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Regierung spart in die Sackgasse

Generalstreik legte Portugal lahm / Ex-Präsident Soares warnt vor Revolution

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Portugal erlebte am Donnerstag den vierten Generalstreik in zwei Jahren. Die gegen die Sparprogramme protestierenden Gewerkschaften berichteten von großer Beteiligung, vor allem unter den Staatsbediensteten.

Die konservative portugiesische Regierung war am Donnerstag mit ihrem vierten 24-stündigen Generalstreik konfrontiert. Es war der bisher stärkste Streik, denn die beiden großen Gewerkschaftsverbände CGTP und UGT hatten gemeinsam mit Einzelgewerkschaften zum »großen Ausstand« aufgerufen. Ihr Ziel ist, die Regierung unter Pedro Passos Coelho zu stürzen. Der Unmut gegen deren und von der internationalen Gläubigertroika auferlegten Austeritätspolitik ist so groß, dass auch die »Bewegung christlicher Arbeitnehmer« sich solidarisierte und der Regierung vorwarf, »nur den Interessen der Mächtigen und der Wirtschaft« zu dienen.

Der Streik begann schon in der Nacht im öffentlichen Dienst, wo erneut 30 000 Stellen gestrichen werden sollen. Um weitere sechs Milliarden Euro zu sparen, sollen auch Renten gekürzt werden. Stadtreinigungen und Müllabfuhren nahmen ihren Dienst nicht auf. Besonders stark war der Streik im Transportsektor. Flüge wurden gestrichen. Züge, Fähren, Metros und Busse fielen fast vollständig aus. In den Behörden blieben Schalter geschlossen. Stark war auch die Beteiligung in den Häfen und der Industrie. Einige Betriebe, wie ein Volkswagen-Werk nahe der Hauptstadt Lissabon, hatten schon im Vorfeld einen arbeitsfreien Tag eingeplant.

Armenio Carlos, Generalsekretär des kommunistisch orientierten großen Verbands CGTP und Carlos Silva, Chef der kleineren UGT, führten schon in der Nacht die Streikposten an. Carlos sprach von einem Kampf für alle, denn alle seien von immer neuen Einschnitten betroffen. »Es ist ein Kampf für die Würde derer, die in Portugal leben und arbeiten«. Für Silva war es der erste Generalstreik als Generalsekretär.

Die Menschen müssten eine Gewissensentscheidung treffen, sagte Silva. Viele hätten angesichts der Rekordarbeitslosigkeit Angst zu streiken. Andere können es sich nicht leisten, einen Tageslohn zu verlieren. »Ich verstehe die Streikgründe, aber ich kann leider nicht«, sagte der 26-jährige Marco Cunha Streikenden an einer Metrostation in Porto. Menschen wie ihm erklärt der UGT-Chef: »Wenn wir jetzt unsere Rechte nicht verteidigen, wird es noch schlimmer«. Der UGT, die auf Sozialpartnerschaft ausgerichtet ist und eher einen schlechten Kompromiss aushandelt, als kein Abkommen zu haben, sei die Streikentscheidung schwer gefallen. Wegen der »Gefühlslosigkeit, Sturheit und Arroganz« der Regierung sei aber kein anderer Weg geblieben, sagte Silva.

Nicht nur die Gewerkschaften werfen der Regierung vor, das Land mit dem Sparkurs immer tiefer in die Krise zu stürzen. Portugal steckt seit drei Jahren in der Rezession. Die Arbeitslosenquote liegt bei 18 Prozent. Auch deshalb steigt das Haushaltsdefizit.

Im Land keimt eine immer rebellischere Stimmung auf. Verdutzt schaut man auf die Vorgänge in der früheren Kolonie, wo die brasilianische Regierung auf die Proteste eingeht. Der ehemalige Staats- und Regierungschef Mario Soares hatte kurz vor dem Generalstreik davor gewarnt, dass die »Angst« und die Tatsache, dass Menschen in Portugal hungern, zu einer »Revolution« führen könnten, sagte er mit Blick auf Brasilien. Der Sozialist sprach von der »Verzweiflung« vieler, die in Gewalt umschlagen könne, weil viele nicht einmal mehr ihre Kinder ernähren könnten. Man habe es nur noch mit einer »Pseudodemokratie«, die Regierung wirke »paralysiert und ziellos«.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Juni 2013


