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Flammender Zorn tobt am Tejo

Sparhaushalt heizt Lage in Portugal an

Von Ralf Streck, San Sebastian *

Portugal stehen bewegte Zeiten bevor, weil die konservative Regierung in Lissabon gegen massive Proteste versucht, ihren Sparhaushalt durch das Parlament zu bringen.

Tausende belagerten am Montagabend das Parlament in Lissabon, während die Regierung unter Pedro Passos Coelho den Haushalt vorstellte. »Zum Teufel« wünschte die Empörten-Bewegung die Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB). Diese zwinge Portugal den harten Sparkurs im Rahmen der Nothilfe auf, hieß es.

In der Stadt am Tejo kam es auch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei denen elf Menschen verletzt und auch Demonstranten festgenommen wurden. Eine Gruppe hatte sich gegen Mitternacht zur Rückseite des Parlamentsgebäudes aufgemacht, wo sich die Dienstwohnung von Coelho befindet. Sie soll dort postierte Beamten mit Steinen und Flaschen beworfen haben, worauf diese mit Knüppeln auf die Jugendlichen eingeprügelt hätten.

Insgesamt bewerten die Empörten die Mobilisierung als erfolgreich. Kampf sei »der einzige Weg« gegen das mit der Troika vereinbarte Memorandum, das sie zu Fall bringen wollen. Ihrem Aufruf gegen die Sparpläne waren am 15. September knapp eine Million Menschen gefolgt, weil Coelho den Arbeitnehmeranteil an der Sozialversicherung von 11 auf 18 Prozent erhöhen und im Gegenzug den Arbeitgeberanteil senken wollte. Als eine Woche später 15 000 Menschen den Präsidentenpalast belagerten, nahm die Regierung diese Pläne zurück. Um den Ausfall zu kompensieren, kündigte sie enorme Steuererhöhungen an. Finanzminister Vítor Gaspar: »Es gibt keinen Handlungsspielraum.« Werde das Abkommen mit der Troika nicht eingehalten, drohe eine »Katastrophe«.

Für die Empörten handelt es sich um eine Täuschung, um nun die einfache Bevölkerung an anderer Stelle »auszurauben«. Die Einkommensteuer (IRS) soll um 30 Prozent erhöht werden, um 2,7 Milliarden Euro mehr einzunehmen. Wie bei den Ausgangsplänen führt das dazu, dass die Beschäftigten durchschnittlich im Jahr einen Monatslohn verlieren.

Die Steuererhöhungen treffen vor allem Geringverdiener. Für sie wird der IRS um drei Prozentpunkte auf 14,5 Prozent erhöht, der Spitzensteuersatz steigt nur knapp von 46,4 auf 48 Prozent. Nicht einmal das Arbeitslosengeld wird ausgenommen. Die 16 Prozent Arbeitslosen - ein neuer Rekord - sollen vom Arbeitslosengeld sechs Prozent abführen. Zudem sollen Renten stark gekürzt und die Immobilien-, die Kfz-, die Tabak- und die Mineralölsteuer erhöht sowie 44 000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen werden. »Wir befinden uns vor der bisher größten Entlassungswelle, die Portugal im öffentlichen oder privaten Sektor erlebt hat«, kritisiert der große Gewerkschaftsverband CGTP. Zahllose Mitglieder und Sympathisanten waren acht Tage von Braga in die Hauptstadt marschiert. Die Gewerkschaften wollen den Haushalt verhindern und mobilisieren zu einer Streik- und Protestwoche vom 20. bis 27. Oktober. Damit laufen sie sich für den Generalstreik warm, der am 14. November stattfindet, wenn das Parlament über den Haushalt abstimmt.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 17. Oktober 2012


»Fiskalische Atombombe«

Portugal kündigt höchste Steuererhöhungen seit der Revolution von 1974 an. Wütende Proteste der Bevölkerung.

