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Viele Junge hatten noch nie einen Wahlzettel in der Hand

Marisa Matias, Vizevorsitzende der Europäischen Linkspartei, und der Bloco de Esquerda werben um eine linke Mehrheit – auch mit Sozialisten *


Marisa Matias ist stellvertretende Vorsitzende der Europäischen Linkspartei (EL) und seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments. Die 35-jährige Sozialwissenschaftlerin aus dem portugiesischen Coimbra ist seit Jahren für den »Bloco de Esquerda« (Linksblock) aktiv. Über Krisenzeiten, die Linke in Europa und Portugal und die vorgezogenen Neuwahlen am kommenden Sonntag sprach mit ihr in Lissabon für das "Neue Deutschland (ND) Dominic Heilig.

ND: Viele junge Menschen in Portugal halten wenig von Parteien. Warum haben Sie sich für die Mitgliedschaft in einer Partei entschieden?

Matias: Der Bloco ist meine erste politische Heimat. Bevor ich jedoch zur Partei kam, war ich in den sozialen Bewegungen aktiv. Ich habe mich in Studierenden- und Bürgerrechtsorganisationen für den Feminismus engagiert. Irgendwann bin ich gefragt worden, ob ich auf den Listen des Linksblocks kandidieren würde. Der Bloco versteht sich ja selbst nicht nur als Partei, sondern auch als Bewegung. Dennoch habe ich mir das lange überlegt und schließlich als Unabhängige für den Bloco kandidiert. Eigentlich war ich nur theoretisch unabhängig. Ich stimmte ja mit Inhalten und Forderungen der Partei überein. 2004 war ich dann Bürgermeisterkandidatin in Coimbra, meiner Heimatstadt, und 2005 bereits Mitglied des Parteivorstands.

2009 kandidierten Sie schließlich für das Europäische Parlament. Warum das?

Ein Jahr vor den Wahlen 2009 rechneten wir intern mit maximal zwei Mandaten. Miguel Portas war bereits seit 2004 als Einzelkämpfer für den Bloco in Brüssel. Also suchte der Parteivorstand nach einer Frau für den zweiten Listenplatz. Für das Europäische Parlament zu kandidieren gehörte nie zu meinen Plänen. Die Partei aber wollte auch ihr Profil um Themen wie Soziales, Umwelt und Gesundheit erweitern. Und das waren eben meine Themenfelder, denn zu dieser Zeit forschte ich dazu noch an der Universität.

Wir brauchen europäische Parteien

Knapp ein halbes Jahr später wurden Sie in Paris zur stellvertretenden Vorsitzenden der Europäischen Linkspartei gewählt. Früher hatte es im Linksblock noch heftige Debatten über die Mitgliedschaft in der EL gegeben.

Als ich zur Vizevorsitzenden gewählt wurde, hatten sich die Wogen im Bloco längst geglättet. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir europäische Parteien brauchen, aber eben nicht nur als Summe ihrer nationalen Vertretungen. Das ist nicht nur für die EL, sondern für alle europäischen Parteien, die größte Herausforderung. Obwohl die Situation in Portugal oder Spanien mit der in Deutschland kaum zu vergleichen ist, sind wir doch alle Teile der EU. Das bedeutet, dass es keine nationalen Antworten allein mehr geben kann. Es muss nach europaweiten Lösungen gesucht werden. Um die zu finden, muss die Linke viel näher als bisher bei den Menschen sein. Dafür brauchen wir viele verschiedene Stimmen, aber auch gemeinsame Ansätze. Vor diesem Hintergrund sollte jede Mitgliedspartei der EL offener gegenüber einem europäischen Ansatz sein.

Zurück nach Portugal: Der Linksblock hat auf seinem Parteitag kürzlich für eine linke Mehrheit bei den Wahlen am 5. Juni geworben. Die lässt sich nur durch Koalitionen erreichen. Die regierende Sozialistische Partei dürfte sich aber durch ihre bisherige Politik für eine solche Koalition disqualifiziert haben.

Nein, wir alleine, das wird nicht reichen. Aber das Problem in all diesen strategischen Fragen ist doch, dass die Konservativen europaweit versuchen, die Sozialdemokraten weiter nach rechts zu drängen, indem sie massive Einschnitte beispielsweise in den Sozialsystemen propagieren. Und die Sozialdemokratie beugt sich dem Druck.

In Griechenland haben wir eine sogenannte sozialistische Regierung, aber keine sozialistische Politik. In Irland, in Spanien und in Portugal dasselbe Bild: sozialistische Regierungen, aber unterm Strich keine linke, keine soziale Politik. Stattdessen werden die Menschen hier wie dort mit Kürzungen im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich konfrontiert.

Dennoch: In der Sozialistischen Partei Portugals gibt es einen starken linken Flügel und mit dem wollen wir ins Gespräch kommen. Es gibt in Portugal viele Beispiele erfolgreicher Kooperation zwischen uns und dem linken PS-Flügel. Im Parlament hat dieser Flügel stets gegen die Politik ihres Ministerpräsidenten José Sócrates gestimmt. Die Stimmen für die drei Kürzungspakete der Regierung kamen von den Konservativen. Die haben ihre Unterstützung jetzt zurückgezogen, nicht weil sie die Maßnahmen nicht mehr tragen würden, sondern weil ihre Umfragewerte steil stiegen und Neuwahlen für sie interessant wurden.

