 5,7 Millionen der Polinnen und Polen gestimmt haben. Rechnet man die für beide Rechtsparteien abgegebenen Stimmen zusammen, kommt man auf 12,1 von 30,4 Millionen Wahlberechtigten. Eine deutliches Zeichen für die Stimmung im Lande! Fast die Hälfte der Wählerschaft blieb dem Urnengang fern.

Mehr als einen Achtungserfolg verbuchte Grzegorz Napieralski, der für das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) kandidierte. Für ihn stimmten 2,1 Millionen Wähler (13,7 Prozent). Und die haben es in der Hand, die Stichwahl zwischen Komorowski und Kaczynski zu entscheiden. Beide gratulierten Napieralski am Wahlabend und machten keinen Hehl daraus, dass sie mit dem SLD-Vorsitzenden über dessen Empfehlung für den 4. Juli reden wollen. Während der PO-Kandidat schmeichelte, die Linke sei in Polen absolut notwendig, begrüßte Kaczynski die Initiative Napieralskis, einen »Runden Tisch« über das desolate Gesundheitswesen einzuberufen.

Die etablierte Linke will auf einem Parteikongress noch in dieser Woche darüber befinden, ob sie sich offiziell für einen der Bewerber ausspricht oder ihre Anhänger frei entscheiden lässt. Bartosz Arlukowicz, einer der jüngeren populären Politiker des SLD, sagte am Montagmorgen in einem Rundfunkinterview, dass man klare Worte von den eventuellen Gesprächspartnern hören wolle: über den Abzug der polnischen Truppen aus Afghanistan, über die künstliche Befruchtung und – wie ein anderer Linkspolitiker, Krzysztof Janik, hinzufügte – über einen Mindestlohn.

Die übrigen sieben Kandidaten blieben sämtlich unter drei Prozent. Bemerkenswert, dass dies auch den Bewerber der Bauernpartei PSL, Waldemar Pawlak, betrifft. Pawlak, einst selbst Ministerpräsident, ist immerhin Vizepremier der gegenwärtigen Regierung. Einen weiteren Absturz erlebte auch Andrzej Lepper, der skandalumtoste Chef der bäuerlichen »Samoobrona« (Selbstverteidigung), der 2006/07 Landwirtschaftsminister und Vizepremier unter Jaroslaw Kaczynski war. Vor fünf Jahren sammelte Lepper als Präsidentschaftskandidat in der ersten Runde noch 15 Prozent der Stimmen. Jetzt kam er auf ganze 1,3 Prozent.

Bezeichnend für den Wahlabend war, dass sich die Hochrechnungen des privaten Fernsehens TVN erheblich von denen des öffentlichen TVP unterschieden. TVN – voller Sympathien für Komorowski – berichtete über dessen 12-prozentige Überlegenheit, das auf Seiten Kaczynskis stehende TVP sah dagegen nur 5 Prozentpunkte Unterschied.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juni 2010


Verlängerung in Polen

Von Detlef D. Pries **

Genau wie im Sport sei auch bei einer Wahl die Verlängerung am schwierigsten, ahnt Bronislaw Komorowski mit Blick auf die ihm bevorstehende Stichwahl ums höchste polnische Staatsamt. Zwar hat er den ersten Wahlgang gewonnen, doch seine heimliche Hoffnung – wie die seines Partei- und Regierungschefs Donald Tusk – ist geplatzt. Im Regierungslager wünschte man sich, dass Komorowski den Präsidententhron schon im ersten Anlauf nimmt. Denn mit der »Verlängerung« verbindet man leidvolle Erinnerungen: Vor fünf Jahren hatte Tusk nach der ersten Runde der Präsidentenwahl ebenfalls in Führung gelegen, die Stichwahl aber verlor er deutlich gegen Lech Kaczynski, den verunglückten Zwillingsbruder des Komorowski-Rivalen Jaroslaw Kaczynski.

Also wirbt Komorowski – und Kaczynski gleichermaßen – jetzt um die Stimmen der Linken. Beide haben bisher, zurückhaltend ausgedrückt, keinerlei Sympathie für die »Postkommune« gezeigt. Plötzlich hält der eine sie für »unverzichtbar«, der andere entdeckt »gemeinsame Elemente«. Wen soll Grzegorz Napieralski, der Kandidat der Linken, seinen Anhängern empfehlen? Er selbst ist schließlich von mehr als zwei Millionen Polinnen und Polen gewählt worden, die ihr Kreuz als Ausdruck des Protestes gegen die beiden rechten Hauptkandidaten verstanden haben. Bei aller Unterschiedlichkeit der handelnden Personen und der Prozeduren: Parallelen zur Bundespräsidentenwahl sind unverkennbar.