Portugiesen sagen nein

Generalstreik gegen Kürzungspolitik der Regierung in Lissabon. Gewerkschaften sprechen von größter Beteiligung seit Jahrzehnten

Von André Scheer **


Hunderttausende Menschen haben am Donnerstag mit einem 24stündigen Generalstreik das Wirtschaftsleben in Portugal weitgehend zum Erliegen gebracht. Wie Sprecher der Gewerkschaftsverbände CGTP und UGT, die zu dem Ausstand aufgerufen hatten, am Nachmittag erklärten, war die Beteiligung sowohl im privaten Bereich wie auch in den Staatsbetrieben und Behörden außerordentlich hoch und erreichte häufig 100 Prozent. Landesweit hätten 80 bis 90 Prozent der Beschäftigten die Arbeit niedergelegt, sagte CGTP-Sprecher Armando Farias am Nachmittag. Sein Generalsekretär Arménio Carlos zeigte sich gegenüber Medienvertretern überzeugt davon, daß die Regierung nach diesem vierten Generalstreik in den vergangenen zwei Jahren nicht mehr so weitermachen könne wie bisher. Diese Richtung hatte bereits die von der Gewerkschaft ausgegebene Losung vorgegeben: »Schluß mit Ausbeutung und Verarmung, weg mit dieser Regierung!«

Der Chef des oppositionellen Linksblocks, João Semedo, sprach von »einem der größten Generalstreiks in der Geschichte der portugiesischen Demokratie«, also seit der Nelkenrevolution 1974. Nach diesem Ausstand sei die Regierung noch isolierter als zuvor, ihr Rücktritt rücke näher. Der Generalsekretär der Portugiesischen Kommunistischen Partei, Jerónimo de Sousa, warf Ministerpräsident Pedro Passos Coelho »Verlogenheit« vor. Dieser hatte den Generalstreik mit den Worten kritisiert, was das Land jetzt brauche sei mehr Arbeit, nicht weniger. »Es ist zynisch, so etwas zu sagen, während die Politik der Regierung zur höchsten Erwerbslosigkeit in der demokratischen Geschichte geführt hat«, unterstrich der Politiker. Allein in den vergangenen zwei Jahren seien Hunderttausende Arbeitsplätze vernichtet worden.

Durch den Ausstand kam in ganz Portugal der öffentliche Nahverkehr fast vollständig zum Erliegen. Fernzüge und die Metro in der Hauptstadt Lissabon standen ebenso still wie Fähren und Busse. Zu Beeinträchtigungen kam es auch im Flugverkehr, zahlreiche Verbindungen der portugiesischen Airlines wurden gestrichen oder verspäteten sich. Die portugiesische Nachrichtenagentur Lusa stellte am Morgen ihre Arbeit ein, Müllabfuhr und Postboten kamen nicht. Auch in Krankenhäusern, Universitäten und Schulen sei der Ausstand deutlich zu spüren gewesen, hieß es in Medienberichten.

Portugal hatte sich als Gegenleistung für ein 2011 von der EU gewährtes »Hilfspaket« in Höhe von 78 Milliarden Euro zu einem »strengen Sparkurs« verpflichtet. In der Folge kletterte die offizielle Arbeitslosenrate auf das Rekordniveau von 18 Prozent. Das Land steuert zudem auf das dritte Rezessionsjahr in Folge zu. Trotzdem bereite das Kabinett weitere Kürzungen vor, die es in den Sommermonaten bekanntgeben wolle, wenn viele Beschäftigte im Urlaub seien, warnte Arménio Carlos. »Sie haben Angst, denn wir wissen, daß die Arbeiter und das Volk keine Angst mehr haben«, sagte der CGTP-Chef. Demgegenüber ist die Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds voll des Lobes für die folgsamen Politiker in Lissabon. Das »Sanierungs- und Reformprogramm sei auf gutem Wege, die Stabilität des Finanzsektors sei gewahrt worden«, zitierte die Nachrichtenagentur dpa Sprecher der EU-Kommission. Von Brüssel ist für die Portugiesen also auch weiterhin nichts Gutes zu erwarten.

** Aus: junge Welt, Freitag, 28. Juni 2013


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