Von Arnold Schölzel **


Die portugiesische Regierung hat am Montag abend weitreichende Steuererhöhungen und Einschnitte angekündigt, stößt dabei aber auf immer größeren Widerstand in der Bevölkerung. Finanzminister Vitor Gaspar rechtfertigte bei Vorlage des Staatshaushaltes für 2013 im Parlament die brutalen Maßnahmen mit dem Diktat der »Troika« aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission. Der Etat für das kommende Jahr sieht die bislang höchsten Steuererhöhungen seit Überwindung der faschistischen Diktatur 1974 vor. Im Mittel soll der Einkommenssteuersatz um ein Drittel steigen, erhöht werden aber auch Immobilien-, Tabak-, Kraftfahrzeug- und Mineralölsteuer. Renten sollen um bis zu zehn Prozent, die Ausgaben für Arbeitslosen- und Krankengeld um jeweils fünf Prozent gekürzt werden. Laut Reuters können sich die Einbußen für einen durchschnittlichen Arbeiter auf bis zu drei Monatsgehälter summieren. Die erste Etatabstimmung ist für den 30. Oktober angesetzt.

Vor der Kammer in Lissabon verlangten noch während der Sitzung rund 2000 Demonstranten den Rücktritt der Regierung. Sie bewarfen Polizisten mit Böllern und Äpfeln und protestierten gegen die »Troika«. Laut amtlicher Bilanz gab es elf Verletzte, darunter zehn Beamte.

Die Oppositionsparteien des Landes übten heftige Kritik. Sozialisten und Kommunisten sprachen von einer »fiskalischen Atombombe« und vom »schwersten Angriff auf Arbeiter und Volk seit dem 25. April 1974«. Die Grünen bezeichneten den Etatentwurf als »Massaker an den Familien«. Gaspar behauptete dagegen: »Spielraum für einseitige Entscheidungen existiert praktisch nicht.« Kritik am Kurs der Regierung kam auch aus deren eigenem Lager und von Wissenschaftlern. Staatspräsident Anibal Cavaco Silva erklärte: »Es ist nicht gerecht, die Einhaltung des Defizits koste es, was es wolle, zu verlangen.« Der Volkswirt Joao Duque von der Technischen Universität Lissabon wurde von Reuters mit den Worten zitiert: »Diese Maßnahmen werden die Krise, die wir jetzt schon haben, erst richtig zur Geltung bringen.«

Portugal steckt in der schwersten Rezession seit den 1970er Jahren. 2012 dürfte sich die Wirtschaftsleistung um drei Prozent vermindern, die Arbeitslosigkeit liegt mit 16 Prozent auf Rekordniveau. Bis zum Sommer dieses Jahres hatten EU-Regierungen und Medien behauptet, Portugal sei bei der Sanierung der Staatsfinanzen erfolgreich. Nach einem Einbruch der Steuereinnahmen infolge der Krise mußte die Regierung im August aber einräumen, daß sie die verordneten Ziele nicht erreichen werde. Daraufhin verlängerte die »Troika« den Sanierungsplan bis 2014.

Ende September mußte die Regierung ihre Absicht, die Sozialbeiträge von elf auf 18 Prozent der Löhne zu erhöhen, unter dem Druck von Massenprotesten zurücknehmen. Vor einigen Tagen rief der Gewerkschaftsdachverband CGTP zu einem Generalstreik am 14. November auf. Nach jW-Informationen findet am Freitag in Madrid ein Treffen spanischer Gewerkschaften statt, die sich für einen Europäischen Generalstreik an diesem Tag einsetzen. Ausstände wird es demnach in Griechenland, Spanien und Portugal geben, aber auch in Frankreich, Italien, Belgien, Malta und Zypern werden Beschäftigte ihre Solidarität demonstrieren. Am Dienstag rief die CGTP für den 12. November einen weiteren Protesttag aus: Für dieses Datum wurde gestern ein Besuch Angela Merkels in Lissabon angekündigt.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 17. Oktober 2012


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