** Aus: Neues Deutschland, 22. Juni 2010 (Kommentar)


Vor Stichwahlen

In der ersten Runde der polnischen Präsidentschaftswahlen konnte kein Kandidat die absolute Mehrheit erringen

Von Tomasz Konicz, Poznan ***


Das Ergebnis der ersten Runde der polnischen Präsidentenwahlen fiel knapper aus als von den meisten meinungsbildenden Medien des Landes prognostiziert. Mit 41,2 Prozent Wählerzuspruch liegt der Kandidat der regierenden rechtsliberalen Bürgerplattform (PO), Bronislaw Komorowski, nur knappe fünf Zähler vor Jaroslaw Kaczynski von der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der 36,7 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Auf dem dritten Platz landete mit einem Ergebnis von 13,7 Prozent der Kandidat der neoliberal gewendeten sozialdemokratischen Vereinigung der Demokratischen Linken (SLD), Grzegorz Napieralski. Da keiner der Kandidaten die notwendige absolute Mehrheit erringen konnte, findet am 4. Juli eine Stichwahl zwischen Komorowski und Kaczynski statt.

Dieses Ergebnis unterscheidet sich sehr stark von den meisten Wahlprognosen, die zumeist dem Kandidaten der regierenden rechtsliberalen Bürgerplattform einen vorzeitigen Wahlsieg in der ersten Runde mit einem Vorsprung von bis zu 18 Prozent vorhersagten. Alle Prognosen mit Ausnahme einer Umfrage für den polnischen Fernsehsender TVP (siehe junge Welt vom 17.6) lagen weit daneben. Diese Tatsache untermauert die Befürchtungen, wonach Wahlumfragen in Polen schon längst politisch instrumentalisiert werden. Andererseits wird somit auch die weitgehende Parteilichkeit der polnischen Massenmedien offenbar, die eine neoliberale Monokultur in Polens öffentlichem Diskurs etablieren. Selbst die liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza, die vehement den Rechtsliberalen Komorowski unterstützte, mußte einräumen, daß »wir alle den Wahlumfragen zum Opfer« fielen.

Neben dem guten Abschneiden Ka­czynskis überraschte auch das Ergebnis des Kandidaten der Sozialdemokraten, Napieralski. Mit mehr als 13 Prozent lag dessen Wählerzuspruch weit über denen ansonsten für die SLD üblichen acht bis zehn Prozent. Umgehend erklärten sozialdemokratische Politiker, daß mit dieser Wahl der »Wiederaufbau« der polnischen Linken begonnen habe. »Die Linke kehrt zurück ins Spiel«, erklärte beispielsweise der ehemalige polnische Präsident Alexander Kwasniewski. In der Tat bemühen sich nun Komorowski und Kaczynski um die Stimmen der sozialdemokratischen Wähler, die als Zünglein an der Waage bei der kommenden Stichwahl gelten. Beide Kandidaten sparten bei ihren ersten öffentlichen Auftritten nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse nicht mit Komplimenten gegenüber der SLD. So dankte Jaroslaw Kaczyns­ki den Sozialdemokraten für ihren Vorschlag, einen »Runden Tisch« zur Diskussion einer Gesundheitsreform zu initiieren. Bronislaw Komorowski wiederum prognostizierte der polnischen Linken »bessere Zeiten«, da diese auf der politischen Bühne Polens »unabdingbar« sei.

Erste Stellungnahmen führender polnischer Sozialdemokraten deuten darauf hin, daß diese den Kandidaten der rechtsliberalen Bürgerplattform bei der kommenden Stichwahl unterstützen werden. Der ehemalige Regierungschef und Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz hat schon vor dem ersten Wahlgang angekündigt, Komorowski seine Stimme zu geben. Wie die Gazeta Wyborcza am gestrigen Montag meldete, scheint auch der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Napieralski bereit, Komorowski zu unterstützen. Im Gegenzug für ihre Unterstützung stellt die SLD eine Reihe politischer Forderungen - unter anderem den Abzug der polnischen Truppen aus Afghanistan.

Beobachter gehen davon aus, daß aller Voraussicht nach Komorowski aufgrund der Unterstützung seitens der Sozialdemokraten bei den kommenden Stichwahlen den Sieg erringen wird. Die rechtsliberale Bürgerplattform würde dann mit dem Regierungschef und dem Präsidentenamt die wichtigsten Machtmittel in ihren Händen vereinigen und umgehend die angedrohten neoliberalen Reformen des polnischen Rentensystems und Gesundheitswesens forcieren. Von der neoliberalen sozialdemokratischen Opposition in Gestalt der SLD ist hierbei kein entschiedener Widerstand zu erwarten.

*** Aus: junge Welt, 22. Juni 2010


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