Das Problem, das aus dieser Politik resultiert, ist der Rückzug der Wähler ins Private. Die Wahlbeteiligung sinkt. Viele, vor allem junge Menschen in Portugal, haben noch nie einen Wahlzettel in der Hand gehalten. In ihren Augen sind alle Parteien gleich.

Dennoch ist wieder Bewegung in die politischen Auseinandersetzungen gekommen. Am 12. März, kurz vor dem Rücktritt der sozialistischen Regierung, waren in Lissabon über 300 000 Menschen auf der Straße.

Es waren vor allem die jungen Leute, von denen ich eben sprach. Studierende, Auszubildende, junge Mütter und Väter. Sie haben diese Großdemonstration ohne Gewerkschaften und Parteien, nur mithilfe sozialer Netzwerke organisiert. Es war die größte Demonstration seit dem 1. Mai 1974, kurz nach der Nelkenrevolution. Sie sind also aktiv, nur eben nicht im vorherrschenden politischen System. Ich denke, diese Generation birgt ein großes Potenzial für Veränderungen, für linke Mehrheiten. Wenn wir also sagen, dass wir für eine linke Mehrheit kämpfen, heißt das nicht, dass wir die Protestierenden nur für unsere Partei gewinnen wollen. Nein, wir streiten mit diesen nicht organisierten und unzufriedenen Menschen gemeinsam für den Systemwechsel.

Gespräche mit der PCP werden fortgesetzt

Kürzlich kam es zu einem Treffen zwischen der Kommunistischen Partei (PCP) und dem Linksblock, die sich bislang fast unversöhnlich gegenüberstanden. Was bedeutet dieses Treffen für die Zukunft der Linken?

Das eigentliche Signal war, dass wir uns getroffen haben und über einige Dinge sprechen konnten. Nach den Wahlen werden wir uns erneut zusammensetzen und beraten. Bislang vereinigen Bloco und PCP zu gleichen Teilen insgesamt 20 Prozent der Wählerstimmen. Schon deshalb ist es wichtig, dass wir die Konflikte lösen, und da sind wir auf gutem Weg. Bei 80 oder 90 Prozent der Abstimmungen im Parlament haben wir zusammen gestimmt. Es gibt aber auch fundamentale Positionen, die uns trennen. Das müssen wir aushalten.

Gibt es auf diesem Weg innerhalb des Bloco Konflikte? Immerhin ist ein Teil der Bloco-Mitglieder in den 90er Jahren aus der PCP ausgetreten.

Nein, über die gemeinsamen Gespräche gibt es keinen Streit. Aber natürlich diskutieren unsere Mitglieder über deren Inhalte und Ergebnisse. Das wollen wir auch. Unsere Mitglieder wünschen sich sogar mehr und konkretere Ergebnisse dieser Gespräche. Aber eines ist klar: Viel für die portugiesische Linke wird von den Wahlen am 5. Juni abhängen.

Bisher vertrat der Bloco rund zehn Prozent der Wähler im Parlament, bei den EU-Wahlen erreichte er elf Prozent der Stimmen. Die Erwartungen sind hoch.

Die Umfragen sind sehr schwer einzuschätzen. Keine Partei weiß genau, woran sie ist. Die Vorhersagen für uns beispielsweise variieren zwischen fünf und neun Prozent. Es wird am Sonntag eine Momententscheidung werden. Wichtig ist, wie viele Menschen an die Urne treten. Unser Ziel war und bleibt es, die Bevölkerung zu mobilisieren, die bisher nicht gewählt hat, und sie zum gestaltenden Teil der Politik in Portugal zu machen.

Die politische Stimmung in Portugal kippt in der Krise also sehr schnell. Kommt da nicht auch Nervosität auf?

Sicher, wir können uns nicht ausruhen. Aber wir haben unsere Erfahrungen mit derlei Situationen. Es reicht nicht, nur unser Programm vorzubeten. Die Situation in Portugal mit den Verhandlungen über die EU- und IWF-Kredite ändert sich täglich. Hier werden Milliarden von Euro hin und her geschoben, Kredithilfen für spekulierende Banken organisiert und Staatsbesitz privatisiert. Darauf müssen wir Antworten finden. Das ist nicht einfach. Dennoch: Wir verfügen über eine starke Basis, auf der sich Politik gestalten und Gegenaktionen entwickeln lassen.

Nach einem halben Jahr an der Spitze der EL, nach zwei Jahren im EP, den Präsidentschaftswahlen im Januar und der verschärften Krise in Europa: Was werden Sie am Montag nach den Wahlen machen?

Die Probleme des Landes und in der EU, mit den unbeschreiblichen Finanzströmen, der Spekulation und der Verschuldung enden ja nicht mit den Wahlen, ganz gleich wer danach regieren wird. Es gibt noch viel zu tun.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Juni 2011


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